Profilbild von jenvo82

jenvo82

Lesejury Star
offline

jenvo82 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit jenvo82 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.09.2016

Sklaverei mitten in Deutschland

Götter
0

Mitten in Deutschland gibt es vier Reservate, die ganz unscheinbar als militärisches Sperrgebiet ausgewiesen sind, so dass an ihren Rändern die Übungstruppen der Bundeswehr ihren Dienst verrichten, ansonsten ...

Mitten in Deutschland gibt es vier Reservate, die ganz unscheinbar als militärisches Sperrgebiet ausgewiesen sind, so dass an ihren Rändern die Übungstruppen der Bundeswehr ihren Dienst verrichten, ansonsten aber niemand das Gebiet betritt.

Dort verbirgt sich das Herrschaftsgebiet einer ominösen Sekte, die bereits seit Jahrzehnten Menschen zur modernen Sklaverei verdammt. Mit ihren Helikoptern kommen sie als "Götter" getarnt zu ihren Vasallen und versorgen sie mit den nötigsten Gütern, um im Gegenzug die handwerklichen Erzeugnisse der Reservatsbewohner abzuholen, um diese gewinnbringend zu verkaufen. Doch es kommt noch schlimmer. Männer und Frauen werden getrennt gehalten und sexuell ausgebeutet. Die Frauen werden unter dem Deckmantel der "Göttlichkeit" zu Gebärmaschinen verdammt. Sie erhalten eine Betäubung und werden vergewaltigt - die Kinder verbleiben im jeweils geschlechtsspezifischen Arreal.

Eines Tages gelingt es zwei Reservatsbewohnern unabhängig voneinander ihre Gruppe zu verlassen und sich ein Leben in der Wildnis aufzubauen. Als sie sich durch Zufall kennenlernen, entlarven sie nach und nach die Lügen ihres bisherigen Lebens und schwören ihren Peinigern Rache ...

Dieser Roman wartet mit einer ungeahnt interessanten Thematik auf, vor allem weil er in der Gegenwart spielt und damit an die Vorstellungskraft der Leser appelliert. Könnte derartiges heute noch geschehen? Wie gut kennen wir das Land, in dem wir leben? Und decken die Medien nicht jeden Tag ein weiteres dunkles Kapitel auf, von dem wir bisher nicht glaubten, dass so etwas überhaupt existieren könnte? Deshalb regt die Geschichte auch zum Nachdenken an und zeigt gleichzeitig wie schmal der Grat zwischen Unvorstellbarkeit und Realität sein kann.

Die Protagonisten des Buches agieren stellenweise wie Kinder, weil sie sich alles selbst aneignen müssen und jede Entdeckung grenzt für sie an ein Wunder. Ihr Überleben in der Wildnis hängt weitestgehend von ihrer Fähigkeit ab, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben und die momentane Situation bestmöglich zu bewältigen. Reduziert auf ihre Lebensbedürfnisse dauert es mehrere Jahre, bis sie den Schritt in die Unabhängigkeit wagen und sich den "normalen" Menschen zu erkennen geben.

Die Ausarbeitung dieser hochexplosiven Thematik konnte mich dennoch nicht restlos überzeugen, zum einen weil das Leben in der Wildnis und die Eroberung unseres Wissenstandes für jene Unwissenden im Zentrum der Geschichte steht. Zum anderen, weil es keine klare Struktur gibt, die agierenden Personen abrupt wechseln und neue auftauchen, die erst viel später wieder von Bedeutung sind. Der Lesefluss wurde dadurch stellenweise getrübt.
Die Längen im Mittelteil werden dann wieder durch ein spannendes Ende wettgemacht, welches alle Handlungsstränge aufnimmt und folgerichtig zusammenführt. So manche Überraschung findet sich auf den letzten Seiten ...

Fazit: Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen genreübergreifenden Roman, mit spektakulären Handlungsansätzen und menschlichen Unglaublichkeiten. Mir hat vor allem die Idee hinter der Geschichte gefallen, während mich die Erzählung zwar unterhalten, aber nicht ganz fesseln konnte.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Die schmerzhaften Fesseln der Liebe

Kreuzfahrt
0

Zwei Männer, zwei Frauen und zwei Beziehungen, die emotional schon längst in die Brüche gegangen sind. Wie es der Zufall so will begegnen sich Meret und Jan im Sommerurlaub, den beide mit ihrer jeweiligen ...

