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Veröffentlicht am 01.12.2021

Eine Brücke zu Andersdenkenden?

Vermintes Gelände – Wie der Krieg um Wörter unsere Gesellschaft verändert
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Als Petra Gerster beschloss, als Tagesschausprecherin in Zukunft zu gendern, brach ein wahrer Shitstorm über sie und die ARD herein. Was als eine freie Entscheidung begann, wurde bald als „Verunglimpfung ...

Als Petra Gerster beschloss, als Tagesschausprecherin in Zukunft zu gendern, brach ein wahrer Shitstorm über sie und die ARD herein. Was als eine freie Entscheidung begann, wurde bald als „Verunglimpfung der deutschen Sprache“, „Genderwahnsinn“ und Schlimmeres beschimpft. Diese unverhältnismäßigen Reaktionen führten letztendlich dazu, dass auch ihr Ehemann Christian Nürnberger fast schon aus Trotz das Gendern in seinen Sprachgebrauch aufnahm und beide zusammen das vorliegende Buch verfassten.

„Vermintes Gelände“ befasst sich in 28 Kapiteln mit der Debatte rund um das Gendern. Dabei liefern Gerster und Nürnberger nicht nur einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten, sondern befassen sich ausführlich mit Positionen aus beiden „Lagern“ - ablehnende und zustimmende. Dabei versuchen sie unklare Begrifflichkeiten verständlich zu machen und vor allem darzustellen, dass Sternchen, Bindestrich oder Doppelpunkt eben nicht nur ein Ärgernis für selbst erklärte Sprachbewahrer sind, sondern vor allem der Wunsch nach Sichtbarkeit.

Das Buch soll vor allem eines sein: eine Brücke zu den Menschen, die aufgrund ihres Alters oder ihrer Vorbildung schon lange den Anschluss an die (hauptsächlich online stattfindenden) Diskurse verloren haben. Dabei gelingt den Autor*innen ein recht guter Rundumschlag, der sich mit Vorfällen befasst, die durch die Medien gegangen sind und davon ausgehend erklärt, was eigentlich die zentralen und wichtigen Punkte der Diskussion sind. Dabei geht es vor allem darum, die Rechte von Minderheiten zu vertreten, seien es Frauen, BIPoC oder queere Menschen und zu erklären, dass Gendern vor allem etwas mit Respekt zu tun hat; Respekt vor denen, die sich nicht gehört und nicht geachtet fühlen.

Wer sich schon lange mit dem Thema befasst und das Gendern leidenschaftlich vertritt, dem geht dieses Sachbuch sicherlich nicht weit genug. Petra Gerster als Person des öffentlichen Lebens und ihre Zugehörigkeit zur einer älteren Generation lässt jedoch hoffen, dass es ihr und ihrem Ehemann tatsächlich gelingt, eine Brücke zu Andersdenkenden zu schlagen.

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Veröffentlicht am 01.10.2021

Vier Frauen

Im Menschen muss alles herrlich sein
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Alles beginnt mit einem Eklat. Während der Geburtstagsfeier ihrer Mutter Lena wird Edi(ta) im Hof zusammengeschlagen – Lena und ihre Freundin Tatjana beugen sich über sie, Tatjanas Tochter Nina beobachtet ...

Alles beginnt mit einem Eklat. Während der Geburtstagsfeier ihrer Mutter Lena wird Edi(ta) im Hof zusammengeschlagen – Lena und ihre Freundin Tatjana beugen sich über sie, Tatjanas Tochter Nina beobachtet alles aus der Entfernung. Zwei Mütter, zwei Töchter und dazwischen jede Menge ungesagter Dinge, über das eigene Leben, die Zukunft, aber vor allem die Vergangenheit in der Sowjetunion.

In „Im Menschen muss alles herrlich sein“ erzählt Sasha Marianna Salzmann die Handlung aus wechselnden Perspektiven und über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Ich-Erzählerin Nina kommt nur drei Mal kurz zu Wort, ihre Passagen sind jedoch nicht weniger eindrücklich. Den größeren Teil nehmen Lenas und Tatjanas Leben in der Sowjetunion, die Flucht und der Neuanfang in Deutschland ein. Edi erleben wir in der Gegenwart in Berlin und auf dem Weg zu bewusster Geburtstagsparty.

Salzmann gelingt es, in klaren Worten und Sprachbildern die Situation der vier Frauen einzufangen. Lena studierte ursprünglich Medizin, um ihrer psychisch kranken Mutter zu helfen; in Deutschland darf sie nur noch Krankenschwester sein und sich um die Tochter und den arbeitslosen Mann kümmern. Auch Tatjana landete, schwanger mit Nina, in Berlin. In der Gegenwart verheimlicht sie etwas und Familie und Freunde schauen auf sie herab, weil sie allein lebt. Beiden Frauen fällt es schwer, über die Vergangenheit zu sprechen und beide liebe ihre Töchter sehr, wenn sie auch deren Verhalten nicht immer verstehen.

