Fremde Federn
YellowfaceDie junge Autorin June Hayward schreibt mehr so vor sich hin und hofft auf einen Durchbruch, während ihre gleichaltrige Bekannte Athena Liu bereits eine Bestseller-Autorin ist. June kommt nicht umhin sich ...
Die junge Autorin June Hayward schreibt mehr so vor sich hin und hofft auf einen Durchbruch, während ihre gleichaltrige Bekannte Athena Liu bereits eine Bestseller-Autorin ist. June kommt nicht umhin sich zu vergleichen und schamhafte Gründe zu erfinden, warum Athena mehr Erfolg hat als sie selbst, zum Beispiel wegen der heutzutage geforderten und gefeierten Diversität und Athenas asiatischer Abstammung. Eines Abends erstickt Athena, als June zu Besuch ist. Obwohl dieser Todesfall tatsächlich ein Unfall ist und June sich in dieser Hinsicht nichts zu Schulde kommen lässt, sackt sie beim Verlassen der Wohnung noch schnell das bisher unveröffentlichte und ungesehene Manuskript von Athena ein. Es wird unter Junes Namen veröffentlicht und prompt zum Bestseller - ist also doch nicht nur alles Auftreten und Marketing, sondern wirklich Talent? Und wie passen Junes weiße Herkunft und das Thema des Buches, nämlich chinesische Soldaten im ersten Weltkrieg, zusammen?
Der Schreibstil von Rebecca F. Kuang und die Protagonistin June sind von der ersten Seite an einnehmend und so ehrlich und offen, dass es mir großen Spaß gemacht hat in das Buch einzutauchen. June hat einen unzensierten Blick auf ihre Freundschaft oder eher Bekanntschaft mit Athena. Ganz unverblümt werden hier Nähe und Faszination, aber auch Neid und Eifersucht aufgezeigt. Spannend fand ich dabei, dass ich Protagonistin June irgendwie sympathisch fand, obwohl sie sich so sehr vergleicht und Athenas bisherigen Ruhm in der Literaturszene herunterspielt und relativiert.
Dieser lebendige Schreibstil zieht sich auch weiter durch, wenn es immer mehr um die Literaturszene, Agenturen, Verlage und die Own-Voices-Debatte geht. June veröffentlicht als weiße Autorin ein Buch über chinesische Soldaten im ersten Weltkrieg und natürlich muss sie sich damit auseinandersetzen bzw. wird eher konfrontiert damit, dass sie keine asiatischen Wurzeln hat. Ganz spannend war hier zu lesen, wie June das für sich und die Presse rechtfertigt. Es geht viel darum, was Autor:Innen dürfen oder nicht dürfen, ob jemand zensiert werden sollte, ob mit viel Recherche- und Sensitivity-Arbeit nicht auch einem Blick “von außen” die Chance auf eine Publikation gegeben werden soll. Und dann zählt sie auch Beispiele aus ihrer Zeit mit Athena auf, die ja “bloß” chinesischer Abstammung war, aber immer in westlichen Schulen und Unis gelernt hat, kein Chinesisch spricht und auch niemals dort gelebt hat. Es geht um die Frage, ob man mit gewissen Wurzeln das Recht und gewissermaßen auch die Pflicht hat bestimmte Geschichten zu erzählen oder eben nicht. Das fand ich sehr spannend und vor allem clever gemacht, schließlich ist Rebecca F. Kuang selbst auch asiatisch-amerikanisch und “darf” somit so eine Geschichte schreiben. Wie wäre “Yellowface” aber angekommen, steckte eine weiße Autor:in dahinter? Es ergeben sich durch dieses Buch auf jeden Fall ganz spannende Fragen, Gedankenspiele und Einblicke in den Literaturbetrieb.
Zitat:
> Wer hat das Recht über Leid zu schreiben? (S. 131)
Gleichzeitig gibt es auch Beispielszenen, in denen Athena ein Stück koreanische Geschichte literarisch “für sich beansprucht”, obwohl sie keinerlei koreanische, sondern chinesische Wurzeln hat. Reicht es in den USA (oder auch hierzulande) dann schon, asiatische Wurzeln zu haben? Wie detailliert wollen es die Kritiker:innen wissen und wo wird die Grenze gezogen? Wollen die Verlage und Leser:innen überhaupt andere Bücher von Autor:innen mit Migrationsgeschichte in der Familie lesen, als welche, die mit dieser Migration im entferntesten Sinne zu tun haben? Das Buch war für mich vor allem wegen dieser sehr spannenden Diskussion eine wahre Freude.
Zitat:
> “Ich weiß nicht”, murmele ich. “Ganz ehrlich, Mr Lee, ich weiß nicht, ob ich die richtige Person war, um diese Geschichte zu erzählen.” Er drückt meine Hände fester. Sein Gesicht ist so gütig, ich fühle mich scheußlich. “Sie sind genau richtig”, versichert er. “Wir brauchen Sie. Mein Englisch ist nicht so gut. Ihre Generation kann sehr gutes Englisch. Sie können denen unsere Geschichte erzählen. Dafür sorgen, dass sie sich an uns erinnern.” Er nickt bestimmt. “Ja. Sorgen Sie dafür, dass sie sich an uns erinnern.” (S. 146)
Mit der Zeit reißt June immer mehr Grenzen ein und obwohl bei mir die Sympathie vollkommen umgeschwenkt ist, hat es weiterhin sehr viel Spaß gemacht, den Roman zu lesen. Es war lebendig, spannend und interessant und neben der Debatte um “Wer darf eigentlich was veröffentlichen” geht es auch um soziale Medien und deren Macht. Ist einmal ein Shitstorm ausgelöst, lässt er sich nicht mehr zurückholen und die betroffenen Personen leiden darunter für immer. Auch das fand ich gut dargestellt, auch wenn das Thema bereits häufiger in Romanen verarbeitet wurde und mich nicht so sehr beeindruckt hat wie das zentrale Thema rund um Identität, Authentizität und die Funktionsweise der Literatur- und Verlagswelt.
Zitat:
> “ […] Und wenn Athena als Erfolgsgeschichte gilt, was bedeutet das für den Rest von uns?”, Candices Stimme wird hart. “Weißt du, wie es ist, wenn man ein Buch pitchen will und sie dir sagen, dass sie schon eine asiatische Autorin haben? Dass sie nicht zwei Minderheitengeschichten in einem Programm haben können? Dass Athena Liu bereits existiert und du damit überflüssig bist? Diese Branche baut darauf auf, uns mundtot zu machen, uns in den Boden zu stampfen und weißen Menschen Geld in den Rachen zu werfen, damit sie rassistische Stereotype von uns reproduzieren.” (S. 366)
Kuangs Schreibstil, die Gedankenanstöße, die Charakterentwicklung und die ganze Metaebene in diesem Buch haben mir sehr gefallen. Ich habe mich selbst hinterfragt und wurde gleichzeitig unterhalten, ein sehr kurzweiliges und empfehlenswertes Buch am Puls der Zeit!