Zwei Männer, zwei Frauen und zwei Beziehungen, die emotional schon längst in die Brüche gegangen sind. Wie es der Zufall so will begegnen sich Meret und Jan im Sommerurlaub, den beide mit ihrer jeweiligen Familie im sonnigen Süden verbringen. Schon dort sprühen heftig die Funken und die körperliche Anziehungskraft bringt sie fast um den Verstand. Doch zurück in der Heimat ergeben sich noch ganz andere Perspektiven, plötzlich werden Jan und seine Frau Romy direkte Nachbarn von Meret und Dres. Die Kinder spielen gemeinsam und aus Fremden werden Freunde. Nur mit dem Unterschied, dass es hier keine Freundschaft, sondern in erster Linie Verlangen gibt. Die intensive Affäre, die beide beginnen ist aber nur von kurzer Dauer, denn manchmal löscht das Leben die Erinnerung an einen Menschen restlos aus und hinterlässt nur eine kaum greifbare Traurigkeit…
Dieser zeitgenössische Roman über ein altbekanntes, immer wieder neu besprochenes Thema, den Seitensprung und seine Folgen, hat mich bereits im Vorfeld sehr neugierig gemacht. Dementsprechend hoch war auch meine Erwartungshaltung, da ich viele sehr gute und intensive Romane mit dieser Thematik bereits gelesen habe.
Das Buch und die Geschichte um Meret und Jan lassen mich allerdings etwas zwiegespalten zurück, was in erster Linie an den sehr unsympathischen Protagonisten liegt. Die nicht nur ein einsames, absolut egoistisches Leben führen, sondern darüber hinaus auch keinerlei Interesse an wirklich tiefen Gefühlen haben. Für mich stellte sich hier immer wieder die Frage, warum verharren Menschen in einer Beziehung, die ihnen längst nichts mehr bedeutet, die sie innerlich immer weiter vereinsamen lässt und der niemand eine positive Bilanz bescheinigen wird?! Noch dramatischer finde ich die Einstellung zu den eigenen Kindern, die irgendwie immer stören, die abgeschoben und fremdbetreut werden und denen man ebenfalls keinerlei körperliche und seelische Wärme zukommen lässt, obwohl sie noch klein sind und sich gewiss danach sehnen.
Was mir gefallen hat war die intensive Auseinandersetzung der Hauptprotagonistin Meret, die ihre Gefühle und Gedanken in einer Art Brief an ihren Geliebten formuliert, um sich ihres Handelns bewusst zu werden. Der Autorin gelingt es, die psychologische Komponente des Seitensprungs von allerlei Perspektiven zu beleuchten. Sie verliert sich dabei oft in philosophischen Betrachtungen, weil auch das geschriebene Wort hier nur ein Gedankenkonstrukt ist aber sie erkennt ganz deutlich die Grenzen, die Chancen auf einen Neubeginn, überhaupt der Wille zur Veränderung und damit schlägt sie einen großen Bogen, der mich in seiner Kernaussage zwar nicht befriedigt aber in sich selbst geschlossen ist.
Fazit: Ich vergebe 3 Sterne für diesen komplexen, doch etwas verwirrenden Roman, der sich recht wenig mit der Liebe auseinandersetzt, dafür umso mehr mit Fehlentscheidungen, persönlicher Unzufriedenheit, innerer Abschiede und trauriger Wahrheiten. Wer sich gerne mit den Gedankengängen anderer, ihrer Lebensweise und Erfahrung auseinandersetzt, der wird hier vielleicht finden, was er sucht. Wer allerdings ein warmherziges, vertrauensvolles Bild von der Liebe und seinen Mitmenschen hat, der geht wohl eher etwas enttäuscht aus der Lektüre.

Veröffentlicht am 31.08.2021

Aufstehen und der Welt entgegen treten

Shuggie Bain
0

„In diesem Moment wusste er, dass er sein Versprechen nicht halten konnte. Er hatte Agnes angelogen, genauso wie sie ihn angelogen hatte, als sie sagte, sie würde mit dem Trinken aufhören. Sie würde nie ...

