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Veröffentlicht am 12.11.2022

Die wundersame Wandlung eines Weihnachtsmuffels

Die Weihnachtsfamilie
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Wenn man die zeitlosen Klassiker unter den Weihnachtsromanen und -geschichten kennt, von Charles Dickens weltberühmtem 'A Christmas Carol', über Selma Lagerlöfs Weihnachtsgeschichten, Ludwig Thomas 'Heilige ...

Wenn man die zeitlosen Klassiker unter den Weihnachtsromanen und -geschichten kennt, von Charles Dickens weltberühmtem 'A Christmas Carol', über Selma Lagerlöfs Weihnachtsgeschichten, Ludwig Thomas 'Heilige Nacht', Peter Roseggers Erinnerungen an die Weihnachten seiner Kindheit bis zu den zahlreichen Weihnachtsepisoden aus vielen Büchern der Astrid Lindgren oder vielleicht sogar die bezaubernde Geschichte 'Das Geschenk der Weisen' von O. Henry, dann setzt man die Messlatte hoch, sehr hoch, auf jeden Fall zu hoch, um an dem hier zu besprechenden Roman 'Die Weihnachtsfamilie' wirklich Freude haben zu können. So wenigstens erging es mir, die ich mit Weihnachtsgeschichten wie der von Angelika Schwarzhuber geschriebenen nicht vertraut bin, mit den Klassikern jedoch umso mehr!
Dass Weihnachtsmuffel Emily, eine der Protagonisten des Romans, am Ende geläutert sein würde, war abzusehen, denn Weihnachtswunder, egal was man darunter versteht, müssen in Geschichten dieser Art unbedingt eingebaut werden – und schließlich ist Weihnachten auch aus den Klassikern dafür bekannt. Die Frage war für mich lediglich, auf welche Art und Weise die Autorin, von der ich zuvor noch nichts gelesen hatte, das tun würde, und ob es mich überzeugen könnte. Nun, Emily, die zwei Geschwister aus Hamburg, deren Eltern getrennt leben, zu ihrer vielbeschäftigten Mutter nach Berchtesgaden bringen soll, die dort mit ihrem neuen Lebensgefährten gerade einen Film dreht, um gemeinsam das Fest der Liebe und des Friedens zu feiern, hat eine bereits 22 Jahre währende Weihnachtsphobie, ein Weihnachtstrauma oder wie auch immer man ihre Abneigung nennen möchte, die daraus resultierte, dass ihre eigenen Eltern sich ausgerechnet an jenem denkwürdigen Heiligabend so viele Jahre zuvor trennten, mit einem wahrhaft nachhallenden Paukenschlag. Während die junge Frau nun also Weihnachten entgegen fährt mit den Zwillingen Stella und Joshua und, zunächst unfreiwillig, in die Pläne der Beiden, die Eltern unterm Tannenbaum wieder zusammenzubringen, hineingezogen wird, weicht sie zusehends auf und es kommen immer wieder – über die gesamte Handlung verstreut – Erinnerungen an das unselige Trennungsweihnachtsfest auf, die zusammen mit der überbordenden Gefühlsduselei, die Hannah, die Mutter der Zwillinge, entschlossen ist durchzuziehen, und die im Schmücken des riesigen Wohnzimmers im für die Dauer der Dreharbeiten fürs hohe Fest angemieteten Villa (klar, ein bescheideneres Häuschen kann ja nicht angehen für die berühmte Frau und ihren noch berühmteren Regisseurfreund!) mitten im schneereichen Winterwunderland, gipfelt, das nach vollbrachter Tat sogar das vor nichts zurückschreckende Hollywood vor Neid und Schock erblassen ließe... Weihnachten kann kommen!
