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Veröffentlicht am 13.11.2021

Ein Schiff, 200 Frauen und ein Mord

Niemandsmeer
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Im 19. Jahrhundert ist es im Britischen Empire gängige Praxis, einen Teil der verurteilten Straftäterinnen ans Ende der Welt zu deportieren. Die Schwere des Vergehens ist dafür nicht ausschlaggebend, manchmal ...

Im 19. Jahrhundert ist es im Britischen Empire gängige Praxis, einen Teil der verurteilten Straftäterinnen ans Ende der Welt zu deportieren. Die Schwere des Vergehens ist dafür nicht ausschlaggebend, manchmal reicht dafür schon ein Bagatelldelikt. Möglichst weit weg ist die Devise. Was eignet sich dafür besser als Tasmanien, die zu Australien gehörende Insel 240 km südlich des Festlands, bis 1855 Van Diemen’s Land genannt. 73.000 Straftäterinnen werden dorthin deportiert, bevorzugtes Ziel ist dabei Port Arthur, zwischen 1830 und 1877 das größte Gefängnis des Empire außerhalb des Mutterlandes.

Der Hintergrund von Hope Adams‘ „Niemandsmeer“ ist historisch verbürgt, ebenso das Ergebnis der Handarbeit während des dreimonatigen Aufenthalts auf See, bekannt als der Rajah-Quilt, der noch heute in der National Gallery of Australia ausgestellt ist. Fiktiv hingegen sind die Ereignisse an Bord sowie die geschilderten tragischen Schicksale der Frauen, die in Rückblicken erzählt werden. Adams erzählt deren Geschichten unaufgeregt, aber sehr empathisch. Unterschiedliche Leben am Rand einer Gesellschaft, die kein Erbarmen kennt. Perspektivlose Leben, die sich im Kern gleichen, ausnahmslos geprägt von Erniedrigung und Armut. Ein historischer Roman, der ein Thema der britischen Historie aufgreift, das nicht in Vergessenheit geraten sollte.

Wir schreiben das Jahr 1841. Im April sticht ein Schiff von England aus mit Ziel Van Diemen’s Land in See, an Bord fast 200 Frauen (sowie einige wenige Kinder), allesamt wegen kleiner Vergehen verurteilt. Zusammengepfercht auf engstem Raum muss die lange Passage bewältigt werden. Mit an Bord ist die idealistische Kezia Hayter, die die Aufsicht über die Frauen hat. Ein von ihr initiiertes Projekt, das Nähen eines Quilts, soll deren Gemeinschaftsgefühl stärken. Doch dann wird eine ihrer Schutzbefohlenen erstochen, und es gilt, den Mörder/die Mörderin zu entlarven. Keine leichte Aufgabe für Kezia, den Kapitän und den Geistlichen, denn schließlich könnte es jeder/jede sein. Aber auch eine andere Passagierin fürchtet um ihr Leben, hat sie sich doch unter falscher Identität der Gruppe angeschlossen, um dem Galgen zu entgehen…

Veröffentlicht am 10.11.2021

Kritisch, entlarvend, unterhaltsam

Reichtum verpflichtet
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Die de Rignys sind eine einflussreiche bretonische Sippe, die im Lauf der Zeit mit durchaus fragwürdigen Mitteln ein beachtliches Vermögen angehäuft hat. Aber wie so oft profitieren nicht alle Familienmitglieder ...

Die de Rignys sind eine einflussreiche bretonische Sippe, die im Lauf der Zeit mit durchaus fragwürdigen Mitteln ein beachtliches Vermögen angehäuft hat. Aber wie so oft profitieren nicht alle Familienmitglieder gleichermaßen davon. Die einen haben Geld, die anderen nicht. Die einen sind moralisch, die anderen skrupellos.

