Zur falschen Zeit am falschen Ort
Ende Januar des letzten Jahres ist sie in Florida verstorben, die zu Recht so genannte 'Queen of Suspense', Mary Higgins Clark, gebürtige New Yorkerin mit irischen Wurzeln, auf die sie ihr Talent als Schriftstellerin ...
Ende Januar des letzten Jahres ist sie in Florida verstorben, die zu Recht so genannte 'Queen of Suspense', Mary Higgins Clark, gebürtige New Yorkerin mit irischen Wurzeln, auf die sie ihr Talent als Schriftstellerin gerne zurückgeführt hat ('The Irish are born story tellers'). 56 Bücher hat sie hinterlassen, die allermeisten von ihnen fein ausgetüftelte Psychothriller, alle von ihnen Bestseller. Grund genug für mich, ihre Romane, die mich in den 45 Jahren ihres Schaffens begleitet haben, noch einmal zu lesen. Und tatsächlich haben sie nach all den Jahren keine Patina angesetzt, sind spannend wie beim Erstlesen, immer unter Beachtung des jeweiligen Jahres ihrer Entstehung, als, und das gilt für gut die Hälfte ihrer Krimis, noch nicht absehbar war, welchen Fortschritt die Technik machen würde, die wir heute als so selbstverständlich betrachten, dass gerade die jüngeren Leser sich kaum eine Zeit ohne Smartphone und Internet vorstellen können, und somit Mary Higgins Clarks Thriller aus den beiden letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts vielfach als hoffnungslos altmodisch, mühsam konstruiert und nicht rasant und grausam-blutig genug einstufen. Nun, Gewaltszenen sucht man bei der New Yorkerin vergebens, was auch für mehr oder minder ausufernde Sex-Szenen gilt und für unfeine Ausdrücke, derer sich so mancher zeitgenössische Autor mit Wonne, so scheint es, bedient. Diesem Zeitgeist hat sich Mary Higgins Clark niemals unterworfen, ist bis zum Schluss sich selbst treu geblieben, hat weiterhin ihre eleganten Thriller geschrieben - dabei jeder neuen Entwicklung, auch und vor allem der technischen, gegenüber außerordentlich aufgeschlossen, ihnen gerade in ihren Romanen, die im neuen Jahrtausend erschienen, viel Raum gebend -, mit viel Liebe für Details, mit geschickter Zeichnung ihrer Charaktere, die ihr mit nur wenigen Strichen aufs Vortrefflichste gelangen und mit stets genial ersonnenen Handlungen, deren Hintergrundfakten aufs Sorgfältigste recherchiert waren. Die Autorin überließ eben nichts dem Zufall!
In 'Sieh dich nicht um' (englischer Originaltitel: 'Pretend you don't see her') findet man alle Zutaten des Erfolgsrezepts der Amerikanerin – und in der Tat handelt es sich hier um einen ihrer besten Thriller, einem wahren 'Page Turner', der so spannend ist, dass man ihn kaum aus der Hand legen mag. Den Originaltitel hat sie, das sei am Rande erwähnt und ist eine Eigentümlichkeit von ihr, die auch auf einige andere ihrer Bücher zutrifft, einem Liedtitel entliehen, der ihr im Übrigen auch die grundsätzliche Idee für den hier zu besprechenden Roman gegeben hat, wie sie in ihrem, dem Thriller vorausgestellten, Dankeswort selbst schreibt.
Was nämlich geschieht mit jemandem, in vorliegender Geschichte der New Yorker Immobilienmaklerin Lacey Farrell, die Zeugin des Mordes an ihrer Klientin Isabelle Waring geworden ist und als einzige den Mörder identifizieren kann, und der ihr, eiskalter und völlig gewissenloser Killer, der er ist, erbarmungslos nach dem Leben trachtet? Nun, man steckt Lacey in das staatliche Zeugenschutzprogramm, gibt ihr eine neue Identität, verlangt von ihr, dass sie die alte abstreift, so also, als würde sie nicht mehr existieren, und transferiert sie an einen Ort, der nur der Bundespolizei bekannt ist, und setzt natürlich strikt voraus, dass sie sich, zu ihrer eigenen Sicherheit, an die strengen Vorgaben hält, durch die gewährleistet werden soll, dass der Killer sie nicht etwa doch aufspürt.
Die Situation, in die die Protagonistin mit engen Familienbanden da ohne eigenes Zutun und eben nur, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort war, geraten ist, ist für sie, was nachvollziehbar ist, kaum zu ertragen. Zudem lässt sie der Mord an Isabelle Waring nicht ruhen, die ihr, bereits sterbend, das Tagebuch ihrer bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Tochter Heather anvertraut hatte, um es deren Vater, Isabelles Ex-Mann Jimmy Landi, und nur ihm, auszuhändigen. Zu Recht vermutet Lacey, dass darin Beweise dafür zu finden sind, dass Heathers vermeintlicher Unfalltod ein Mord war, wie Isabelle von Anfang an vermutet hatte.
Besagtes Tagebuch und sein seltsames Schicksal sind Dreh- und Angelpunkt der atemberaubend spannenden Geschichte, deren Ausgang überraschen dürfte, auch wegen der vielen Fußangeln, die die Autorin legt, und der geschickt eingestreuten Hinweise, die mal auf den einen, mal auf den anderen der zahlreichen Mitspieler des Thrillers zu deuten scheinen – als den Drahtzieher hinter den Morden. Denn der bösartige und gerissene Killer, ein wahres Raubtier, ist, das weiß man längst, nur ein willfähriges Instrument jenes großen Unbekannten, der alles zu verlieren hat, wenn die wahren Umstände von Heathers Tod ans Tageslicht kommen...
Hauptkritikpunkt vieler Rezensionen ist die Protagonistin selber, eine eigentlich kluge und sympathische junge Frau, deren Eigensinn und ja, auch Selbstherrlichkeit und Widerwille, mit den ermittelnden Institutionen zu kollaborieren, sie zu unklugen Handlungen hinreißen und mehr als nur einmal in akute Lebensgefahr bringen. Es stimmt, man kann sich schon ärgern über Lacey Farrell! Versetzt man sich aber in ihre Lage, überwiegt doch das Mitgefühl, in jedem Falle aber das Verständnis für ihre Handlungsweise. Und gerade weil die junge Frau, der es ganz sicher nicht an Mut mangelt, so imperfekt geschildert ist, voller Zweifel und Schwächen, ist sie glaubwürdig, wirkt im wahrsten Sinne des Wortes authentisch. Und wer von uns Leserinnen – denn die überwiegende Mehrheit derjenigen, die Mary Higgins Clarks Thriller mögen, sind nun einmal weiblich – könnte behaupten, in einer Ausnahmesituation durchgehend überlegen und überlegt zu handeln und stets das Richtige zu tun? Bleibt zu hoffen, dass wir das nie unter Beweis stellen müssen!