„In diesem Moment wusste er, dass er sein Versprechen nicht halten konnte. Er hatte Agnes angelogen, genauso wie sie ihn angelogen hatte, als sie sagte, sie würde mit dem Trinken aufhören. Sie würde nie trocken werden, und er wusste, dass er nie so sein würde wie normale Jungen.“

Inhalt

Shuggie Bain wächst in einem ärmlichen, von häuslicher Gewalt und labilen Beziehungen geprägten Elternhaus in den 80er Jahren in einer Arbeitersiedlung in Glasgow auf. Die Eltern trennen sich schon, da ist er noch klein und während seine Mutter als Alleinerziehende mit drei Kindern auf Sozialhilfe angewiesen ist, und keiner Beschäftigung nachgeht, kümmert sich der Vater längst nicht mehr, hat er doch schon neue Kinder und eine andere Frau. Shuggies Mutter Agnes, die er bewundert und abgöttisch liebt, verlangt ihren Kindern immer mehr Verantwortung ab, denn bis auf ihr hübsches Äußeres bleibt nicht viel und sie gibt sich immer exzessiver dem Alkohol hin. Die täglichen Belastungsproben dieser Familie stehen hier im Zentrum der Erzählung, sie bieten kaum Hoffnungsschimmer und zeigen detailliert, wie zerrüttet das Leben in Armut, Missgunst und Einsamkeit aussieht. Und während die beiden älteren Geschwister emotionalen Abstand halten oder gar physische Distanz suchen, um der häuslichen Umgebung zu entkommen, ist Shuggie dafür zu jung und emotional, möchte er doch so gerne daran glauben, dass seine Mutter endlich dem Alkohol abschwört und ein halbwegs normales Leben mit ihm führt, doch er kämpft auf verlorenem Posten, denn jeder kleine Lichtblick scheint nur von kurzer Dauer …

Meinung

Auf dieses Buch war ich sehr gespannt, nicht nur weil die Story ganz gut in mein Beuteschema passt, sondern natürlich auch wegen der Auszeichnung mit dem Booker Preis 2020 und einer Erzählung, die stellenweise biografische Züge aufweist und dadurch bestenfalls an Wert gewinnt. Selbst die Leseprobe mochte ich noch ganz gerne, trotz der derben Sprache und dem damit erwarteten Fortgang einer traurigen, vielleicht auch zermürbenden Geschichte.

Doch irgendwie haben sich beim Lesen all meine Ansprüche verflüchtigt und schon nach dem ersten Drittel war mir klar, dass dieses Buch keins meiner persönlichen Kriterien an eine derartige Geschichte erfüllen wird. Meine Kritikpunkte sind vielfältig und lassen sich nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen, denn prinzipiell hat die Thematik ein absolut tolles Potential, welches hier meines Erachtens überhaupt nicht ausgeschöpft wird. Ganz genau kann ich hingegen sagen, was an dieser Story anders hätte sein müssen, damit sie irgendwie in die Nähe eines Lieblingsbuches gerückt wäre.

Mein erster Kritikpunkt: Warum vermischt der Autor eine Familiengeschichte so knäuelartig mit einer Milieustudie? Selbst, wenn die Familie Bain dadurch nachhaltig geprägt wird, so ist es doch eine persönliche Sicht, bei der ich dann nicht wissen muss, dass es der Nachbarin mit ähnlichen sozialen Hintergründen auch nicht besser geht. Und wenn ich zeigen möchte, wie es damals zuging, für die Menschen, die dort unter diesen Umständen lebten, dann muss der Fokus anders gesetzt werden und nicht in die Hände eines Jungen gelegt werden, der um seine Mutter bangt.

Mein zweiter Kritikpunkt: Warum wählt der Autor diese unpersönliche Erzählperspektive? Denn dieses Buch hätte aus meiner Sicht entweder von der Mutter selbst oder dem Sohn erzählt werden müssen, aber ganz unbedingt aus der Ich-Perspektive, damit man als Leser irgendwie Zugang findet, wenn man weder die Umstände noch die Personen kennt. Letztlich hätte das eine x-beliebige Geschichte über eine alkoholkranke Frau und ihre armen Kinder sein können, da bleibt dann vielleicht noch ein Körnchen Mitleid beim Leser übrig, mehr aber auch nicht. Von Betroffenheit und emotionaler Nähe war ich jedenfalls ganz weit entfernt.

Mein dritter Kritikpunkt: Wieso gestaltet der Autor den Text so langatmig und detailliert auf der Handlungsebene, während die Emotionen so außen vor bleiben? Tatsächlich interessiert es mich wenig, wie genau der Absturz von Agnes Bain nach dem sechsten Bier und der zweiten Flasche Wodka aussieht, dass sie sich im Suff mit anderen Männer einlässt und mehr Hure als Mutter ist, nur um danach immer wieder zu bereuen und erneut der Welt entgegen zu treten, ebenfalls nur mit mäßigem Erfolg.