Nicht ganz so freilich, wie man es erwartet – und das ist für mich fast das einzige Positive an dem trotz des Hintergrundthemas Scheidung, Kinderleid und Patchworkfamilie überaus sentimentalen Heile-Welt-Romans, in dem nebenbei, so wie es sich gehört, hemmungs- und gedankenlos und völlig unnötig mit dem Auto oder dem Flugzeug von einem Ort zum anderen gereist wird, ohne sich auch nur die geringsten Gedanken darüber zu machen, wie denn der eigene Beitrag zum Schutze von Umwelt und Klima aussehen könnte. Man hat die Mittel, also tut man es!
Emilys vollkommene Wandlung – anders als weiland die von Ebenezer Scrooge, der wirklich durch sämtliche Höllen gegangen ist, um die weihnachtlichen Prüfungen als veränderter Mann zu überstehen! – ist bedauernswerterweise weit davon entfernt, mich überzeugen zu können, und die übergroße Harmonie, die die geschiedenen oder getrennten Eltern der sehr manipulativen Zwillinge, die nie wirklich in ihre Schranken gewiesen werden, an den Tag legen, empfand ich ebenfalls als stark überzogen. Es wirkt gerade so, als wäre eine Scheidung die normalste Sache der Welt, ein Klacks, ein Spaziergang, und negiert damit einen mit vielfältigen Verletzungen verbundenen gravierenden Einschnitt aller Beteiligten, auch, nein vor allem, für die Kinder, die wie üblich nicht gefragt werden. So gesehen muss meine Sympathie, sofern es mir möglich war, mich mit einem der mir unrealistisch, stereotyp erscheinenden Charaktere anfreunden zu können, selbstredend bei den Kindern Stella und Joshua liegen und noch mehr bei der einsamen, normalerweise – typisch für britische Wohlstandsfamilien - im Internat vor sich hin vegetierenden Regisseurstochter Bonnie, die wohl die Unglücklichste von allen ist, unterm Weihnachtsbaum aber mutiert wird zu einem in Glückseligkeit dahinfließenden, die ihr kaum bekannte Stiefmutter nebst Stiefgeschwistern von Herzen liebenden Mitglied der zusehends anwachsenden Weihnachtsfamilie....
Und zu guter Letzt habe ich in der mit dicken Schichten Zuckerguss überträufelten, unglaubwürdig romantischen, zur perfekten Harmonie wild entschlossenen Weihnachtsgeschichte nicht einmal den Hauch eines Hinweises auf den wahren, den eigentlichen Sinn des Festes gefunden, das eigentliche Weihnachtswunder, den Grund, warum überhaupt Weihnachten ein so hehres Fest ist, dass es eben nicht um den perfekten äußeren Schein, eine mit Gewalt herbeigezerrte und deshalb aufgesetzte Harmonie geht, sondern vielmehr um etwas, das viel tiefer geht, das etwas mit dem innersten Selbst und schlicht und einfach mit dem Sinn des Lebens zu tun hat. Etwas übrigens, das in all den zu Anfang meiner Betrachtungen zitierten Klassikern zu finden ist, das über den darin erzählten Geschichten schwebt und sie daher unsterblich macht – nicht nur zur Weihnachtszeit!

