Von Marissa Meyer habe ich bislang nur Band 1 ihrer Luna-Chroniken gelesen, wusste aber sofort, als ich das Cover gesehen habe, dass ich dieses Buch lesen muss. Nach einem Blick auf das Thema - Superhelden und Superschurken - war dann alles klar. An dieser Stelle ein kurzes Dankeschön an das Bloggerportal und den Heyne Verlag für das Rezensionsexemplar!
Das Cover zieht sofort durch die düstere Ausstrahlung und das spannenden Motiv in den Bann. Umgeben von einigen Häusern der Stadt thront der Turm der Renegades, an den sich zwei kontrapunktische Gestalten lehnen: eine Frau mit Kapuze - Nachtmahr - und ein Mann in Uniform - der Wächter. Umrahmt wird das Ganze von kontrastreichen Strahlen, was dem Szenario zusammen mit der rot-blauen-Farbgebung etwas Surreales verleiht. Die zwei Gestalten scheinen durch den Turm der Renegades miteinander verbunden zu sein, schauen aber in verschiedene Richtungen, was den Inhalt auf einer Metaebene eigentlich ganz gut zusammenfasst. Die Gestaltung inklusive der spannenden Gestaltung der roten Leselaschen bekommt von mir also einen deutlichen Daumen nach oben.
Erster Satz: "Am Anfang waren wir alle Schurken"
Die Autorin beginnt ihre Geschichte mit einer kurzen Einführung in die Vergangenheit Gatlons. Kurz aber verheißungsvoll bekommen wir erklärt, wie die Verfolgung der Wunderkinder durch Ace Anarchos Zeitalter der Anarchie abgelöst wird, bevor sich blutig ein neues System etablierte: die Herrschaft der Renegades. Eine Eliteeinheit an ausgebildeten Wunderkindern, deren Aufgabe es ist, die Schurken zu bekämpfen, die Ordnung und Sicherheit des Stadtlebens aufrecht zu erhalten und allen Bürgern ein Vorbild zu sein - sagen zumindest sie. Nova Artino sieht das ganz anders. Im auf die Einführung folgenden Prolog bekommen wir eindrucksvoll geschildert, warum sie allen Grund hat, den Renegades nicht zu vertrauen - mehr noch, sie zu hassen: Als ihre Familie von Gangmitgliedern ermordet wird, sind die so angepriesenen Helden nicht da und können den garantierten Schutz nicht erfüllen. Seitdem ist sie Teil der Anarchisten, die verborgen in einem verlassenen U-Bahntunnel auf ihre Chance warten, die Renegades von ihrem Thron zu stoßen und allen Wunderkindern und Menschen Freiheit zu gewährleisten.
Die traumatischen Ereignisse ihrer Kindheit sorgen dafür, dass sie Nacht für Nacht nicht schläft und zusammen mit ihrer Fähigkeit, ein Gegenüber bei Berührung in sofortigen Tiefschlaf zu versetzen, verschafft ihr dies den Schurkennamen "Nachtmahr". Hinter einer Maske versteckt versucht sie gleich in der ersten Szene einen Anschlag auf den Rat der Renegades bei einer Parade zu verüben und trifft dabei auf einen neuen Antagonisten: den Wärter. Als der Anschlag fehlschlägt, die Anarchisten immer mehr unter Druck geraten und die alljährliche Qualifikation zur Aufnahme neuer Renegades ansteht fasst sie einen Entschluss, der ihr Leben verändert: sie legt die anonyme Maske Nachtmahrs ab und bewirbt sich als Insomnia bei den Renegades, wohlwissend, dass sie nicht wieder zu ihrem alten Leben zurückkehren kann. Doch erst als sie in eines der Teams aufgenommen wird, die Strukturen der Renegades immer besser kennenlernt, auf versteckte Geheimnisse stößt und sich in einen Renegade verliebt, versteht sie, wie tiefgreifend sich ihr Leben verändern wird. Denn immer mehr gerät ihr Weltbild, ihre Loyalität und ihre Überzeugungen ins Wanken und sie stellt sich die Frage, wer nun wirklich Helden und wer Schurken sind...
"Wenn er die Augen schloss, konnte er sie vor sich sehen, konnte das Funkeln ihrer Augen in der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze erahnen. Ausdruckslos. Gewissenlos. Frei von Angst. (…) "Nachtmahr", flüsterte er, fast so, als würde er ihren Namen das erste Mal aussprechen.
"Wer bist du?"
