Ausgezeichnet recherchierte Familiengeschichte mit einigen Wermutstropfen
Irmas Enkel„Irmas Enkel“ sprach mich durch das Titelbild gleich an, das gelungen darstellt, dass es sich um einen historischen Familienroman handelt. Sehr schön fand ich, daß dieses Bild, dieses Familienfoto, im ...
„Irmas Enkel“ sprach mich durch das Titelbild gleich an, das gelungen darstellt, dass es sich um einen historischen Familienroman handelt. Sehr schön fand ich, daß dieses Bild, dieses Familienfoto, im Buch selbst dann auch erwähnt wird. Der Titel ist etwas irreführend, die namensgebende Irma kommt nur kurz vor und letztlich ist es die Lebensgeschichte einer Enkelin Irmas, Anni, die wir von ihrer Geburt im Ersten Weltkrieg bis zu ihrem Tod begleiten. Schon zu Beginn zog mich die Geschichte mit farbigen Schilderungen und eindrücklichen Formulierungen in ihren Bann. hier wird zart und liebevoll erzählt, mit anschaulichen Details. Leider folgt dann ein ziemlich großer Zeitsprung zum Anfang der Nazizeit mit zahlreichen neu auftauchenden Charakteren. Diese werden nur wenig eingeführt, plötzlich sind Anni und ihre Brüder alle verheiratet, ohne dass wir die Beteiligten wirklich kennenlernten. Die Charakterkonzeption fand ich in mehreren Fällen nicht ausreichend. Mehrere Charaktere bleiben recht blass, bei einigen sind Wechsel ihrer Anschauung oder ihre Handlungen nicht ganz nachvollziehbar. Ein recht wichtiger Charakter ist so eindimensional, dass sich die meisten Szenen mit ihm gleichen. Erst am Ende des Buches erfahren wir eine wichtige Information über ihn (für die es vorher einige gut geschilderte Andeutungen gibt, die aber leider in den ständig gleichen Schilderungen seines Benehmens etwas untergehen), die allerdings trotzdem vieles an ihm nicht erklärt. Andere Charaktere sind dagegen überzeugend und man sieht sie direkt vor sich.
Die Atmosphäre ist ebenfalls gut geschildert. Viele Details informieren über Alltag und Arbeit (gelegentlich etwas zu ausführlich) in einer kleinen Landwirtschaft, über die Dorfatmosphäre, auch das bedrohliche Gefühl während der Kriegsjahre und der ersten Besatzungszeit vermittelt sich gelungen. Das Dorf stieg beim Lesen vor meinem geistigen Auge auf und viele Orte dort wurden vertraut. Auch die historische Recherche ist hervorragend (und in dieser Hinsicht bin ich besonders kritisch und selten beeindruckt). Es wurde offensichtlich ganz akribisch recherchiert, sowohl zur Nazizeit wie auch zur Besatzungszeit und der DDR. Hier habe ich eine ganze Menge Neues erfahren und bei mir Bekanntem gemerkt, wie sorgfältig die Recherche war. Diese Informationen werden größtenteils gelungen in die Geschichte eingeflochten, nur im mittleren Drittel wird die Handlung immer wieder durch sehr lange sachbuchartige Texte unterbrochen und es werden dort auch allerlei Informationen hineingepackt, die für die Handlung nicht notwendig sind.
