Vakkum Angst– Raffinierter und psychologisch meisterhaft inszenierter Thriller
AMNESIA - Ich muss mich erinnernNachdem Helen erfahren hat, dass sie an Lungenkrebs im Endstadium erkrankt ist, verändert sich ihr Leben, denn die Erkrankung hinterlässt ihre Spuren. Von Nebenwirkungen und Therapien gezeichnet, wird ...
Nachdem Helen erfahren hat, dass sie an Lungenkrebs im Endstadium erkrankt ist, verändert sich ihr Leben, denn die Erkrankung hinterlässt ihre Spuren. Von Nebenwirkungen und Therapien gezeichnet, wird sie von ihrem Lebensgefährten Sven plötzlich verlassen. Scheinbar war der Bildhauer dem Ganzen nicht mehr gewachsen und konnte mit den psychischen Veränderungen Helens nicht mehr umgehen. „Leb wohl“, schreibt er zum Abschied und verschwindet.
Zutiefst verletzt und am Ende ihrer seelischen Kräfte entwickelt sie den Wunsch, sich mit ihrer Mutter auszusöhnen. Kurzerhand packt sie ihre Sachen und reist nach Berlin zu ihrer Mutter, die sie nicht sonderlich willkommen heißt. Ein paar Häuser weiter lebt Helens Schwester, die sich sehr über Helens Besuch freut. Doch bereits nach wenigen Stunden muss Helen feststellen, dass Kristins Ehemann Leon Kristin misshandelt. Noch in Gedanken, dass sie auf Grund ihrer Erkrankung nichts mehr zu verlieren hat, denkt sie darüber nach Leon zu töten, doch ehe sie sich versieht, wird dieser tatsächlich ermordet.
Helens Alibi steht auf schwachen Säulen, denn auf Grund ihrer ständigen Einnahme von Medikamenten, kann sie sich an die Mordnacht nicht mehr erinnern.
Hat Helen Leon getötet?
Die Autorin:
Mitte der Achtziger strandete die Saarländerin Jutta Maria Herrmann in Berlin, studierte Germanistik und Filmwissenschaften, sympathisierte mit der Hausbesetzerszene und stürzte sich ins Nachtleben. Sie war u.a. als Buchhändlerin, Putzfrau, Sekretärin, Synchrondrehbuch-Autorin und Veranstalterin von Punkkonzerten tätig. Heute arbeitet sie für eine Tageszeitung und lebt mit ihrem Mann, dem Autor Thomas Nommensen, vor den Toren Berlins. Nach "Hotline" und "Schuld bist du" ist "Amnesia" ihr dritter Thriller im Knaur Verlag. (Quelle: Droemer Knaur Verlag)
Reflektionen:
Amnesia ist ein raffinierter und psychologisch meisterhaft inszenierter Thriller, der mich bis ins letzte Detail überzeugt und begeistert hat. Amnesia wird in diesem Jahr zu meinen persönlichen Thriller-Highlights zählen.
Wie von einem Lasso eingefangen, zieht Jutta Maria Herrmann den Leser von den ersten Seiten an mit sich. Mühelos gelingt so der Einstig in die Handlung, die zahlreiche Wendungen und Überraschungen bereithält und bis zur letzten Seite fesselt.
In einem besonders flüssigen Stil erzählt Jutta Maria Herrmann die bedrückende, düstere Geschichte der an Krebs erkrankten, stark an sich selbst zweifelnden Helen. Literarisch stark im Ausdruck und doch sanft, bis manchmal anmutig, schreibt sie so einnehmend, dass man den Thriller nur schwer aus der Hand legen kann. Niemals umgangssprachlich und niemals ausschweifend blumig, ist dieser Thriller eine exquisite Praline.
Amnesia ist ein Meisterwerk des psychologischen Spannungsaufbaus, ohne zu beschweren. Die Handlung entwickelt sich stets erfrischend vorwärts und versinkt daher nicht in den Untiefen von Gedankenwelten der Protagonisten, wie in manchen, ständig gleichklingenden Thrillern inzwischen zu genüge Gang und Gebe. Jutta Maria Herrmann findet ein außergewöhnliches, gutes und gesundes Maß, den Leser hinein in die Gedanken der Hauptfigur eintauchen zu lassen und die Handlung spürbar weiterlaufen zu lassen.