Edita und Nina führen ein eigenes Leben, dennoch kommen sie nicht richtig von der Familie und der Vergangenheit los. Nina leidet unter Ängsten, verbringt die meiste Zeit in ihrer Wohnung und beschäftigt sich mit dem Zerfall der Sowjetunion. Edita überlegt, während ihres Volontariats eine Dienstreise in die Ukraine zu machen. Zur Metapher für diese Situation wird im Roman die Giraffe des georgischen Malers Pirosmani. Da er selbst nie eine gesehen hatte, malte er das Tier aus seiner Vorstellung - auch Edita und Nina bleibt nur ihre ganz eigene Vorstellung von der Lebensrealität ihrer Mütter. Ein Roman, den ich sehr gerne auf der Shortlist gesehen hätte.

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Veröffentlicht am 27.09.2021

Wichtiges Thema

Wut und Böse
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Wut ist seit je her für die Geschlechter unterschiedlich besetzt; das beginnt schon als Kind. Während Jungs auch mal laut und aggressiv werden dürfen („Es sind eben Jungs“), sollen Mädchen „brav“ sein ...

Wut ist seit je her für die Geschlechter unterschiedlich besetzt; das beginnt schon als Kind. Während Jungs auch mal laut und aggressiv werden dürfen („Es sind eben Jungs“), sollen Mädchen „brav“ sein und ihre Wut unterdrücken. Diese von einander abweichende Bewertung setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort: Wütende Männer sind stark und durchsetzungsfähig, wütende Frauen sind Zicken und hysterisch. Dabei haben Frauen auch heutzutage noch jede Menge Gründe, um eigentlich dauerhaft wütend zu sein – warum sind wir es nicht?

Diesem spannenden Thema widmet die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder ihr erstes Sachbuch. Dabei verbindet sie auf gelungene Weise gesellschaftliche Betrachtungen mit historischen Rückblicken, faktischen Studien und persönlichen Erfahrungen. Zunächst klärt die Autorin den Begriff der Wut und seine Geschichte, schlägt dann den Bogen speziell zu weiblicher Wut und wagt am Ende den Ausblick, inwiefern Wut Veränderung schaffen kann und was eigentlich nach ihr kommt. Es fällt positiv auf, dass Hoeder dabei auch aktuelle Diskussionen und Entwicklungen einfließen lässt und einen intersektionalen Ansatz verfolgt.

Schon früh im Text wird deutlich: Männer sind nicht wütender als Frauen, sie bewerten Wut nur anders. Frauen geben oft an, sich eher traurig oder enttäuscht zu fühlen, einfach weil das gesellschaftlich viel akzeptierter ist. Dabei ist es die männliche Wut, die als Ursache zu Aggression wird und zu riskanten Verhalten und Gewalt (vor allem gegen Frauen!) führt. In einer heterosexuellen Ehe werden Männer älter, weil sie ein besseres, sicheres Leben führen, Frau hingegen sterben früher – ist das nicht bezeichnend?

Was können Frauen also tun? Die Wut für sich zurückfordern, sie „reclaimen“, sagt die Autorin; sie nicht länger unterdrücken, denn letztendlich macht genau das uns krank. Daher sollten wir stolz auf uns sein, wenn wir in einer Situation Wut empfinden und für uns selbst einstehen, um Gerechtigkeit zu erfahren. Wer bereits die einschlägige Literatur zur Ungleichbehandlung von Frauen kennt, für den ist vieles nicht neu, dennoch ist „Wut und Böse“ eine gelungene Zusammenfassung zu einem wichtigen Thema.

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Veröffentlicht am 22.09.2021

Die Abgründe Europas

Blaue Frau
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Eine junge Frau in einer Wohnung in Helsinki. Am Anfang wissen wir nur, dass sie auf der Flucht ist und unbedingt eine Aussage vor Gericht machen will. Wir wissen auch, dass sie nicht nur eine Namen hat: ...

Eine junge Frau in einer Wohnung in Helsinki. Am Anfang wissen wir nur, dass sie auf der Flucht ist und unbedingt eine Aussage vor Gericht machen will. Wir wissen auch, dass sie nicht nur eine Namen hat: Nina. Sala. Adina. Der letzte Mohikaner – hinter jedem davon scheint ein völlig anderes Leben zu liegen.