Kurzum, für mich war dieses Buch ein Flop, vor allem, weil diese triste Geschichte mit ihren labilen Charakteren und den doch dramatischen Auswirkungen auf die Individuen selbst, so wenig Spuren hinterlässt. Die meiste Zeit habe ich mich gelangweilt und die wenigen Spannungsmomente gipfeln dann auch nur in einer schier endlosen Verzweiflung. Gerne hätte dieser Roman eine Biografie sein dürfen oder lieber noch eine ganz fiktive Erzählung. Auch als Gesellschaftroman mit dem Augenmerk auf den Umständen und dem Leben in Armut und Arbeitslosigkeit hätte dieses Buch für mich funktionieren können. So wie es aber ist, trifft es einfach nicht meinen Geschmack.

Fazit

Ich vergebe hier leider nur 2,5 Sterne, die ich tendenziell abrunden würde. Dieser Roman bietet für mich keinen Mehrwert, er ist mir stets fremd geblieben und erzählt eine Story, die mich weder schockieren noch packen konnte. Traurigkeit fließt hier aus jedem Satz, aber sie ist zu allumfassend, um tatsächlich greifbar zu sein. Skizziert wird hier das Leben verschiedener Menschen, die sich irgendwie durchs Leben hangeln, immer nah am Abgrund, immer bemüht das Gleichgewicht zu halten und doch unheimlich schwach auf Grund der Umstände und ihrer eigenen Herkunft. Die immer gleiche, zermürbende Erzählung, gefangen zwischen Gewalt, Häme, Momenten des kleinen Glücks und dann wieder den Sorgen des ganz normalen Alltags, der sich nicht ändern wird, weil es sich um eine Endlosschleife handelt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.02.2021

Mehr als ein verschlissenes Herz

Schwarz und Silber
0

Der Trost, sie so stark zu wissen, vermischt sich mit der Angst, nicht wirklich unentbehrlich für sie zu sein und unter den zahllosen Arten, mit denen ich an ihr hänge, an ihr zu hängen wie ein Blutsauger, ...

Der Trost, sie so stark zu wissen, vermischt sich mit der Angst, nicht wirklich unentbehrlich für sie zu sein und unter den zahllosen Arten, mit denen ich an ihr hänge, an ihr zu hängen wie ein Blutsauger, der anderen das Leben aussaugt, eine Art riesiger Parasit.“

Inhalt

Anna ist das Kindermädchen von Emanuele, dem Sohn von Nora und dem Ich-Erzähler und hat in der Kleinstfamilie einen unentbehrlichen Stellenwert eingenommen, eine noch viel bedeutsamere Rolle als die Großeltern oder andere Bezugspersonen.

Doch nun ist sie krank, so krank, dass ihre Lebenszeit bemessen ist und der Krebs wird sie zunächst nur schwächen aber bald schon einen hohen Tribut einfordern und dann kann sie weder für das Ehepaar da sein,noch für den Schulanfänger, den sie liebevoll seit seiner Geburt betreut. Deshalb zieht sie sich zurück, schraubt den Kontakt auf ein Minimum herunter und konzentriert sich auf den Kampf gegen die tödliche Krankheit.

Für das Paar brechen ungeahnte Zeiten an, denn Signora A., die sie als ihre engste Vertraute ansehen, hat das Gleichgewicht in der Paarbeziehung anscheinend erst hergestellt und nun müssen sich Mann und Frau erneut finden, wenn sie nicht so einsam bleiben möchten, wie sie es tatsächlich schon sind.

Meinung

Der in Turin geborene Autor, der mich mit seinem Buch „Die Einsamkeit der Primzahlen“ vor einigen Jahren schon überzeugen konnte, widmet sich in diesem Roman nicht nur dem langsamen Zerbrechen einer zunächst stabilen Paarbeziehung, sondern in erster Linie den Bruchstellen, die andere hinterlassen, wenn sie gehen müssen. Gerade die Beschreibung des Klappentextes, hat mich sehr in ihren Bann gezogen, denn ich habe ein Faible für tiefgründige Themen, die sehr gerne auch den Tod oder das Verlassenwerden betreffen dürfen. Und zu gern hätte ich Antworten auf die versprochenen Fragen (Was hält Menschen zusammen, was trennt sie? Was passiert, wenn plötzlich jemand fehlt, der immer da war?) bekommen, was leider nur unzureichend durch die Lektüre geleistet wird.