Mit Blanche hat es das Leben nicht gut gemeint. Seit einem Unfall gehbehindert, fristet sie ihr Berufsleben in einem anspruchslosen Job im Justizministerium, wo sie tagein, tagaus Unterlagen in der Gerichtsreprografie einscannt. Ist zwar nicht das, wofür sie promoviert hat, sichert aber zumindest den Lebensunterhalt und bietet ihr die Gelegenheit, brisante Informationen aus diesen Dokumenten an dubiose Gestalten zu verhökern und so ihr Gehalt aufzubessern. Als sie per Zufall herausfindet, dass sie mit den de Rignys verwandt ist, offenbar aber zu dem verarmten Zweig gehört, erwacht ihr Interesse und sie beginnt mit der Recherche, getrieben von dem Wunsch, an das Familienerbe zu kommen. Nicht für sich, nein, zumindest nicht alles. Sie möchte die Welt besser, gerechter machen, das Geld dafür investieren, begangenes Unrecht an Mensch und Natur auszumerzen. Aber dafür braucht sie einen Plan, muss in der Erbfolge nach oben rücken, und um das zu bewerkstelligen, darf sie nicht zimperlich sein…

„Reichtum verpflichtet“ bewegt sich auf zwei Zeitebenen, vergleicht die gegenwärtige Ungleichheit in der Gesellschaft mit der des Jahres 1870/71, und erzählt die Geschichte von Blanches Ahnen Auguste de Rigny, ein Anhänger der Pariser Commune, der ihr gar nicht so unähnlich ist. Beide Außenseiter, beide willens, zur Veränderung der jeweiligen Gesellschaft beizutragen, in der der Wert des Einzelnen an seinen monetären Mitteln gemessen wird.

Kapitalismus- und gesellschaftskritisch, provokant, hochpolitisch, aber auch bissig, ironisch und entlarvend. Ein Roman über unsere Gegenwart und unsere Vergangenheit.

Veröffentlicht am 03.11.2021

Alles Käse, oder was?

Say Cheese!
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„Say Cheese“ ist der ideale Ideengeber für all diejenigen, die eine Vorliebe für dieses herzhafte und vielfältige Nahrungsmittel jenseits des langweiligen Käsebrots haben.

In 65 Rezepten nehmen uns die ...

„Say Cheese“ ist der ideale Ideengeber für all diejenigen, die eine Vorliebe für dieses herzhafte und vielfältige Nahrungsmittel jenseits des langweiligen Käsebrots haben.

In 65 Rezepten nehmen uns die britischen Autoren mit auf eine Reise um die Welt, servieren altbekannten Klassiker wie Käsefondue, Raclette oder Pizza Quattro Formaggi servieren, aber auch leckere internationale Rezepte, die mit Sicherheit ihren Platz auf dem Teller finden werden.

Los geht es mit einer detaillierten Einleitung zum Thema „Geschmolzener Käse“, in der die Frage beantwortet wird, zu welchen Sorten man wann greifen sollte. Es folgt das mit „Brot“ überschriebene Kapitel, in dem wir sowohl den simplen Drei-Käse-Toast als auch das raffinierte Philly Cheesesteak Sandwich finden, absolut für ein schnelles Essen geeignet. Der Abschnitt schließt mit einer amerikanischen Fleischbällchen-Pizza.

Die nachfolgenden Nudelrezepte sind typisches Soulfood auf Pasta-Basis, aufgepeppt mit diversen zusätzlichen Zutaten wie Gemüse, Fleisch oder Fisch. Hier halten sich aber glücklicherweise die üblichen al forno Zubereitungen mit Tomatensoße und Ragù im Rahmen.

Das Gemüsekapitel bietet wenig Überraschung. Mit Ausnahme des Englischen Brotpuddings, der griechischen Zucchinibratlinge und der Tartiflette aus Savoyen sind es im Wesentlichen die bekannten Gemüsesorten, die mit Käse gratiniert werden.

Den Abschluss bilden die Ofenkäse, Suppen und Fondues, alles einfach und ohne großen Aufwand zu realisieren.

