Profilbild von TochterAlice

TochterAlice

Lesejury Star
offline

TochterAlice ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit TochterAlice über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.11.2021

Amy lebt den Schmerz

Der Himmel über Bay City
0

Wir erfahren Amys Geschichte aus erster Hand; nämlich aus ihrer eigenen. Sie wächst in Bay City, einem kleinen Ort in Michigan in einem Blechhaus auf - ungeliebt von einer Mutter, die immer noch an ihrer ...

Wir erfahren Amys Geschichte aus erster Hand; nämlich aus ihrer eigenen. Sie wächst in Bay City, einem kleinen Ort in Michigan in einem Blechhaus auf - ungeliebt von einer Mutter, die immer noch an ihrer ersten, während der Geburt verstorbenen Tochter hängt.

Im Prinzip wird Amy von Babette, der jüngeren Schwester ihrer Mutter aufgezogen. Die Schwestern kamen aus Frankreich in die Staaten, um zu vergessen: zu vergessen, dass ihre Eltern sowie viele andere Verwandte in Auschwitz oder anderen Lagern ums Leben kamen, von Nationalsozialisten verbrannt wurden.

Doch kann Babette das nicht vergessen und Amy kann es auch nicht. Es wird nicht deutlich, in welcher Form dieses so schmerzvolle Erbe an Amy weitergeben wird. Viel gesprochen wird nicht darüber, doch ist die nonverbale Kommunikation im Hause eine unglaublich starke und so sehen irgendwann sowohl Babette als auch Amy die Großeltern im Haus - die doch eigentlich in Auschwitz ermordet wurden.

Amy erzählt sehr spröde und knapp von ihrem Leben, einem Leben, das sie nicht lieb, von dem sie sich gleichwohl nimmt, was sie möchte: Sex zum Beispiel und Drogen. Und immer wieder wird deutlich, wie sie unter der Abneigung ihrer Mutter leidet. Sie selbst wirkt gleichgültig, ab und zu wird ihre Abneigung gegen eine Person oder eine Angelegenheit deutlich, Positives ist selten zu spüren, aber es ist da.

Nach einer Katastrophe, die Amy laut eigeiner Aussage selbst verschuldet hat, verlässt sie Michigan und landet irgendwann nach Station in Indien in New Mexiko, wird Mutter einer Tochter - Heaven. Diese will sie unter allen Umständen von einem Schicksal wie dem ihrigen oder dem ihrer Tante Babette schützen.

Falls Sie - im wahrsten Sinne des Wortes - Blut geleckt haben: machen Sie sich bewusst, dass dies extrem schwere Kost ist. Ich habe Ewigkeiten gebraucht, um mich durch diesen Roman zu wühlen, ihn sozusagen zu erobern. Und auch er hat mich gewissermaßen erobert: durch den Schmerz und auch durch die Ohnmacht, die quasi aus jeder Zeile spricht. Ein Roman, der nur bei wenigen ankommen wird, gleichwohl jedoch aus meiner Sicht wichtig ist.

Veröffentlicht am 20.11.2021

Stille Nacht?

Das Geschenk
0

Nach langen Jahren des Familienlebens möchten Peter und Kathrin Weihnachten endlich mal zu zweit feiern - eine spontane kleine Reise wird ins Auge gefasst, ans Meer zum Beispiel. Aber dann macht der Anruf ...

Nach langen Jahren des Familienlebens möchten Peter und Kathrin Weihnachten endlich mal zu zweit feiern - eine spontane kleine Reise wird ins Auge gefasst, ans Meer zum Beispiel. Aber dann macht der Anruf eines alten Freundes ihnen einen Strich durch die Rechnung: Klaus, seit vier Jahren Witwer, bittet die beiden, Weihnachten doch bei ihm zu verbringen. Und Kathrin kann dem Rest eines Paares, mit dem sie jahrelang befreundet waren, einfach nicht absagen.

An Ort und Stelle treffen sie auf eine junge, eine sehr junge Frau: Sharon. Sie stellt sich als "Die Neue von Klaus" vor und lässt die beiden erstmal dumm dastehen. Klaus muss alles andere als getröstet werden und die Besucher kommen sich veräppelt vor. Zumal Sharon als das Dummchen vom Dienst auftritt.

