Der Kalte Krieg war Geschichte, aber seine Granatsplitter waren noch überall.
Mit seinen „Slow Horses“ hat Mick Herron die wohl derzeit ungewöhnlichste Agententruppe in der Spionageliteratur geschaffen. Zum zweiten Mal ermitteln sie in „Dead Lions. Ein Fall für Jackson Lamb“; dieser ...
Mit seinen „Slow Horses“ hat Mick Herron die wohl derzeit ungewöhnlichste Agententruppe in der Spionageliteratur geschaffen. Zum zweiten Mal ermitteln sie in „Dead Lions. Ein Fall für Jackson Lamb“; dieser 480-seitige Spionagethriller ist im August 2019 bei Diogenes erschienen.
Vom MI5 aufs Abstellgleis gestellt, warten die Agenten der „Slow Horses“ auf ihren großen Coup – in der Hoffnung, daraufhin wieder am Regent’s Park residieren zu dürfen. Und zum wiederholten Mal ergibt sich für sie die Chance, sich zu profilieren: Zwei von ihnen erhalten den Auftrag, einen russischen Oligarchen zu schützen. Dass dieses keine leichte Aufgabe, ja sogar lebensgefährlich ist, wird schnell klar. Etwa zeitgleich geht ihr Chef, Jackson Lamb, dem plötzlichen Tod eines ehemaligen Kollegen aus Berliner Zeiten nach und stößt dabei auf die Dead Lions, die russischen Schläfer aus den Zeiten des Kalten Krieges. Nach und nach ergeben sich Zusammenhänge zwischen den beiden Fällen, und mit vereinten Kräften arbeitet die Truppe daran, eine drohende Katastrophe zu verhindern.
Es gibt Themen, die immer gut für einen Spionagethriller sind und international zu den Klassikern zählen – so auch der Kalte Krieg, zu dem es in der Literatur unzählige Werke gibt. Mick Herron geht dieses Thema auf die eher witzige Art und Weise an – was nicht heißen soll, dass es an Spannung und Rasanz fehlt – und stellt es in einen Zusammenhang mit heutigen Begebenheiten.
Der Einstieg in die Lektüre fiel mir nicht eben leicht, da ich Probleme hatte, die Figurenkonstellationen und Zusammenhänge zu durchschauen. Bei Ersterem erwies sich die Personenliste zu Beginn des Buches, auf die ich gerne zurückgriff, als sehr hilfreich. Außerdem – und das sei sehr positiv angemerkt – führt Leserinnen und Leser zu Beginn der Handlung eine fiktive Katze durch das „Slough House“, in dem die Slow Horses ihren Sitz haben, und macht sich so ihre Gedanken über die dort Arbeitenden. Zudem ist die am Ende auftauchende, ebenfalls fiktive Maus erfrischend, welche die Lage der Agenten am Ende des Falls eruiert – Spionage als Katz- und Mausspiel im wahrsten Sinne des Wortes. Die Zusammenhänge zu erkennen, benötigt einfach Konzentration, denn eines ist dieses Buch bestimmt nicht: eine einfache Lektüre. Man sollte beim Lesen auf Details achten und bei der Stange bleiben. Ein wenig fehlte es mir zu Beginn auch an Spannung, ab dem zweiten Viertel nimmt der Spannungsbogen indes gewaltig zu, es werden Fährten aufgenommen und wieder ad acta gelegt; in der zweiten Hälfte überschlagen sich die überraschenden und dramatischen Ereignisse dann, sodass man das Buch kaum zur Seite legen mag. Gerade das Ende ist überaus fulminant und verblüffend, aber nichtsdestotrotz nachvollziehbar.
Alle Charaktere in diesem Roman haben ihre Schrullen, ihre Ecken und Kanten, sind aber dennoch durchweg liebevoll gezeichnet. Jackson Lamb scheint auf den ersten Blick ein ungehobelter, heruntergekommener Kerl zu sein, der seine Untergebenen schikaniert, wo er nur kann. Später entpuppt er sich als gewiefter Agent, der Zusammenhänge entdeckt, wo niemand sie vermutet, und seine Mitarbeiter verteidigt wie eine Löwenmutter ihre Jungen. Im Laufe der Lektüre gewinnt er zusehends an Sympathie. Aber auch alle anderen Agent/innen präsentieren sich im Verlauf der Recherche als aufgeweckter als anfangs angenommen – man muss sie nur wachkitzeln. Besonders gefallen haben mir persönlich der IT-Spezialist Roderick Ho, der das an anderen kritisiert, was er selbst praktiziert, nämlich den Aufbau einer Scheinpersönlichkeit im Netz, sowie River Cartwright, der sich die Ratschläge seines Großvaters und Ex-Agenten, O.B., sehr zu Herzen nimmt. Man sieht: Hier sind Vergangenheit und Gegenwart vereint.
Der Roman ist gespickt von scharfsinnigem Humor und Wortwitz. Gerade in Bezug auf Lamb selbst ist der Humor sehr britisch, teils ist er auch eher deftig, jedoch dient er immer wieder dazu, vergangene und aktuelle Ereignisse und Gegebenheiten zu hinterfragen.
Insgesamt handelt es sich bei „Dead Lions“ um einen nervenaufreibenden, witzigen und geistreichen Thriller, der mehr zu bieten hat als andere Vertreter dieses Genres. Man kann einfach nur hoffen, dass auch die weitern Bände dieser Reihe ins Deutsche übersetzt werden.