Die Liebesgeschichte nimmt zu viel Platz ein
Das Juwel - Die GabeDer Anflug eines Lächelns umspielt ihre Lippen. Sie zieht die blaue Flüssigkeit aus der Ampulle in der Spritze auf und dreht meinen Arm, um eine Vene in meiner Ellenbeuge zu finden. Als die Nadel meine ...
Der Anflug eines Lächelns umspielt ihre Lippen. Sie zieht die blaue Flüssigkeit aus der Ampulle in der Spritze auf und dreht meinen Arm, um eine Vene in meiner Ellenbeuge zu finden. Als die Nadel meine Haut durchbohrt, zucke ich zusammen - Spritzen gehörten zu unserem Leben in Southgate, aber ich habe mich nie daran gewöhnt. "Du bist ein kluges Mädchen. Vielleicht klug genug, um hier zu überleben."
Ihre Worte lassen nichts Gutes ahnen, aber als die blaue Flüssigkeit durch meine Adern fließt, werden meine Beine schwer, und die Augenlider fallen mir zu. Bevor ich die Frau fragen kann, was sie damit meint, werde ich wieder von Dunkelheit verschluckt und falle in einen Schlaf.
--
INHALT:
Die junge Violet ist etwas Besonderes - geboren im Sumpf, dem ärmsten Viertel der Ewigen Stadt, ist sie gemeinsam mit einigen anderen Mädchen dazu auserkoren worden, ein neues Leben zu führen. Denn sie besitzt besondere Fähigkeiten und kann einer adligen Dame daher einen Dienst erweisen: Ihr Kind zu gebären. Mädchen wie sie werden seit Jahrzehnten von den im Reichtum lebenden Menschen als Leihmütter genutzt - und Violet hasst diese Aussicht, doch sie kann sich nicht wehren. Bis sie sich verliebt und immer stärker den Wunsch in sich verspürt, für ihr eigenes Leben zu kämpfen...
MEINE MEINUNG:
Amy Ewings erster Band der "Juwel"-Reihe fasziniert mit der grausamen und originellen Idee, die neuen Schwung in das Genre der Dystopien/Fantasy bringt. Mädchen, die dazu gezwungen werden, Kinder anderer Leute auszutragen und dabei gehalten werden wie Haustiere: Eine schreckliche Vorstellung. Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive eines sogenannten "Surrogats" (wie die jungen Frauen genannt werden), wodurch man die Ängste und Gedanken hautnah miterlebt.
Leider ist eine Identifikation mit der Protagonistin aber denkbar schwierig: Sie ist selbstverständlich wunderschön, klug und ganz besonders. Von den letzten beiden Eigenschaften merkt man bis auf ihre atemberaubenden Fähigkeiten allerdings eher wenig - hauptsächlich jammert sie, obwohl sie alles bekommt, lästert über andere Frauen, die genauso aufgetakelt sind wie sie, und trifft dumme Entscheidungen. Zu ihr passt daher sehr gut der Love-Interest Ash, ebenfalls nicht besonders intelligent, dafür aber sehr gut aussehend - und unangemessen aufbrausend in den seltsamsten Momenten. Dagegen ist die Gräfin, bei der sie unterkommt, sehr viel spannender: Undurchsichtig, manchmal grausam und manchmal gut, ist sie ein Charakter, der einen immer wieder überrascht. Eine weitere gut gestaltete Figur ist die stumme Annabelle, die mit ihrer lebenslustigen Art die Sympathien sammelt, und der wilde Garnet, der allerdings viel zu selten auftaucht.
Die Idee selbst ist gut, wenn man davon absieht, dass die Protagonistin wie immer an einem Ort gefangen ist, von dem sie so schnell nicht weg kommt. Ihre permanenten Ängste vor der Schwangerschaft und den Behandlungen durch den Adel sind greifbar und recht gut dargestellt. Bis zu etwa Seite 220 ist es hauptsächlich eine Geschichte um das Überleben, voller verständlicher Sorgen, mit ein bisschen langweiligem Hofgeplänkel und einigen Intrigen. Dann jedoch scheint der Autorin schlagartig eingefallen zu sein, dass ja noch gar keine Romantik vorkam - und innerhalb von 30 Seiten ist die Protagonistin unsterblich verliebt, völlig fasziniert und zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Sie nimmt jede Gefahr in Kauf und läuft sogar nachts zu ihrem Geliebten, weil sie ihn unbedingt haben muss - Kitsch ist für diesen Herzschmerz gar kein Ausdruck und Antilopen können nicht schneller laufen als sich diese Romanze entwickelt hat.
Ab diesem Zeitpunkt geht es also nur noch bergab. Die Hauptfigur kommt auf famose Ideen, die ihr größtenteils Ärger einbringen - und das, obwohl sie es deutlich besser hat als viele ihrer Genossinnen. Außerdem wäre es schön gewesen, tatsächlich noch etwas mehr über die Hintergründe dieser Welt zu erfahren (ist diese nun dystopisch oder doch phantastisch?) sowie über die der Kinderzeugung, die so gut wie gar nicht erklärt wird. Dafür überzeugt das Ende, nicht nur durch eine Entscheidung von Violet, sondern auch durch den kleinen Cliffhanger, den ich mir persönlich schon länger erhofft hatte. Aufgelöst wird dieser wohl in Band 2, der im Original noch dieses Jahr erscheinen soll.
FAZIT:
Amy Ewing verarbeitet in "Die Gabe" eine interessante Idee und schafft es, einen in der ersten Hälfte des Buches durchaus gut zu unterhalten. Dann jedoch beginnt die Liebesgeschichte, die nicht nur extrem kitschig ist, sondern auch viel zu viel Raum einnimmt. Darunter leidet die gesamte Geschichte, die von da an größtenteils bergab geht. Verschenktes Potenzial! Von mir gibt es dafür 2 Punkte.