Der Ich-Erzähler tritt hier in einer dermaßen einseitigen Erzählperspektive auf, das seine Gedanken den ganzen Roman dominieren. Und vielleicht weil er wie der Autor selbst Physiker ist und seine Stärken mehr auf Logik und klaren Strukturen basieren, bleibt mir alles Gesagte seltsam fremd und erscheint trotz Bedeutsamkeit eher nüchtern und objektiv. Beim Lesen habe ich die tiefere Bedeutung immer nur erahnt, sie dringt viel zu schwer an die Oberfläche und nimmt mich als Leser nicht gefangen. Selbst die Protagonisten untereinander wahren eine gewisse Distanz und sind sich zwar nah, aber weniger auf einer emotionalen Ebene als in ihren ganz alltäglichen Handlungen. Egal ob es sich dabei um Nora seine Frau, Emanuel seinen Sohn oder Anna, ihr Kindermädchen handelt, ich komme einfach nicht an deren Gedankenwelt heran und sie bleiben mir bis zuletzt sehr fremd.

Der Schreibstil selbst ist lobenswert, er transportiert passend zur Thematik eine große Portion Melancholie und schafft schöne Bilder. Auch der Wechsel zwischen den Zeitstrukturen des Romans konnte mich überzeugen, denn manches wird rückblickend anderes vorausschauend betrachtet, so dass ein stimmiges Gesamtbild entsteht.

Umso ärgerlicher bin ich über die inhaltliche Zerrissenheit des Textes, die ausgehend von verschiedenen Berührungspunkten immer wieder Gedankensplitter aufnimmt, über die ich nachdenken möchte, sie aber ebenso schnell wieder fallenlässt. Damit zerfasert sich der Text immer mehr und es bleibt nur wenig Lobenswertes zurück. Sehr gern hätte ich über die ein oder andere Frage länger nachgedacht als es der Autor für notwendig hält, denn er erstickt seine guten Gedankengänge und bringt sie viel zu abrupt zu Ende, in dem er absolute Antworten auf Fragen liefert, die nicht so ohne Weiteres zu beantworten sind.

Darüber hinaus kritisiere ich so manche abstruse Äußerung wie zum Beispiel seine Aussage über die Familie (S. 57): „Eine Familie in ihren Anfängen ist manchmal auch das: ein vor Egozentrik zusammengezogener galaktischer Nebelfleck, in Gefahr zu implodieren.“ Sorry, aber so etwas lässt mich nur noch den Kopf schütteln und macht vielleicht auch deutlich, warum ebenjener Protagonist ein so unausgesprochenes Eheproblem mit sich herumträgt.

Fazit

Das werden leider nur 2,5 Lesesterne (aufgerundet 3) für diesen durchaus interessanten Roman, der sich mit inneren Konflikten und Sichtweisen beschäftigt, die ich generell gut nachvollziehen kann, hier aber nur mäßig umgesetzt sehe. Positiv beurteile ich hingegen die literarische Wertschätzung eines Menschen. Egal wie nah oder fremd uns eine Person stehen mag, menschliche Verbindungen leben von einem Gleichgewicht zwischen dem Nehmen und Geben, in diesem Text verschiebt sich der Adressat und wechselt die Seiten und dennoch erhält jeder Faktor eine Bedeutsamkeit, die auch nach dem Ende der Beziehung sichtbar bleibt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.01.2021

Der bedrückende Reiz der Körperlichkeit

Hingabe
0

„Ich hatte sie nicht lieben können, wie ich niemanden lieben konnte. Ich hatte gedacht, es wäre leicht, im Zusammenleben mit einer Frau würde die Beziehung zu ihr mühelos, ich könnte hineinwachsen, da ...

„Ich hatte sie nicht lieben können, wie ich niemanden lieben konnte. Ich hatte gedacht, es wäre leicht, im Zusammenleben mit einer Frau würde die Beziehung zu ihr mühelos, ich könnte hineinwachsen, da ich es weder als Kind noch als Jugendlicher gelernt hatte. Aber ich war ein schlechter Schüler.“