Die Rezepte sind durch die Bank weg relativ einfach gehalten und somit auch für Anfänger absolut geeignet, die dazugehörigen Fotos vermitteln einen guten Eindruck des zu erwartenden Resultats. Die Zubereitung ist so klar und im Detail beschrieben, dass auch hier keine Fallstricke lauern. Aber die Zutatenliste verrät ganz klar die britische Herkunft des Kochbuchs. Mit den Gewürzen habe ich kein Problem, auch nicht mit den italienischen bzw. französischen Käsesorten, die kann ich in den jeweiligen Feinkostläden besorgen. Aber wo, bitteschön, bekommt man Monterey Jack oder Lincolnshire Poacher her? Hier hätte ich mir eine alternative Empfehlung gewünscht.

Mit kleinen Abstrichen alles in allem ein alltagstaugliches Kochbuch für Kochanfänger und Käseliebhaber.

Veröffentlicht am 17.10.2021

Ein historischer Kriminalroman. Faktentreu und anschaulich.

Der letzte Tod
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Wer dachte, dass es vier Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs für die Menschen in Wien so langsam aufwärts gehen würde, hat sich getäuscht. Die Lebensbedingungen, die wir bereits aus den vier Vorgängerbänden ...

Wer dachte, dass es vier Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs für die Menschen in Wien so langsam aufwärts gehen würde, hat sich getäuscht. Die Lebensbedingungen, die wir bereits aus den vier Vorgängerbänden der Emmerich-Reihe kennen, haben sich durch die galoppierende Inflation noch weiter verschärft. Die Preise steigen ins Astronomische, die Beschaffung von Lebensmitteln wird immer schwieriger, der eh schon knappe Wohnraum – wenn man die heruntergekommenen Quartiere als solchen bezeichnen möchte – reicht hinten und vorne nicht für all diejenigen, die ein Dach über dem Kopf brauchen. Hunger, Unterernährung und hygienische Verhältnisse, die im wahrsten Sinn des Wortes zum Himmel stinken, sorgen dafür, dass sich tödliche Krankheiten rasant ausbreiten. Aber noch immer gibt es Bevölkerungsschichten, die von alldem nicht tangiert werden, die rauschende Feste mit Champagner und Kaviar in ihren Stadtpalais feiern. Kriegsgewinnler und skrupellose Geschäftemacher, die von dem Elend ihrer Mitmenschen profitieren. Die Ungleichheit ist nicht länger hinzunehmen. Wut keimt auf, bricht sich aber nur in vereinzelten Aktionen Bahn.

Und auch das Verbrechen schläft nicht. In „Der letzte Tod“ müssen sich Kriminalinspektor Emmerich und Assistent Winter von der Abteilung „Leib und Leben“ mit einer mumifizierten Leiche herumschlagen, deren Fundort in einem Tresor doch eher ungewöhnlich ist. Und wenn diese Ermittlung nicht schon genug Probleme verursachen würde, hat ihnen ihr Vorgesetzter auch noch den Analytiker Adler zur Seite gestellt, der der ihnen bei der Untersuchung des Mordfalls beratend zur Seite stehen soll. Mit dessen Einführung trägt die Autorin der Tatsache Rechnung, dass in dieser Zeit die Psychoanalyse allmählich an Bedeutung gewinnt, aber für den vorliegenden Fall ist Adlers Beteiligung eher vernachlässigbar. Zum Fortgang der Handlung trägt er wenig bei, was natürlich auch an der Skepsis und der ablehnenden Haltung des Kriminalinspektors liegt.