Aufgewachsen ist die Protagonistin Adina in einem Dorf an der tschechisch-polnischen Grenze, das vom Skitourismus lebt. Dort ist sie der einzige Teenager und nennt sich im Internet daher „Der letzte Mohikaner“. Nina nennt sie ihr Chef bei einem Praktikum in der Uckermark, weil er sich ihren richtigen Namen nicht merken kann und will. Sala hingegen ist sie nur mit Leonides, einem estnischen Professor und EU-Abgeordneten, den sie hier in Finnland kennengelernt hat und der sich für Menschenrechte einsetzt. Doch wer wird sich nun für Adina einsetzen?

Antje Rávik Strubel erschafft mit „Blaue Frau“ einen ungemein vielschichtigen Roman, der sich erst nach und nach in seiner ganzen erschütternden Wahrheit offenbart. Die sprachgewaltige, emotionale Geschichte folgt der Protagonistin durch die Gegenwart, in der sie um Gerechtigkeit für sich selbst kämpfen muss und macht dann Sprünge in die Vergangenheit. Eingeschoben in den Erzählstrang ist außerdem eine Metaebene, in der uns die Titel gebende blaue Frau begegnet. Was es mit ihr genau auf sich hat, muss wohl jede/r für sich entscheiden – für mich persönlich kommuniziert hier jedoch die Autorin mit ihrer Figur.

Vorrangig geht es im Roman sicherlich um sexuelle Gewalt (das ist kein Spoiler, sondern wird bereits sehr früh offenbart) und das Patriarchat, das eine solche Machtsituation von Männern über Frauen erst erschaffen hat. Darüber hinaus sind jedoch auch ungleiche Beziehungen (vom sozialen Status gesehen) und das damit verbundene Überlegenheitsgefühl West- gegenüber Osteuropas (vor allem gegenüber osteuropäischen Frauen und generell Arbeitskräften) ein Thema. Es sind die Abgründe Europas, die hier beschrieben werden und in denen wir unbedingt mehr für die Opfer tun müssen.

Fazit: Ein Buch, das für mich völlig zu Recht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht

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Veröffentlicht am 16.09.2021

Vom Schweigen zwischen Vater und Tochter

Vater und ich
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Ipek verbringt ein verlängertes Wochenende bei ihrem Vater; die Mutter ist mit Freundinnen im Kurzurlaub in einem Wellness-Hotel. Zwischen Vater und Tochter scheint die Nähe abhanden gekommen und Schweigen ...

Ipek verbringt ein verlängertes Wochenende bei ihrem Vater; die Mutter ist mit Freundinnen im Kurzurlaub in einem Wellness-Hotel. Zwischen Vater und Tochter scheint die Nähe abhanden gekommen und Schweigen hat sich ausgebreitet. Wann hat es begonnen, fragt Ipek sich und wer ist für die fehlenden Worte verantwortlich?

Auf „Vater und ich“ der Autorin und Journalistin Dilek Güngör wurde ich durch die Longlist des Deutschen Buchpreises aufmerksam und es zog mich sofort an. Der gesamte Text ist eine direkte Ansprache an den Vater im Präsens und wirkt dadurch unmittelbar und sehr persönlich. Der Autorin gelingt es dabei perfekt, die Sprachlosigkeit zwischen Vater und Tochter einzufangen und obwohl die Prämisse hier eine völlig andere ist, fühlte es sich doch (unangenehm) bekannt an.

Ipeks Vater kam mit 21 Jahren als „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Mit vierzehn war er von zuhause weggelaufen, lernte das Polsterhandwerk und musste schließlich zum Militärdienst. Ipek ist schon vor Jahren aus der schwäbischen Heimat nach Berlin gezogen – im Gegensatz zu ihren Freundinnen, die immer noch vor Ort leben und handfeste Berufe haben (Lehrerin, Physiotherapeutin, Bankangestellte). Ipek hingegen ist Journalistin und führt die interessantesten, komplexesten Interviews – nur mit dem eigenen Vater will das nicht mehr funktionieren:

„Überall fehlen mir die Worte, in deiner Sprache, in meiner Sprache und mit dir sowieso.“ (Ende Kapitel 7)

Früher machten sie Scherze miteinander, sahen gemeinsam Filme, aber heute gelingt ein ausführliches Gespräch nur noch, wenn andere dabei sind; die Mutter zum Beispiel, die gerne und viel redet oder Doktor Funke, der sich seine Möbel stets von Ipeks Vater aufbereiten lässt. Doch es gibt auch Lichtblicke. Beim gemeinsamen Kochen oder beim Polstern von Möbeln ist das Schweigen nicht mehr unangenehm, sondern wie ein stilles Ineinandergreifen von Zahnrädern. Und obwohl sie sonst immer ohne Ansprache miteinander reden, nennen sich die beiden am Ende kızım und baba, Tochter und Vater - und Ipek zieht ein wunderbares Fazit „Wir sind, wie wir sind.“ Einziges Manko des Romans? Viel zu kurz!

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