Dieses Buch gleicht zwar thematisch einer typischen Dystopie ist aber gerade andersrum aufgezogen wie eine solche. Während wir normalerweise mit einer naiven, systembejahenden Protagonistin beginnen, die beginnt, Schattenseiten zu sehen, haben wir es hier von Anfang an mit einer Anarchistin zu tun, die im präsentierten Weltbild zu den "Bösen" gehört. Dadurch dass gleich in der ersten Szene versucht wird, einen Anschlag auf die Renegades zu verüben, unter dem auch die Zivilbevölkerung leidet, ist es sehr schwer, sich von Beginn an in Novas Perspektive einzufinden und eine Verbindung aufzubauen. Als dann als zweite Perspektive Adrian Everhart alias Sketch dazukommt, der als Adoptivsohn von Captain Chrom und dem Schrecklichen Baron durch und durch Renegade ist, scheint seine Weltansicht erstmal die bequemere und ich habe begonnen die Anarchisten als Schurken abzustempeln.
Doch als sich mit zunehmendem Fortschritt der Handlung immer mehr Schwächen im System der Renegades auftun und man stattdessen auch immer mehr Novas Beweggründe nachvollziehen kann, ist es nicht mehr ganz so leicht über die Charaktere zu urteilen. Mit jedem neuen Perspektivenwechsel werden wir fortan zwischen den beiden Polen hin und her geworfen und müssen bald feststellen, dass die Superhelden nicht so glanzvoll, heldenhaft und perfekt sind, wie sie behaupten, während aber auch die Anarchisten nicht so böse, gefährlich und gewalttätig sind, wie allgemein angenommen. Das fand ich sehr spannend. Ich habe selten einen Roman gelesen, der so mit den Perspektiven und Blickwinkeln spielt und den Leser ständig zwischen zwei Weltansichten pendeln lässt, die beide ihre Stärken und Schwächen haben.
"Wenn er zeichnete, gab es für sie nichts Spannenderes, als den schnellen, präzisen Bewegungen seiner Hand zu folgen. Wenn er lächelte, hielt sie unwillkürlich den Atem an, um zu sehen, ob es diese verborgenen Grübchen zum Vorschein bringen würde. Und wenn er sie ansah, musste sie seinen Blick einfach erwidern. Und wollte - vollkommen gegen jede Logik - gleichzeitig am liebsten ihr Gesicht verstecken. Das alles zusammengenommen sorgte dafür, dass seine Gegenwart für sie jedes Mal zu einer Nervenprobe wurde. Anziehungskraft, schlicht und einfach. Hormone. Das war Biologie. Und gehörte definitiv nicht zu ihrem Plan!"
Dadurch dass die beiden Protagonisten beginnen, eine sanfte Beziehung aufzubauen, ihre Ideen auszutauschen und zusätzlich noch Alter Egos haben, die nicht auffliegen dürfen, was das Ganze deutlich verkompliziert, kommt schön viel Dynamik in die Geschichte. Doch bis das angelaufen ist dauert es einige Seiten. Dadurch dass man als Leser zu Beginn sehr ratlos ist, wie man sich positionieren soll und was man von der präsentierten Welt halten soll, hat es relativ lange gedauert, bis die Geschichte mich gepackt hat. Erschwerend ist hinzugekommen, dass wir mit den Renegades und den Schurken eine Vielzahl an verschiedenen Protagonisten vorgestellt bekommen, deren Fähigkeiten, Namen und Position wir uns alle merken müssen. Um dabei nicht den Überblick zu verlieren hat mir sehr die Übersicht am Anfang des Buches geholfen. Als die Geschichte dann mal Fahrt aufgenommen hat, ist sie nicht mehr zu stoppen. Es ergibt sich eine spannende, innovative Mischung aus rasanten Kampfszenen, politischem Geplänkel, verzwickten Plänen und ruhiger Charakterentwicklung. Die Liebesgeschichte nimmt dabei nicht zu viel Raum ein und ist eher ein leise anklingender Nebeneffekt.
"Heldentum hatte nichts mit dem zu tun, was man konnte. Es definierte sich über das, was man wirklich tat. Darüber, wen man rettete, wenn er gerettet werden musste. (…) Entschlossen nahm sie die Schultern zurück und betrat das Feld"
Der Schreibstil ist dabei sowohl flüssig und temporeich als auch ausführlich in der Beschreibung von Setting und Geschehen. Inspiriert ist die Geschichte natürlich von typischen Superheldengeschichten wie X-Men, Avengers, Batman, Superman oder anderem, was Marvel so zu bieten hat (Gatlon City ist definitiv eine Anspielung auf Gotham). Demnach ist die atmosphärische Stimmung dieser Stadt und der Helden/Schurken-Geschichte mit viel Düsternis und rasanten Kampfszenen deutlich daran angelehnt. Umso spannender ist es, dass die Autorin zwischendurch den Charakteren auch mal Ruhe lässt, um Geschehenes zu reflektieren oder sich aufeinander einzulassen und unsere Bilder von Protagonist und Antagonist, also von Gut und Böse immer wieder auf den Prüfstand stellt und uns dazu zwingt, die Sicht auf die Handlung neu zu überdenken. Diese dargestellten Konflikte und die Ambivalenz hat mir sehr gut gefallen!