Wenn auch die Hauptfigur Helen an Krebs erkrankt ist, dreht sich der Schwerpunkt der Geschichte nicht hauptsächlich um die Erkrankung selbst. Sie dreht sich vielmehr um Helens dramatische Empfindungen, als diese feststellt, dass ihre Gedanken nur noch unzureichend von Erinnerungsfetzen zusammengehalten werden und sie sich nicht an Begebenheiten erinnert, die zur Aufklärung des Mordes an Leon aufschlussreich wären. Sie wird schier wahnsinnig vor Angst, dass sie einen Mord begangen haben könnte.
Mit einem Schlag bin ich hellwach, lausche mit angehaltenem Atem in die Stille. Da ist jemand im Zimmer. Ich spüre die Anwesenheit einer anderen Person mit jeder Faser meines Körpers. Verzweifelt versuche ich, meine Augen zu öffnen. Aber meine Lieder sind so schwer, dass ich es nicht schaffe, so sehr ich mich auch mühe. Selbst das dünne Laken auf meinem Körper scheint Tonnen zu wiegen, drückt mich immer tiefer in die Matratze hinein. Ich bin wie gelähmt, vollkommen bewegungsunfähig. Angst kriecht in mir hoch, verdichtet sich in Sekundenschnelle zu Panik. Mein Herz stolpert, verfällt dann in einen immer hektischeren Rhythmus. Die Stille ist so tief, dass ich mich für einen Moment einbilde, spüren zu können, wie sie sich auf mich herabsenkt. (Zitat)
Helens Gemütszustand liefert reichlich Futter für die Zeichnung ihres Charakters. Ihre Selbstzweifel, Ängste und ihre Panik, bekommt der Leser mit voller Intensität und Authentizität zu spüren und oftmals berühren sie ihn zutiefst, denn Helen ist versunken in einer bedauernswerten, traurigen und erbarmungslosen Einsam- und Hilflosigkeit. Die Ich-Erzählweise der Hauptfigur ist geschickt gewählt, denn sie kurbelt die rasante Spannung und düstere Dramaturgie der Story an.
Die Handlungen der weiteren, raffiniert ausgearbeiteten Figuren greifen wie in ein Zahnrad in die Perspektive Helens ein und sie verleiten dazu, atemlos und pageturnerartig, Seite um Seite, vorwärts zu lesen. Dieses Ineinandergreifen beschert zahlreiche Spannungshöhepunkte, die mit Wendungen und Überraschungen einhergehen, die ursächlich in ihrer Entstehung, in den menschlichen Abgründen der wenigen Figuren zu finden sind.
Nach dem Jutta Maria Herrmann alle Nischen und Winkel der Story ausreichen beleuchtet und jeder Figur ausreichend Raum schenkt, lässt sie das Ende dennoch offen. Es erfolgt keine Auflösung bis ins Detail, aber es gibt flimmernde Lösungsansätze an die Hand, mit der sich der Leser identifizieren und seine eigene Interpretation gestalten kann. Trotzdem oder sogar deswegen verlässt er glücklich und hoch spannend unterhalten diese Geschichte.
Amnesia ist jenseits des Thriller-Mainstream-Abklatsches, ein absolutes Muss für jeden Thriller-Fan.
Fazit und Bewertung:
Amnesia – Ich muss mich erinnern ist ein raffiniertes Meisterwerk des psychologischen Spannungsaufbaus. Hoch spannend erzählt Jutta Maria Herrmann von der an Krebs erkrankten Helen, die ihre Gedankenwelt nur noch mit Erinnerungsfetzen zusammenhalten kann. Schier wahnsinnig vor Angst, muss Helen fürchten, einen Mord begangen zu haben.
Amnesia ist jenseits des Thriller-Mainstream-Abklatsches, ein geniales und absolutes Muss für jeden Thriller-Fan.
©nisnis-buecherliebe