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Veröffentlicht am 02.10.2022

Die Lebenden und die Toten

Der Klang der Erinnerung
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Die Lebenden und die Toten

Ein bemerkenswertes Debüt hat Jo Browning Wroe hingelegt, führt sie doch einerseits in die bekannte Sphäre Großbritanniens in den 50ern, mit seiner Nachkriegsnot, seiner sozialen ...

Die Lebenden und die Toten

Ein bemerkenswertes Debüt hat Jo Browning Wroe hingelegt, führt sie doch einerseits in die bekannte Sphäre Großbritanniens in den 50ern, mit seiner Nachkriegsnot, seiner sozialen Enge, seiner kulturellen Identität. Andererseits aber gewinnt der Leser Einblick in eine vollkommen fremde Welt: das Bestattungswesen, aus dessen Tradition die Autorin selbst stammt und die sie somit authentisch darstellt. Der junge Held William sieht sich zwischen zwei Fronten. Der Bruder des verstorbenen Vaters führt gemeinsam mit seinem Lebensgefährten den Familienbetrieb der Bestattungsfirma weiter, die Witwe will ihren Sohn bewußt von diesem Beruf und dem gesellschaftlichen Tabu der Homosexualität fernhalten. Gezielt löst sie William aus der harmonischen Beziehung zu den beiden männlichen Bezugspersonen und verfolgt zäh ihren eigenen Lebensentwurf für ihren Sohn: eine künstlerische Ausbildung als Sängerknabe im renommierten Chor von Cambridge, verdrängend, in welchen Konflikt sie William stürzt. Trug die Darstellung des Kindes übermäßig die Züge einer Figur wie von Charles Dickens, so gewinnt der hin und her gerissene Jugendliche ein zunehmend prägnanteres Profil. Es kommt zu einem frustrierenden Misserfolgserlebnis, in dem die Mutter menschlich versagt, von der sich der Sohn in der Folge lossagt. Was sie hat um jeden Preis verhindern wollen, tritt ein: William gibt die musikalischen Ambitionen zugunsten einer Ausbildung im Bestattungswesen auf, und unmittelbar nach deren Ende wird William einer existentiellen Prüfung unterzogen. Ein traumatischer Einsatz bei einem, historisch realen Grubenunglück in Wales führt William an seine emotionalen Grenzen. Aber ein vielfältiger, langwieriger Reifungsprozess wird in Gang gesetzt, und der Roman bietet eine faszinierende Lektüre, bei der die Hauptfigur beständig oszilliert zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten.

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Veröffentlicht am 21.10.2021

Brandaktuell, emphatisch, unaufgeregt

Wenn ich wiederkomme
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Wieder hat der italienische Autor Marco Balzano ein aktuelles sozialpolitisches Thema aufgegriffen und zu einem packenden, menschlich berührenden Roman verarbeitet.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, ...

Wieder hat der italienische Autor Marco Balzano ein aktuelles sozialpolitisches Thema aufgegriffen und zu einem packenden, menschlich berührenden Roman verarbeitet.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass in Westeuropa die Versorgung der alten Bevölkerung zusammenbräche, wenn nicht Menschen, vorwiegend Frauen aus osteuropäischen Staaten diese Aufgaben in einer rechtlichen Grauzone übernehmen würden.
Die weitreichenden persönlichen Konsequenzen jedoch führt der Autor dem Leser deutlich vor Augen, wenn er in der kunstvollen und unmittelbar nachvollziehbaren Komposition des Romans das Geschehen aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchtet.
Naturgemäß ist der erste Abschnitt aus dem Blickwinkel des pubertierenden Sohnes der emotional aufwühlendste: lebensnah, dass ein Jugendlicher am wenigsten in der Lage ist, die Herausforderungen der neuen Lebenssituation zu bewältigen.
Im Zentrum des Romans steht die Figur der Mutter, in deren Leben sich vielfältige Frustrationen vermischen: die entbehrungsreiche und unbefriedigende Existenz in der Heimat, das verkümmerte Dasein in der Fremde und die elementare Erschütterung angesichts der Situation nach ihrer Rückkehr.
Den Abschluss bildet die mentale Befindlichkeit der älteren Tochter, der allzu viel Verantwortung aufgebürdet, ein Teil ihrer Jugend geraubt wurde.
Der Ausblick des Romanendes in Hinblick auf ihre Entwicklungsmöglichkeiten öffnet dem Leser höchst ambivalente Alternativen: wartet auf diese Tochter die Chance eines positiven Neuanfangs, oder geht sie womöglich in die Falle, das Dilemma der Mutter nur zu variieren?
Großartig Balzanos Leisung, den Kontrast zwischen Ost und West atmosphärisch dicht zum Leben zu erwecken, hinsichtlich der gänzlich unterschiedlichen Schauplätze, der Gewohnheiten, Daseinsentwürfe, Wertvorstellungen.