Veröffentlicht am 26.12.2021

Wie viele Leben kann man leben?

Die Mitternachtsbibliothek
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Der britische Autor Matt Haig stellt seinem vielgepriesenen, mit Lobeshymnen geradezu überschütteten, 2020 erstveröffentlichtem Roman „The Midnight Library“ (deutscher Titel „Die Mitternachtsbibliothek“) ...

Der britische Autor Matt Haig stellt seinem vielgepriesenen, mit Lobeshymnen geradezu überschütteten, 2020 erstveröffentlichtem Roman „The Midnight Library“ (deutscher Titel „Die Mitternachtsbibliothek“) ein Zitat der jung durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Literatin Sylvia Plath voran, in dem sie beklagt, niemals all die Menschen sein zu können, die sie möchte und die unterschiedlichsten Leben zu leben, dabei gleichzeitig alle nur wünschenswerten Fähigkeiten zu erlangen. Also bleibt ihr nur, das Leben in all seiner Vielfalt so intensiv und bewusst wie möglich auszukosten. Mit diesem so passenden Zitat fasst Matt Haig sowohl das Grundproblem seiner Protagonistin Nora Seed zusammen als auch dessen Lösung, zu der jene Nora, des Lebens gründlich müde, jeoch noch einen langen Weg auf genau 288 Seiten zurückzulegen hat.
Aber der Reihe nach! Durch äußere Umstände, aber auch aufgrund ihrer eigenen Persönlichkeitsstruktur, treibt Nora Sand durch ihr Leben. Zur Depression neigend sieht sie immer weniger Sinn, weiter auf dieser Erde zu verharren. Inzwischen Mitte Dreißig trauert sie verpassten Chancen nach, hält sich für eine Versagerin, die keine ihrer Möglichkeiten genutzt hat und die niemand braucht. Immer tiefer in ihre Depressionen abgleitend braucht es nur einen Anlass, um zu beschließen, die Welt für immer zu verlassen. Soweit, so gut! Nein, natürlich ist gar nichts gut! Aber es könnte gut werden, denn ab jetzt beginnt das Märchen, das dieser Roman strenggenommen ist – und Märchen haben doch zumeist ein Happy End, nicht wahr? Doch lassen wir uns überraschen!
Zunächst einmal landet Nora weder direkt im Himmel noch in der Hölle, sondern vielmehr in einer Art Fegefeuer, wie ich den Ort, an dem sie sich zu ihrem nicht geringen Erstaunen wiederfindet, nennen möchte. Der Autor hat einen Namen dafür: die Mitternachtsbibliothek! Und Nora ist nicht allein, denn da wartet Mrs. Elm auf sie, die freundliche Bibliothekarin aus Noras Schulzeit, die ihr einmal in einer schwierigen Situation zur Seite gestanden hatte – so, wie sie es auch jetzt wieder tut. Sie überreicht der fassungslosen Nora, die eigentlich nichts anderes wollte als zu verschwinden vom Antlitz der Erde, ein ungemein dickes Buch, in dem all das aufgezeichnet ist, von dem Nora meinte, es bereuen zu müssen. Ein Buch der verpassten Chancen könnte man es auch nennen. Mrs. Elm nun fordert Nora auf, die Einträge in diesem unseligen Buch, das zwischen ihr und dem Leben steht, zu löschen – indem sie die Leben lebt, gegen die sie sich zu den unterschiedlichsten Zeiten in der Vergangenheit entschieden hatte. Und wenn ihr eines dieser Leben gefiele, so könnte sie darin verweilen. Eine neue Chance – in vielleicht dem richtigen Leben?
Widerwillig lässt sich Nora darauf ein und erlebt Erstaunliches, doch immer wieder kehrt sie zurück in die Mitternachtsbibliothek, in er sie zwischen Leben und Tod schwebt, solange sie sich nicht für eines der Leben, die sie ausprobiert und die die ihren hätten sein können, hätte sie eine andere Wahl getroffen, entscheidet. Sie macht Sylvia Plaths Wunsch aus dem Zitat wahr, ist, mal für ganz kurze, mal für längere Zeit der Mensch, der auch in ihr schlummert, lebt als solcher ein Leben, das dieser, und nur dieser, leben konnte. Doch was machen all diese Erfahrungen mit ihr, die sie als Wanderin zwischen den Welten sammelt? Vor allen Dingen staunt sie über das unermessliche Potential, das in ihr zu schlummern scheint und das sie niemals in sich vermutet hätte. Doch was sie sucht, das hat sie nicht gefunden, noch nicht, in so viele mögliche Leben sie auch hineingeschlüpft ist. Immer war da etwas, das sie zwang, in die Mitternachtsbibliothek zurückzukehren. Das Buch aber, das dicke Buch, in dem all die Dinge aufgeschrieben waren, die sie bereute, beklagte und bejammerte und quasi abarbeitete, wird immer dünner, immer leichter – und im gleichen Maße wird Noras Lebenslicht schwächer, der Tod nähert sich mit großen Schritten. Mrs. Elm drängt auf eine Entscheidung!