"Die Dämmerung schlug schnell in dunkle Nacht um. Obwohl dicke Wolken am Himmel hingen, zeichnete sich im Westen ein bläulich-grauer Schimmer ab. Irgendwo hinter dem Dunst ging die Sonne unter. (…) Nova schloss die Augen. Wenn sie wirklich und wahrhaftig eine Schurkin wäre, müsste sie jetzt bei den ihren sein - um zu feiern oder zu trauern. Und wenn sie eine Superheldin wäre, würde sie jenen Renegades zu Hilfe eilen, die eingeschlossen und verletzt unter dem Schutt begraben waren. Stattdessen lauschte sie auf die Geräuschkulisse einer gequälten Stadt und tat gar nichts."
Marissa Meyer entführt uns hier in eine Großstadt, die durch Gewalt und Verbrechen stark gebeutelt ist und deren Wiederaufbau und Erholung noch immer unter dem Kampf zwischen den Renegades und den Anarchisten leidet. Reichtum und Glanz reiht sich neben Chaos und Armut; Hass und Bewunderung sind die zentralen antithetischen Emotionen, die die Bevölkerung gegenüber den Renegades aufbringen. Immer wieder erhalten wir kurze Eindrücke und Anspielungen auf die Grundbedingungen der Stadt und des Landes, erfahren etwas über das Zeitalter der Anarchie, über den Handel, die Technologie oder den Alltag der Menschen. Ein umfassendes Bild der Situation, gerade aus Sicht der Menschen, ergibt sich jedoch nicht. Dazu sind wohl auch über 600 Seiten nicht genug, um das in einem Einführungsband einer Reihe schon auf den Punkt zu bringen.
Zu den Charakteren will ich gar nicht viel sagen, um euch nicht den besonderen Reiz wegzunehmen, den die Einordnung der Charaktere auf ständig neuer Informationsbasis auf mich ausgeübt hat. Nur soviel: Marissa Meyer hat die 640 Seiten genutzt, um interessante, sich entwickelnde Protagonisten liebevoll und detailreich auszuarbeiten und dabei klarzumachen, dass auch die Superhelden ihre Schwächen haben und Sein und Schein oft nahe beieinander liegt. Von Nova können wir uns eine Scheibe von ihrem ausgeprägten Kampfgeist, ihrem Ehrgeiz, ihrer Stärke und ihrer Entschlossenheit abschneiden, während Adrian uns beibringt, dass jeder ein Held sein kann und wir das sind, was wir tun.
"Jeder hat die Möglichkeit, ein Held zu sein, wenn er es ernst meint. Das ist leicht gesagt: Ich will ein Held sein. Aber in Wahrheit sind die meisten Menschen dafür viel zu faul und selbstzufrieden. Die Renegades übernehmen die ganze Reiterei, wozu sich also die Mühe machen?"
Die Frage wer denn nur wirklich die Schurken und wer die Helden sind wird natürlich nicht beantwortet, doch ich denke dass sich am Ende herauskristallisiert das es nie wirklich "gute" oder "schlechte" Menschen gibt, sondern wenn dann nur "gute" und "schlechte" Handlungen und auch das nur bedingt. Ob man nun mit guten Absichten schlimme Dinge tut oder mit schlechten Absichten gute Dinge - letztendlich tut jeder das, was er oder sie für richtig hält und diese Handlung kann dann nicht per se bewertet werden, sondern muss in ihrem Kontext und aus ihren Motiven, Begründungen und Folgen heraus betrachtet werden. Ein Held ist also nicht der, der im Sinne der Mehrheit etwas tut, was im System für "gut" angesehen wird, sondern der mit Leidenschaft und Überzeugung das verteidigt, an was ihm etwas liegt.
Nach einem rasanten Showdown bekommen wir dann ein Ende mit einer krassen Enthüllung zwar keinen richtigen Cliffhanger vorgesetzt, aber trotzdem einen Wow-nicht-im-Ernst-Moment, der die Wartezeit bis zum Erscheinen der Übersetzung zur Fortsetzung "Archenemies", welcher bald erstmals auf Englisch erscheint, versüßt. Ich werde auf jeden Fall an dieser Geschichte dranbleiben und sehen, was uns die Zukunft in Gatlon City bringt.
“Tapfer kann nur sein, wer die Angst kennt.”
Fazit:
Eine intelligente, innovative Dystopie, die mit den Perspektiven und Blickwinkeln der Charaktere spielt und den Leser ständig zwischen zwei Weltansichten pendeln lässt. Die spannende Mischung aus rasanten Kampfszenen, politischem Geplänkel, verzwickten Plänen und ruhiger Charakterentwicklung schafft einen Auftakt, den ich so schnell nicht wieder vergessen werde.