Doch so langsam, aber sicher zeigt sich, dass nicht alles so ist, wie es scheint und dass nicht alle so ticken, wie es den Anschein hat: in mancher Hinsicht auch man selber nicht. Alina Bronsky versteht es hier, sowohl Lesern als auch Gästen den Wind aus den Segeln zu nehmen und alles anders dastehen zu lassen.

Abgesehen davon, dass es Geschenke und einen relativ unterkühlten Kirchgang ist, ist die Handlung jedoch nicht sonderlich weihnachtlich gestaltet. Außer, man ist der Meinung, man sollte in Gesprächen ans Eingemachte gehen, wie es in einigen Familien wohl passiert. Jedenfalls muss der Leser hier nicht auf die entsprechende Eskalation verzichten. Ich hätte - gerade bei dieser Autorin auf ein bisschen mehr Stimmung gehofft. So bleibt ein eher ungutes Gefühl in bezug auf weihnachtliche Harmonie zurück.

Veröffentlicht am 20.11.2021

Familienleben, wie es nicht sein sollte

Hannerl und ihr zu klein geratener Prinz
0

Hannerls Adoleszenz ist eigentlich gar nicht so schlecht, die Mutter ist zwar lieblos und hat auch oft kein Verständnis für die Pläne der Tochter, aber es gibt ja noch den Stiefvater, einen gestandenen ...

Hannerls Adoleszenz ist eigentlich gar nicht so schlecht, die Mutter ist zwar lieblos und hat auch oft kein Verständnis für die Pläne der Tochter, aber es gibt ja noch den Stiefvater, einen gestandenen Sozialisten, der Hannerl fördert und ihr zeigt, dass Frauen auch was wert sind.

Dieser Glaubenssatz wird ihr aber vom Schmiedinger Josef, den sie heiratet und der ihr trotz ihrer guten Ausbildung nicht erlaubt, weiter zu arbeiten, schnell ausgetrieben. Doch es kommt noch schlimmer: als sie nach langen Jahren endlich Mutter wird, beginnt er sie zu erniedrigen und der Tochter noch auf eine ganz andere Art und Weise zuzusetzen. Denn er mag Frauen nur, wenn es noch keine sind - noch lange nicht.

Ein Familienleben, wie es nicht sein sollte - widerlich und abstoßend ist, was Dolores Schmidinger mit einer Menge Sarkasmus darlegt -anders wäre es wahrscheinlich nicht zu ertragen gewesen.

Der zu klein geratene Prinz war nicht einmal ein Knallfrosch, sondern allenfalls ein Molch, aber das hielt den Möchtegern-Heldentenor und Nazifreund nicht davon ab, sich an den Frauen seiner Familie schadlos zu halten - auf die ein oder andere Art.

Eindringlicher, aber auch sehr trauriger und ernüchternder Lesestoff.

Veröffentlicht am 03.11.2021

Ein russisches Mysterium

Phon
0



Zunächst einmal: ich bin froh, dieses Buch gelesen zu haben. Einen wahrhaft russischen Roman, einen, der die russische Seele aufleben lässt, wenn nicht sogar feiert. Einen, der die Atmosphäre des nachsowjetischen ...



Zunächst einmal: ich bin froh, dieses Buch gelesen zu haben. Einen wahrhaft russischen Roman, einen, der die russische Seele aufleben lässt, wenn nicht sogar feiert. Einen, der die Atmosphäre des nachsowjetischen Russland in seiner Tiefe ergründet, von Beginn an.