Der Leser mag ahnen, wie diese aussehen könnte, vielleicht kommt sie auch unerwartet, wird überraschen, denn leicht kann diese Entscheidung nicht sein, schließlich hatte Nora sich selbst als erfolgreichen und bejubelten Rockstar erlebt, als Weltklasseschwimmerin, als Gletscherforscherin in Spitzbergen, Auge in Auge mit einem angriffslustigen Eisbär, und schließlich auch als glückliche Ehefrau eines liebenswerten Mannes und Mutter einer überaus entzückenden Tochter. Auf all diesen 'Reisen' ist der Lebensmüden aber noch etwas ganz anderes klargeworden, sie hat, wenn man so möchte, tief, ganz tief geblickt, hat verstanden, oder besser, mehr als nur eine Ahnung, worum es wirklich geht im Leben. Wünschen wir ihr also, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat!
„The Midnight Library“ ist gewiss im Prinzip eine kluge, eine tiefsinnige Geschichte. In diesem Punkt gehe ich konform mit den so vielen, überschwänglich positiven Kritiken. Und ja, die Geschichte erinnert an den Klassiker „It's a Wonderful Life', der allweihnachtlich über die Bildschirme nicht nur in Deutschland flimmert und der gar manchen Zuschauer immer wieder aufs Neue zu Tränen rührt. In einem, einem wichtigen, dem wichtigsten Punkt jedoch unterscheidet sich der hier zu besprechende Roman von dem ohne Einschränkungen bezaubernden Film – eine zu Herzen gehende Geschichte, voller Wärme und dem Zauber, der einen Neuanfang suggeriert und glaubwürdig macht, ist Matt Haigs Roman nicht! Leidet man mit dem verzweifelten, inständig um sein altes Leben bittenden James Stewart aus voller Seele mit, so lässt einen Nora Seed weitgehend kalt – obwohl ich mir wirklich Mühe gegeben habe, mich in sie hineinzuversetzen, wirklich zu verstehen, was sie umtreibt. Sie ist gesichtslos geblieben, ihr wurde nicht das Leben eingehaucht, das James Stewart so überzeugend seinem altruistischen George Bailey verleihen konnte. Nora Seed ist dauerhaft larmoyant, lässt die Menschen hängen, versteckt sich in sich selbst. Und alles kann man eben nicht ihrer depressiven Veranlagung zuschreiben!
Die Idee einer Bibliothek, eben jene titelgebende Mitternachtsbibliothek als Purgatorium, hat mir gut gefallen, die ständig kryptischen Sätze der eigentlich sympathischen Louise Elm jedoch weniger. Ich habe schlicht und einfach nicht verstanden, was ihre ewigen Andeutungen, die der Autor sie hervorbringen lässt und die sie als sonnenklar anzusehen scheint, bedeuten sollen. Das tut Nora übrigens auch nicht, ohne dass Mrs. Elm tüchtig nachhelfen muss. Auch das Ende bleibt unter meinen Erwartungen, zumal es irgendwie abgehakt erscheint, wenn man es mit vielen, sehr ausführlichen vorangegangenen Szenen vergleicht, die unnötig in die Länge gezogen sind.
Und zu guter Letzt – ein Märchen ist ein Märchen, mit Botschaften, gewiss, mit Einsichten, einer Moral oder allgemeingültiger Weisheit, wenn man es so nennen möchte. Was aber sagt uns dieses Romanmärchen? Dass das Leben unbegrenzte Möglichkeiten bietet, dass man immer wieder von vorne anfangen kann, man eine neue Chance nach der anderen bekommt? Das wäre dann aber scharf an der Realität vorbeigedacht! Unbegrenzte Möglichkeiten, Neuanfänge – all das muss man sich leisten können, dazu sollte man jung und ungebunden sein, niemanden haben, für den man verantwortlich ist. Setzt man sich über Verpflichtungen hinweg, die die meisten von uns haben, nur um die alte Haut abzustreifen und in immer wieder neue zu schlüpfen, wird es alsbald sehr einsam werden um uns herum! Das wäre die Art von Freiheit, die auf Kosten eines anderen geht.
Vielleicht aber möchte uns Matt Haig etwas ganz anderes mitteilen mit der Geschichte seiner nicht einmal mittelmäßigen Nora, nämlich dass man sich so annehmen sollte, wie man nun einmal ist, dass gemachte Fehler zum Leben dazugehören, dass man daraus lernen kann, anstatt sie in einer Schublade zu lagern und zu hüten, auf dass sie uns immer wieder an unser vermeintliches Versagen erinnern? Mit dieser Interpretation, die ich mit weit weniger Kritikern teile, könnte ich durchaus leben – da der Autor aber gleichzeitig für unbegrenzte Chancen auf einen Neuanfang zu plädieren scheint, lege ich sein Werk mit reichlich gemischten Gefühlen zur Seite – und schaue mir dafür lieber noch ein weiteres Mal den herzensguten, im Gegensatz zu der im Selbstmitleid ertrinkenden Nora Seed, überhaupt nicht egozentrischen George Bailey, alias James Stewart, im Fernsehen an! Und dies nicht nur zur Weihnachtszeit...