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Veröffentlicht am 27.06.2021

Später Sommer, früher Herbst

Der Brand
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Daniela Kriens neuer Roman richtet den Blick auf die mittleren Jahre des Menschenlebens: der Überschwang der Jugend ist häufig genug literarischer Gegenstand, ebenso wie entweder die Abgeklärtheit oder ...

Daniela Kriens neuer Roman richtet den Blick auf die mittleren Jahre des Menschenlebens: der Überschwang der Jugend ist häufig genug literarischer Gegenstand, ebenso wie entweder die Abgeklärtheit oder die Verzweiflung des Alters. Indem die Autorin aber sehr geschickt diese drei Lebensphasen in ihrer Figurenkonstellation verknüpft, hat der Leser Gelegenheit, womöglich durch die Brille seiner eigenen Generationszugehörigkeit, die unterschiedlichen Befindlichkeiten zu studieren.
Die verminderte Lebensintensität, die für Rahel eine ernsthafte Beeinträchtigung darstellt, wird ergänzt durch die unvermutet wieder aufbrechende Frage nach dem unbekannten Vater. Die Reibung der unterschiedlichen Charaktere der beiden Eheleute erweist sich plötzlich als Problem. Das schmerzhafte Bewusstwerden der eigenen Körperlichkeit, das Erleben des beginnenden Abbaus wird sehr verhalten, aber eindrücklich thematisiert.
Sehr überzeugend gestaltet sich der Kontrast zur jungen Generation ihrer beiden Kinder, auch der Gemütsverfassung, wie sie den Randfiguren der Studenten aus Peters universitärem Umfeld und Rahels jugendlichen Patienten zugeschrieben werden.
Gleichfalls abweichend die psychische Konstitution der beiden Vertreter der Altengeneration, Ruth, der Freundin von Rahels verstorbener Mutter, und ihrem Lebensmenschen Viktor.
Das komplexe Geflecht dieser vielfältigen Aspekte positioniert Krien in den auf drei Wochen verdichteten Zeitrahmen eines Urlaubsaufenthalts, lokalisiert in die ungewohnte Umgebung eines einsamen Anwesens.
„Der Brand“ mag kein Text unvergänglicher literarischer Spitzenklasse sein, ein treffendes Zeitbild deutschen Daseins während der Pandemie aber allemal. Eine Sommerlektüre, die sich definitiv lohnt!

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Veröffentlicht am 29.05.2021

Menschen von Down Under

Der Junge, der das Universum verschlang
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Was für ein Tornado aus Menschen und Schicksalen, der den Leser schier umwirft und ihm den Atem nimmt! Der Schauplatz, an dem die Protagonisten dieses Romans versammelt sind, erscheint als tiefster Höllengrund, ...