Es geht um ein Paar, das im westrussischen Wald lebt, bereits seit drei Jahrzehnten, Nadja und Lew. Sie sind Zoologen, beziehungsweise ist es Lew. Nadja war seine Studentin, sie hat das Studium nie abgeschlossen, sondern sich dem deutlich älteren akademischen Lehrer in die Arme geworfen - mir Erfolg. Denn er verließ sofort seine langjährige Ehefrau und zog mit ihr in die Wälder zwecks Führung eines idealistischen Lebens, das die Organisation praktischer zoologischer Sommerkurse beinhaltete. Berichtet wird aus Nadjas Sicht - es ist eine ausgesprochen subjektive Wahrnehmung, eine sprunghafte noch dazu. Wie es eben so ist, wenn man seine eigene Geschichte erinnert - man springt vom Hölzchen aufs Stöckchen und kann sich nicht immer auf sich selbst verlassen.

Dies hat die Autorin Marente de Moor - eine Niederländerin wohlgemerkt - aus meiner Sicht sehr gelungen dargestellt, wenngleich es das Lesen mitunter durchaus erschwert. Allerdings bleibt der Leser desöfteren auf der Strecke - so erging es mir zumindest: ich konnte weder den Entwicklungen noch den Emotionen der Erzählerin folgen, fühlte mich von ihr wieder und wieder allein gelassen, wenn sie bestimmte Erzählstränge - und zwar nicht wenige - ins Nichts verlaufen ließ.

Zudem kam mir es mir zum Ende hin mehr und mehr vor, als würden doch so einige Klischees aufgefahren. Dennoch: wer gerne Romane über Russland liest, in denen es auch ein wenig schräg zugeht, könnte hier an der richtigen Adresse sein!

Veröffentlicht am 25.10.2021

Faszinierend - aber muss ich das wirklich ALLES wissen?

Gesammelte Werke
0

Tolle Autorin, toller Stil, keine Frage. Und ist sie tatsächlich erst 1987 geboren, diese Lydia Sandgren, die so kundig und vor allem unglaublich atmosphärisch über die 1970er und 1980er zu berichten vermag? ...

Tolle Autorin, toller Stil, keine Frage. Und ist sie tatsächlich erst 1987 geboren, diese Lydia Sandgren, die so kundig und vor allem unglaublich atmosphärisch über die 1970er und 1980er zu berichten vermag? So, als wäre sie bei all den Punk-Konzerten und Diskussionen über Wittgenstein - um nur mal zwei Beispiele zu nennen - in Personam dabei gewesen?

Denn heute, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts - da reflektiert man doch sowohl die Punk-Kultur als auch die Geistesgeschichte und Philosophie vorhergehender Jahrhunderte ganz anders! Und ich kann es wirklich aus Erfahrung (charmanterweise sogar sowohl in Schweden als auch in Deutschland den beiden Ländern bzw. Kulturkreisen, die im Roman eine Rolle spielen) behaupten, bin ich der Autorin doch um gute 20 Lebensjahre voraus.

Aber nein, weder hätte ich das breite geisteswissenschaftliche Fundament noch das Vermögen, Ton, Raum und Zeit so genau zu treffen. um Martin Berg und seiner Familie bis tief hinein in Details zu Themen der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts zu folgen.

Um diese hier nämlich geht es in dem stellenweise doch sehr ausufernden Roman, zudem noch um Martins Jugendfreund Gustav, mit dem zusammen er einen Verlag hat. Berichtet wird aus den Perspektiven Martins und seiner Tochter Rakel, die im Gegensatz zu ihm des Deutschen perfekt mächtig ist und sich nach einer bestimmten Lektüre der Mutter, die vor rund 15 Jahren spurlos verschwand, auf den Spuren wähnt. Sie meint, diese im Chrakter eines Romans wiederzuerkennen.

Lydia Sandgren hat einen anbetungswürdigen Stil, sie ist klug und witzig - aber muss sie denn wirklich das gesamte Füllhorn über ihre Leser ausgießen? Ganz klar war es mir nämlich des Guten zu viel und das nicht nur ein bisschen. Ich denke, dass einige der vorkommenden Gestalten getrost etwas marginaler hätten abgehandelt werden, einige Geschehnisse etwas mehr im Ungenauen hätten gelassen werden können.

Möglicherweise hätte das den Roman sogar noch aufgewertet. Er hat mir wirklich gut gefallen, aber dennoch zögere ich damit, bekanntzugeben, dass ich keine Zeile der Lektüre bereue.