Veröffentlicht am 02.12.2021

Arbeiteraufstände, Streiks, Architektur - und viel zu wenig Handlung

Die Tränen der Welt
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Ein ambitioniertes Werk ist er ganz sicher, der fünfte Roman des in Barcelona geborenen Katalanen Ildefonso Falcones de Sierra, bestverkaufter spanischer Autor historischer Romane, der mit seinem 2006 ...

Ein ambitioniertes Werk ist er ganz sicher, der fünfte Roman des in Barcelona geborenen Katalanen Ildefonso Falcones de Sierra, bestverkaufter spanischer Autor historischer Romane, der mit seinem 2006 erschienenen Buch „Die Kathedrale des Meeres“ (im spanischen Original „La Catedral del Mar“) einen überwältigenden Erfolg hatte. Unzweifelhaft ist er auch hervorragend und geradezu akribisch recherchiert. Und dass der Autor, der neben seiner Schriftstellertätigkeit im Hauptberuf als Rechtsanwalt tätig ist, zu schreiben versteht, beweisen seine über fünf Millionen mal verkauften und in viele Sprachen übersetzten Bücher. Obwohl – nun ja, man kennt das, es gibt nicht wenige Werke, die von Buchhandel und Verlagen hochgejubelt werden und nicht das Papier wert sind, auf das sie gedruckt sind...
Dazu gehört Falcones' neuester Roman „Die Tränen der Welt“ (im Original „El pintor de almas“) gewiss nicht! Wiewohl ich bezweifeln möchte, dass ihm ein ebensolcher Erfolg beschert sein wird wie dem berühmten und zu Recht gelobten Erstlingswerk, das einfach alles hat, was einen überragenden historischen Roman ausmacht: Thematik und Handlung sind nicht nur fesselnd und in berückende Bilder umgesetzt, sondern auf eine Art miteinander verwoben, die ich nur als perfekt bezeichnen kann. Dies ist in dem über 700 Seiten starken 'Seelenmaler', um den Originaltitel direkt ins Deutsche zu übertragen, nicht der Fall. Zuviel hat der Autor gewollt, auf zu vielen Feldern hat er seinen Roman angesiedelt, diese auf eine Weise ausgeleuchtet, die mir zu detailliert und dementsprechend langatmig ist.
Arbeiteraufstände, nie endenwollende Streiks, immer mit denselben Forderungen und jedesmal, in den im Roman behandelten Jahren zwischen 1901 und 1909 jedenfalls, ins Leere führend, ja die sogar die ohnehin skandalöse Situation für den so großen Teil der Bewohner Barcelonas, die ums tägliche Überleben kämpfen mussten und unter himmelschreienden Bedingungen lebten, durch die folgenden rigorosen Sanktionen noch verschlechterten. Die Macht war in den Händen der reichen Bourgeoisie und des ebenso wohlhabenden und unbedingt und mit großem Hass zu bekämpfenden Klerus, vom brutalen Militär abgesichert. Ja, es erschüttert, das zu lesen, es macht wütend und dem Leser gleichzeitig bewusst, dass es schließlich jene mutigen, gar todesmutigen Kämpfer, ein Gutteil davon Frauen, waren, denen wir die Freiheit, die wir heute so selbstverständlich genießen, die umfassenden Rechte, derer wir uns erfreuen, die humanen Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen zu verdanken haben. Aber sind, um dies klarzumachen, tatsächlich 700 Seiten vonnöten? In epischer Breite, immer und immer wiederholt?