Was für ein Tornado aus Menschen und Schicksalen, der den Leser schier umwirft und ihm den Atem nimmt! Der Schauplatz, an dem die Protagonisten dieses Romans versammelt sind, erscheint als tiefster Höllengrund, und es ist nicht klar, ob es Engel oder Teufel sind, die hier ihr Leben fristen, Verlorene sind es allemal! Frappierendster Umstand: obwohl für die beiden Brüder Eli und Gus die Startbedingungen ins Leben denkbar ungünstig sind, scheinen sie, einem inneren Kompass folgend, gespeist von einer inneren Kraftquelle, im tiefsten Inneren unangreifbar einem Pfad zur charakterlichen Festigung zu folgen. Was keinesfalls auch für ihre äußere Unversehrtheit gilt! Gus‘ Verstummen nach einem traumatischen Kindheitserlebnis, das erst vergleichsweise spät im Roman aufgeklärt wird, Elis Verstümmelung, erzählt in einer denkbar brutal gestalteten Episode, verdeutlichen dem Leser exemplarisch diesen für den Roman konstituierenden Widerspruch. Eine Traumwelt, deren lebenserhaltende Qualität immer wieder deutlich wird, erfährt ganz am Schluss ihre Auflösung, als sie nicht mehr vonnöten ist, um die Brüder die lebensfeindliche Realität ertragen zu lassen. Kritisch anzumerken ist, dass dem Autor der Text einfach zu lang geraten ist, Motive, die für die Auflösung der überaus komplexen Konstruktion unverzichtbar sind, geraten zeitweise aus dem Blick. Doch es ist hervorzuheben, dass die prägnanten Charakterporträts der Individuen, die für die Entwicklung der beiden jugendlichen Hauptfiguren entscheidend sind, den Leser fesseln. Trent Daltons These ist ganz klar, dass ein negatives soziales Umfeld nicht zwangsläufig zu einer negativen Sozialisierung führen muss.

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Veröffentlicht am 17.05.2021

Psychogramm

Die Beichte einer Nacht
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Die Lektüre vermittelt einen intimen Einblick in die seelische Verfassung einer Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Ich-Erzählerin gibt vor, gegenüber der Nachtschwester einer psychiatrischen ...

Die Lektüre vermittelt einen intimen Einblick in die seelische Verfassung einer Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Ich-Erzählerin gibt vor, gegenüber der Nachtschwester einer psychiatrischen Klinik eine Lebensbeichte abzulegen, aber die Situation legt nahe, dass es sich nur um eine Fiktion handelt. Einerseits lassen die fehlenden Reaktionen der vorgeblichen Zuhörerin vermuten, dass die Kommunikation nur imaginiert ist, andererseits wird sehr deutlich, dass die Gemütslage dieser Frau sie definitiv unfähig macht, sich gegenüber einem anderen Menschen zu öffnen. Die bigotte, frömmelnde Atmosphäre des Elternhauses bildet den Ausgangspunkt zur Ausbildung dieser absoluten Verschlossenheit der Protagonistin. Aufgrund ihrer Position als älteste Tochter wird ihr übermäßig viel Arbeit und Verantwortung für die kontinuierlich wachsende Geschwisterschar aufgebürdet. Glasklar erkennt sie die Lage der vollkommen ausgelaugten Mutter und den schreienden Egoismus des Vaters und seine Verlogenheit. Eine frühe Abtötung aller Regungen ist das Ergebnis ihrer frühen Erfahrungen. Aufschlussreich, dass die klarste und glückhafteste Erinnerung ein vergeblicher Ausbruchsversuch in sehr jungen Jahren darstellt, wenige Stunden eines vorher nie erlebten, aber umso mehr genossenen Alleinseins. Die sich anschließenden Stufen ihrer Entwicklung lassen einen Wesenszug immer deutlicher hervortreten: nie kann sie voller Überzeugung sich ihrer Individualität gewiss sein. In allen Stadien ihrer Berufstätigkeit, in allen Partnerschaften wirkt sie wie ferngesteuert. Im erstgenannten Lebensbereich genügt sie von außen an sie herangetragenen Ansprüchen, in ihren Beziehungen kommt es nie zu einem Miteinander. Gerade in diesem Bereich der Erotik erweist es sich, dass diese Persönlichkeit von Anfang an eingeschränkt, verkümmert, verdorrt ist. Wie pathologisch ihre Charakteranlage ist, erweist sich gerade in der letzten Beziehung, der vollkommen überhöht dargestellten Liebe zu Hannes. Ihm kann sie kein liebendes Gegenüber sein, folgerichtig, dass auch die Bindung an die Schwester sich als Chimäre erweist. Die als Konsequenz sich ergebende Katastrophe sorgt dafür, dass sie zur Insassin einer Heilanstalt wird. Beeindruckend, mit welchem Feingefühl, mit welcher Einsicht bereits im Jahr 1930 ein solches Psychogramm zu zeichnen vermag.

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