Verbunden werden die Einzelbände durch Emmerichs Privatleben. Wie ein roter Faden ziehen sich zwei Handlungsstränge durch die Story. Zum einen ist da die ungeklärte Frage nach seiner Herkunft, zum anderen aber auch der Rachefeldzug von Xaver Koch, Ex-Mann und Mörder von Emmerichs großer Liebe Luise. Eigentlich hätte man ja davon ausgehen können, dass dieses Thema nach dessen Verurteilung und Inhaftierung abgeschlossen ist, aber dem ist leider nicht so. Und auch wenn die Emmerich/Koch-Rivalität in der Vergangenheit gut für den einen oder anderen Cliffhanger war, so hatte/hat er doch nur noch die Funktion, einen Funken Drama in die Handlung zu bringen, ist aber mittlerweile ausgeschrieben und überflüssig

Wie bereits die Vorgänger zeichnet sich dieser historische Kriminalroman durch die Faktentreue aus. Alex Beer hat gründlich recherchiert und ihre Ergebnisse in eine Krimihandlung gepackt, die neben den gesamtgesellschaftlichen Betrachtungen auch der politischen Situation in Österreich Rechnung trägt und eine anschauliche Vorstellung über die Lebensbedingungen in dieser schweren Zeit vermittelt.

Veröffentlicht am 09.10.2021

Diese Leute

Liebe deine Nachbarn wie dich selbst
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2019 gewinnt Louise Candlish den British Book Award Crime & Thriller für „Our House“ und verweist so namhafte Kollegen wie Ian Rankin und Jo Nesbø auf die Plätze. Ein Grund, sich ihre Romane einmal genauer ...

2019 gewinnt Louise Candlish den British Book Award Crime & Thriller für „Our House“ und verweist so namhafte Kollegen wie Ian Rankin und Jo Nesbø auf die Plätze. Ein Grund, sich ihre Romane einmal genauer anzuschauen. Vierzehn mehr oder weniger erfolgreiche Bücher hat die Autorin seit 2004 veröffentlicht, die auch teilweise in deutscher Übersetzung vorliegen. Das wiederkehrende Thema ist die Variation der Toxizität zwischenmenschlicher Beziehungen, die Dynamik, die entsteht und außer Kontrolle gerät, wenn Außenstehende in ein geschlossenes System eindringen.

In „Liebe deinen Nachbarn wie dich selbst“ ist das Lowland Way im fiktiven Londoner Vorort Lowland Gardens, eine propere Enklave der gehobenen Mittelschicht. Häuser und Gärten sind gepflegt, das Miteinander rücksichtsvoll. Eine harmonische Idylle. Bis, ja bis Darren und Jodie ihre geerbte Doppelhaushälfte beziehen. Und „diese Leute“ (der Originaltitel „Those People“ hätte viel besser gepasst) scheren sich nicht um die unausgesprochenen Regeln und Erwartungen der Nachbarn, die die Verwandlung des Grundstücks in ein Katastrophengebiet (O-Ton) mit Besorgnis beobachten. Rücksichtnahme auf die Alteingesessenen? Fehlanzeige. Toleranz gegenüber den Neuankömmlingen? Keine Spur. Die anfängliche Verärgerung weicht bald unverhohlener Aggressivität. Es kommt zu Drohungen, verbalen Übergriffen, der Umgangston wird rauer. Auf beiden Seiten. Bis die Situation schließlich eskaliert und jemand stirbt.

Diese Eskalationsstufen schildert Candlish minutiös, indem sie uns die Innenansichten der jeweiligen Beteiligten im Detail präsentiert. Und so fragt man sich mit zunehmendem Verlauf, ob mit „diesen Leuten“ tatsächlich die beiden Neuen in der Straße gemeint sind. Oder möchte sie uns vielmehr die Bruchlinien innerhalb dieses sozialen Mikrokosmos aufzeigen? Den Snobismus und die Heuchelei der angepassten, zivilisierten Bewohner demaskieren?

Ein Thriller? Nein, eher eine psychologische Fallstudie zum Thema Gruppendynamik und menschliches Verhalten in Ausnahmesituationen. Und gerade deshalb sehr interessant.