Und ja, „Die Tränen der Welt“ ist ein Barcelona-Roman, vielleicht auch, so kam mir immer stärker der Verdacht, hauptsächlich für leidenschaftliche Barceloneser mit brennendem Interesse für die Geschichte ihrer Stadt geschrieben, zu einer Zeit spielend, als Gebäude entstanden, die die Besucher der Großstadt am Mittelmeer noch heute in ihren Bann ziehen, von Ausnahmearchitekten wie dem frommen Antoni Gaudí, Domènech i Montaner und Josep Puig i Cadafalch geschaffen, die den katalanischen Modernismus verkörperten wie niemand sonst und zu eben jener Zeit arbeiteten, in der der Roman spielt und also stets aufs Neue Erwähnung finden. Wann immer dies geschieht, kann man sich auf seitenlange Auslassungen über das Spezialfeld der Architektur, dem offensichtlich des Autors ganze Leidenschaft gehört, gefasst machen. Irgendwann war mir das zuviel, zu speziell, so dass ich dann solche Passagen nur noch überflog. Wie die zahlreichen Aufstände, organisiert von Anarchisten und Revolutionären, durchziehen besagte Schilderungen den Roman und lassen die mehr oder minder episodenhafte Geschichte, die die Haupthandlung sein soll, aber zerrupft beim Leser ankommt, ein ums andere Mal in den Hintergrund treten, unterbrechen den Erzählstrang und lenken ab. Die Einheit von Hintergrund, Haupt- und Nebenhandlungen, die dem Autor wunderbar bei seinem Erstling gelang, will sich hier nicht einstellen.
Zudem bereiteten mir die beiden Protagonisten der eigentlichen Handlung, der Fliesenmaler Dalmau und die Köchin, Arbeiterin, vor allem aber Revolutionärin Emma, von Anfang an Probleme, und die Liebesgeschichte zwischen den beiden, die abrupt abbrach aufgrund einer Mischung aus seltsamen Missverständnissen, Hochmut, falsch verstandenem Stolz und Intrigen von Seiten zweier Straßenkinder, die durch die lange Geschichte geistern und viel Leid verursachen, ist so zäh und schließlich auch ärgerlich, wie das gesamte Buch. Allerdings gewann zumindest der Maler Dalmau, der so lange einem Irrweg folgte, sich korrumpieren ließ von der feinen Gesellschaft, und so seine Wurzeln, damit auch sich selbst, verlor, allmählich an Profil. Seine Auferstehung aus der Gosse, in die er sich durch seine Alkohol- und Morphinsucht selbst gestürzt hatte, mag zwar wundersam anmuten, vermag aber dennoch zu überzeugen.
Die beeindruckendste Figur in Falcones' Roman jedoch ist die alte Anarchistin Josefa, Dalmaus kluge, vom Leben gebeutelte, zu jedem Opfer bereite Mutter. Wie ein guter Geist ist sie der Fixpunkt des Romans, bereit, ihr lebenslanges Credo über Bord zu werfen, um den Ihren, wozu auch Emma, trotz der Trennung von Dalmau, stets gehört, aus bedrohlichen Situationen zu retten. Und allein ihretwegen wären „Die Tränen der Welt“ (warum, so frage ich mich, musste man der deutschen Übersetzung eigentlich diesen mir nicht einsichtigen Titel geben?) ein Roman, den es sich zu lesen lohnt, sind in ihr, der einfachen Frau aus der Unterschicht, doch alle Tugenden vereint, die es braucht, um menschlich zu bleiben in einer unmenschlichen Welt und unter den härtesten Bedingungen, wie denen, gegen die sich die Unterprivilegierten, mit den Frauen an vordester Front, hier im Roman und vielfach in der Geschichte der Menschheit, zur Wehr setzten. Mit der Figur der Josefa wurde dem Roman, der mich, noch ganz im Banne der „Kathedrale des Meeres“ und also mit einer hohen Erwartungshaltung begonnen, weitgehend enttäuschte und dem ich bloßes Mittelmaß bescheinigen muss, ein Funken Leben eingehaucht, die Art von Authentizität verliehen, die ich mir von einer wirklich anrührenden Geschichte immer erhoffe. Aber dieser eine Funke ist nicht hell genug, um sein Licht auszubreiten über den hier gerade besprochenen Roman, nicht einmal dann, wenn der Autor ein so großer, ein so begabter wie Ildefonso Falcones ist!