Schön wäre es gewesen, wenn in das Korrektorat auch nur annähernd so viel Mühe geflossen wäre wie in die Recherche. Das Buch wimmelt leider vor Fehlern, diese liegen im höheren zweistelligen wenn nicht sogar dreistelligen Bereich und das ist schlichtweg viel zu viel. Es sind keine Tippfehler, sondern Fehler, die anscheinend aus einem mangelnden Wissen von Zeichensetzungs- und Grammatikregeln resultieren, so fehlen zahlreiche nicht fakultative Kommata, einige Verben sind falsch konjugiert (so wird z.B. etwas über den Boden ‚geschliffen‘) und hier und da finden sich Worte, die von ihrer Bedeutung her nicht passen. Auch die Groß-/Kleinschreibung von „sie“ wird manchmal etwas willkürlich vorgenommen, es werden Zeitangaben verwendet, die bei der Vergangenheitsform nicht richtig sind, Zeitformen vermischt etc. Diese hohe Fehlerquote ist umso erstaunlicher und bedauerlicher als laut Impressum ein berufsmäßiges (das Wort „professionell“ möchte ich angesichts dessen, was abgeliefert wurde, nicht verwenden) Korrektorat beauftragt wurde. In der Hinsicht hat die Autorin alles richtig gemacht. Nachdem ich das Buch gelesen hatte und mir einige der Rezensionen ansah, entdeckte ich, daß die vielen Fehler schon vor zwei Jahren in mehreren Rezensionen bemängelt wurden. Daß in dieser Zeit anscheinend nicht das Geringste unternommen wurde, um dem abzuhelfen, ist wenig erfreulich und für mich ein erheblicher Minuspunkt.
Der Schreibstil ist größtenteils erfreulich. Einige Formulierungen sind so wunderschön und sagen mit wenigen wohlgesetzten Worten so viel aus, daß ich ganz hingerissen war und diese mehrmals gelesen habe. Die Autorin hat offensichtlich ein Talent für Sprache. Zusammen mit den farbigen Beschreibungen und überwiegend gut eingeflochtenen Hintergrundinformationen liest sich der Stil angenehm. Die Autorin spielt mit Zeitebenen, so sind während der Schilderungen von Annis Leben bis Kriegsende immer wieder kleine Szenen aus dem Jahr 1946 eingeschoben, die in ihrer berührenden Melancholie schon einiges gelungen andeuten. Auch werden wir manchmal vor vollendete Tatsachen gestellt und erfahren die Hintergründe erst später, auch das funktioniert und ist interessant. Leider gibt es aber auch sehr viele langatmige Passagen, gerade im zweiten Teil des Buches verliert sich das Buch ein wenig in sich selbst. Auch hat man bei manchen Charakteren und Handlungssträngen den Eindruck, dass sie aufgenommen wurden, um einen bestimmten Aspekt oder ein Thema zur Sprache zu bringen, ohne daß sie aber integraler Teil der Geschichte sind, so daß diese Handlungsstränge etwas halbherzig auftauchen und dann wieder verschwinden. So verlor ich gerade in der zweiten Hälfte zunehmend den Bezug zu einigen Charakteren und war enttäuscht, wenn einige Themen an der Oberfläche blieben oder notwendige Hintergründe nicht erklärt wurden. Auch sind manche Zeitsprünge abrupt und manchmal verwirrend – dazu trägt auch bei, dass die Jahreszahlen ausgeschrieben und nicht als Zahlen geschrieben sind, das Buch außerdem nur sehr wenige Kapitel hat und es abgesehen von neuen Absätzen keinerlei Unterteilungen gibt, so dass ein neuer Absatz eventuell ein paar Stunden später spielt oder auch mal ein paar Jahre später. Einige Kapitel mehr oder zumindest sichtbarere Unterteilungen bei Zeitsprüngen hätten hier für die Übersichtlichkeit viel bewirkt.
So ist „Irmas Enkel“ ein Buch, das viel Großartiges mit sich bringt und mich gerade in der ersten Hälfte berührte, dem aber sowohl ein gutes Korrektorat wie auch ein Lektorat fehlt, das die eigentlich gute Geschichte ein wenig in Form bringt, denn die aufgeführten Punkte haben mein Lesevergnügen doch ziemlich beeinträchtigt. Mit Überarbeitung steckt hier aber durchaus ein 5-Sterne-Buch drin, denn diese Lebensgeschichte, die vom Kaiserreich bis in die moderne Zeit geht, ist facettenreich und vielseitig, der Schreibstil macht Lust auf mehr.