Veröffentlicht am 23.07.2021

Wanderzirkus sorgt für Aufregung

Fünf Freunde und der Zauberer Wu
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„Fünf Freunde und der Zauberer Wu“, der letzte Band der Originalserie, die die englische Vielschreiberin Enid Blyton 1943 begonnen und ursprünglich auf sechs bis höchstens acht Bände konzipiert hatte, ...

„Fünf Freunde und der Zauberer Wu“, der letzte Band der Originalserie, die die englische Vielschreiberin Enid Blyton 1943 begonnen und ursprünglich auf sechs bis höchstens acht Bände konzipiert hatte, aber wegen ihres großen Erfolges auf 21 Bände ausdehnte, wurde 1963, zwanzig Jahre später, erstveröffentlicht. Dass sich danach jedoch eine ganze Reihe weiterer Autoren berufen fühlten, Enid Blytons Protagonisten Julian/Julius, Dick/Richard, Anne, Georgina, genannt George und der Hund Timmy einfach weitere Abenteuer, immer wieder dieselben oder ganz ähnliche übrigens, erleben zu lassen, ist mit Bedauern anzumerken, denn irgendwann läuft sich auch das tollste Erfolgsrezept tot! Ohnehin ist Enid Blyton, eine der bekanntesten und sicherlich kommerziell erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautoren des 20. Jahrhunderts und auch heute noch, lange nach ihrem Tod 1968, sicher auch eine der kontroversesten und bei Literaturkritikern wenig beliebt. Allerhand hat man ihr vorgeworfen, hat an ihrem recht simplen Stil herumzumäkeln gehabt, an ihren ewig gleichförmigen Geschichten, in denen sie alle Vorurteile ihrer Zeit reichlich bediente und nicht abzubringen war von ihren Rollenklischees.
Fragte man aber ihre Leser, so würde man allenthalben auf Begeisterung stoßen und gerade die 10 bis 12jährigen lieben ihre „Geheimnis“ - Abenteuer, die „Rätsel“ - und eben die „Fünf Freunde“ - Serien. Die jungen Leser, für die Enid Blyton nun einmal schrieb, störten sich weder an Gleichförmigkeit noch an irgendwelchen Klischees. Für sie sind die fünf Freunde, die in ihren Ferien so herrlich frei und weitgehend in Ruhe gelassen von den nervigen Erwachsenen ein spannendes Abenteuer nach dem anderen erleben und maßgeblich beteiligt sind an der Aufklärung mal mehr, mal weniger finsteren Verbrechen, bewunderte Vorbilder!
Wer stört sich schon daran, dass die vier Kinder nebst Hund dauernd ans Essen denken, dass Anne die Rolle des Hausmütterchens besetzt, George stets ungebärdig, zickig und irrational agiert, dass Julian/Julius immer alles besser weiß und die anderen herumkommandiert oder dass Dick/Richard auf den dauerlustigen Witzbold festgelegt ist – und dass ein Abenteuer dem anderen gleicht? Wer auch wundert sich darüber, dass die Eltern so sträflich desinteressiert sind an ihren Sprösslingen, wenn sie denn aus dem Internat in die Ferien zu ihnen kommen müssen, dass ihnen vielmehr daran gelegen ist, sie schnellstmöglich wieder loszuwerden? Für die jungen Leser sind die Eltern, mit denen George und ihre drei Cousins Anne, Julius und Richard gestraft sind, nur hinderliche Spaßbremsen, als die sie sich, wenn sie sich mal auf ihre Elternrolle besinnen, auch unweigerlich erweisen.
Aber jetzt muss der Erwachsene zu Wort kommen, denn was sich Georges Eltern Fanny und das zerstreute Vatergenie Quentin da leisten, ist doch sehr bedenklich! Da kommen die Kinder frohgemut in die Osterferien nach Kirrin (die Eltern der Cousins machen inzwischen Urlaub in Deutschland) – und werden gleich wieder weggeschickt, weil die Köchin Johanna/Joana/Joan plötzlich Scharlach bekommen hat und ins Krankenhaus gebracht wurde! Nun ja.... Mutter Fanny schickt die Kinder samt Hund zu dem befreundeten Professor Hayling, noch vergesslicher und verwirrter als Quentin, und seinem anstrengenden Sohn Brummer/Tinker in den Nachbarort. Hurra – die sind wir los, mag sich Fanny gedacht haben und nun beruhigt auf den Scharlach warten kann, der vielleicht über sie hereinbrechen wird, demnächst, irgendwann. Oder überhaupt nicht....
Die Kinder aber scheinen ganz zufrieden zu sein, zumal sich bei dem geistesabwesenden Professor die Chance auf ein neues Abenteuer auftut, als nämlich ein Wanderzirkus sein Lager aufschlägt, der zumindest eine zwielichtige Gestalt beherbergt, die ein verdächtiges Interesse an der neuen Erfindung des Professors an den Tag legt, und dessen geschwätzigen Sohn Brummer/Tinker auf äußerst plumpe Weise aushorcht. Doch zum Glück sind die fünf Freunde wachsam – und nach einem nur halb geglückten Einbruch in die Arbeitsstube des verwirrten Genialen beschließen sie zu handeln und dem vermuteten Dieb eine Falle zu stellen. Dass ihr Plan nicht so funktioniert, wie gedacht, kann sich der erfahrene Leser denken, genauso wie er weiß, dass die unberechenbare George immer für eine Überraschung gut ist, mit der sie sich unüberlegt, aber dennoch zielsicher, in Gefahr begibt...
Ende gut, alles gut? Aber sicher, darauf ist bei Enid Blyton, der Berechenbaren, immer Verlass! Und wenn sie, die Autorin höchstpersönlich, meint, dass nun, nach Band 21, aber auch Schluss sein muss, so kann ich ihr da nur zustimmen, denn alles ist gesagt, vielfach und immer wieder, alle nur denkbaren Abenteuer sind absolviert, manche sogar wiederholt, die Charaktere sind auch nach 21 Bänden, und das sind genauso viele Ferien, unverändert, sind weder älter noch reifer geworden und das würde vermutlich auch nicht anders werden (und ist es auch nicht geworden, allerdings nicht, weil Enid Blyton das so wollte!). Bevor es gar zu langweilig wird, hört eben auch die emsige Schreiberin Enid Blyton auf – und das ist völlig in Ordnung so!

Veröffentlicht am 07.03.2020

Die Dame mit der Lampe und ihr Geheimnis wahrer Größe

Das magische Baumhaus (Band 49) - Abenteuer im Tal der Könige
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Im 49. Band der Baumhaus-Serie reisen die Geschwister Philipp und Anne aus Pennsylvania, nicht zum ersten Mal, nach Ägypten! Diesmal allerdings in die vergleichsweise „junge“ Vergangenheit, nämlich zurück ...

Im 49. Band der Baumhaus-Serie reisen die Geschwister Philipp und Anne aus Pennsylvania, nicht zum ersten Mal, nach Ägypten! Diesmal allerdings in die vergleichsweise „junge“ Vergangenheit, nämlich zurück ins Jahr 1849 anstatt in die Zeit der Pharaonen mehrere tausend Jahre vor Christus.
Zuerst war Morgan, die Bibliothekarin aus dem sagenhaften Camelot, ihre Auftraggeberin, doch seit einigen Bänden ist es der Zauberer Merlin vom Hofe König Arthurs höchstpersönlich, der den Kindern Missionen anvertraut, bei denen es entweder um die Rettung des magischen Reiches Avalon geht oder die einer historischen Persönlichkeit, oder, wie im vorliegenden Band, um ein Geheimnis, das es herauszufinden gilt. Seit Band 47 sollen die Geschwister vier berühmte Personen treffen, um von ihnen das Geheimnis wahrer Größe zu erfahren. Nachdem sie bereits Alexander den Großen in Mazedonien und nach ihm den großen Magier und Entfesselungskünstler Harry Houdini kennengelernt haben, geht es nun um eine Frau namens Florence Nightingale, eine ganz besondere Frau, die ihr Leben der Pflege und Fürsorge für die Kranken und die Kriegsverletzten gewidmet hatte. Tatsächlich gilt sie als Begründerin der modernen Krankenpflege und wurde während des Krimkrieges als „Lady with the lamp“ bekannt, weil sie des Nachts auf ihren Kontrollgängen die Verwundeten mit einer Lampe in der Hand besuchte, um ihnen Trost zu spenden.
Besonders Anne ist sehr angetan von der bedeutenden Frau und kann es folglich kaum erwarten, sie endlich persönlich kennen zu lernen. Zusammen mit ihrem besonnenen Bruder Philipp begegnet sie Florence Nightingale mitten in einer Sinnkrise, die im Übrigen historisch verbürgt ist, denn sie schrieb während ihres Ägypten-Aufenthalts in Theben Tagebücher, als sie an sich und dem Leben zweifelte und keine rechte Vorstellung von ihrer, durch die Konventionen jener Zeit bestimmten, Zukunft hatte und ihr schon gar nicht klar war, dass sie, was Anne und Philipp natürlich wussten, einmal eine berühmte Person der Geschichte werden würde.
Dementsprechend wenig erbaut ist sie auch über die Annäherungsversuche der Kinder aus Pepper Hill; sie möchte alleine sein, möchte in Ruhe nachdenken. Unbeirrt jedoch bleiben Philipp und Anne der unglücklichen Frau auf den Fersen, zum einen bestrebt, Merlins Mission zu erfüllen und zum anderen interessiert daran herauszufinden, warum sie denn so abweisend ist. Dabei geraten sie natürlich – und diesmal ist das nicht, wie in den Vorgängerbänden, Annes Eigenmächtigkeit zu verdanken – in ernste Schwierigkeiten, die Wüste und deren Gefahren sträflich unterschätzend. Ja, und dann kommt Hilfe von unerwarteter Seite – uns sie finden schließlich auch das dritte Geheimnis wahrer Größe!
Mary Pope Osbornes Serie „Das magische Baumhaus“, mit der sie in den 90er Jahren begonnen hat, ist zu Recht eine der erfolgreichsten Kinderbuchreihen. Die Verbindung von interessanten Sachinformationen mit spannender Unterhaltung gelingt der Autorin zumeist hervorragend. Doch vielleicht nutzen sich auch Erfolgsrezepte ab?! Bereits die Bände vor der Geschichte um Florence Nightingale konnten mich nicht recht überzeugen, irgendetwas fehlte, schmeckte fad – ganz so, als sei der alte Schwung dahin. So wirkt die Handlung des zu besprechenden neuen Abenteuers insgesamt mühsam konstruiert, ist langatmig und die Dialoge sind so nichtssagend wie langweilig und schlichtweg überflüssig. Und diejenige, die eigentlich die Hauptperson sein und im Mittelpunkt stehen sollte, taucht nur ganz am Rande auf und ist dann nicht einmal sonderlich sympathisch. Man fragt sich unwillkürlich, wie diese schroffe Frau zu einer so hoch verehrten Heldin hatte werden können. Es erscheint mir überdies ungünstig, die beiden braven Musterkinder Philipp und Anne – denn das sind sie ganz gewiss, obschon Anne auch recht eigensinnig sein kann! - auf eine Florence Nightingale treffen zu lassen, die noch auf der Suche ist nach ihrer wahren Bestimmung, die zerrissen ist und frustriert von den Einschränkungen, denen junge Frauen ihrer Zeit unterworfen waren. Aber wie hätte die Alternative ausgesehen? Zwar haben Philipp und seine Schwester schon einige gefahrvolle Reisen unternommen, nie zuvor aber waren sie auf einem echten Kriegsschauplatz. Und ob es den amerikanischen Lesern – denen vor allem! - gefallen würde, die jungen Helden mitten im Kriegsgetümmel auf der Krim anzutreffen, der Zeit nämlich, als Florence Nightingale ihre Berufung schließlich gefunden hatte, muss bezweifelt werden...
Also bleibt eine lauwarme Geschichte mit einer blassen Heldin, von der man sich nicht recht vorzustellen vermag, dass sie jemals zu einer solchen werden könnte und die sicher auch kein Interesse an einer näheren Bekanntschaft mit der später so umtriebigen und, wie bezeugt ist, ebenso faszinierenden Britin wecken konnte! Bleibt zu hoffen, dass die Amerikanerin Mary Pope Osborne in den folgenden Bänden wieder zu ihrer alten Form zurückfinden möge!