Inhalt

Suiza möchte ans Meer und trampt von Frankreich nach Spanien. Mitgenommen wird sie immer, denn sie ist nicht nur wunderschön und sinnlich, sondern noch dazu etwas zurückgeblieben und dafür umso leichtere Beute für die Männer, die junge unschuldige Frauen am Straßenrand auflesen, um diese nicht nur näher an deren Zielort zu bringen, sondern auch intim mit ihnen zu werden. Doch Suiza lässt die Vergewaltigungen über sich ergehen und strandet schließlich in der spanischen Provinz, wo sie vom Betreiber einer kleinen Bar als Bedienung eingestellt wird. Und dort begegnet ihr zum ersten Mal Tómas. Er ist ein wohlhabender Bauer Anfang 40, der mehrere Ländereien besitzt und erst kürzlich von seinem Arzt erfahren hat, dass er eine schwerwiegende Lungenkrebserkrankung hat. Tómas fühlt sich von Suiza sexuell dermaßen herausgefordert, dass er sie schon bei ihrem zweiten Treffen, aus der Bar entführt und sie noch auf dem Feld vergewaltigt. Aber die junge Frau kennt diese Vorgehensweise bereits und lässt auch ihn gewähren. Was sie sucht ist ein Zuhause, Stabilität und Liebe, trotz ihrer sehr speziellen Art. Und Tómas braucht tatsächlich eine Frau, die ihm nicht nur das Bett wärmt, sondern auch auf dem Hof hilft, das Essen kocht und die Tiere versorgt. Die beiden bleiben zusammen und versuchen so etwas wie eine Beziehung zu etablieren, doch Tómas kennt sich mit Frauen nicht aus und seine Erkrankung kostet ihn viel Kraft …

Meinung

Der Debütroman der französischen Autorin Bénédicte Belpois, die zudem als Hebamme arbeitet, besitzt durchaus eine gewisse Durchschlagskraft und einen ungewöhnlichen Erzählton, der diese Geschichte begleitet und die Leserschaft polarisiert, indem er gerade die Thematik der Vergewaltigung sehr deutlich und präzise werden lässt. Mir wurde der Roman von einer Lesefreundin empfohlen, zuvor hatte ich ihn eigentlich gar nicht wahrgenommen, doch dadurch war meine Aufmerksamkeit natürlich geweckt.

Nun muss ich sagen, dass ich leider nicht so begeistert von der Geschichte bin, sie aber durchaus gerne gelesen habe. Angesprochen hat mich vor allem der Schreibstil der Autorin, die in direkter, klarer Sprache ihre Sachverhalte ausdrückt. Sie gestaltet den Text abwechslungsreich, nimmt mehrere Perspektiven auf, erzeugt einen schlüssigen Handlungsverlauf und formuliert Sätze, die ausgesprochen gut zu den von ihr entworfenen Figuren passen.

Aber genau diese Charaktere waren es, die mich stellenweise an den Rand der Verzweiflung getrieben haben. Die beiden Hauptprotagonisten sind zwei ausgesprochen archetypische Menschen, die so ziemlich jedes Klischee erfüllen: Er der brutale, endgültige, entschlossene Mann, der nie eine Frau wirklich liebte und auch sonst kaum Zuwendung erfuhr, im Kern aber ein guter Mensch sein möchte. Und Sie, ein hilfsbedürftiges, anziehendes, weiches Wesen, die zwar leicht zurückgeblieben ist, sich aber mit kindlicher Lebensfreude in jeden neuen Tag stürzt und zahlreiche bisher verborgene Talente entwickelt.

Zwischen ihnen entwickelt sich eine große Dramatik, gepaart mit normaler Alltäglichkeit und den deutlichen Schatten der Verzweiflung. So wie es der Klappentext verspricht, ist es nicht, denn angeblich soll hier aus purer sexueller Begierde eine bedingungslose Liebe wachsen. Von Liebe sind wir meines Erachtens aber meilenweit entfernt. Vielmehr ist es eine unglücklich gewählte Kombination aus der Triebgesteuertheit des Mannes und seiner schweren Krankheit. Für die weibliche Person bleibt nur eine ungesunde Rolle vieler Abhängigkeiten bestehen, die mehr und mehr verdeutlicht, wie schwer es werden würde, wenn Tómas plötzlich nicht mehr da sein sollte.

Und genau diese Radikalität, die sich durch tragische Umstände, persönliches Leid und nicht abwendbare Schicksalsschläge manifestiert, präsentiert sich hier geballt auf engstem Raum. Das größte Problem, was ich mit diesem Buch hatte waren gar nicht die sexuellen Begebenheiten, sondern der fehlende Mehrwert des Buches. Ein Kranker, der sich zunächst nur Sorgen darum macht, wie er eine fremde Frau zu seinem Besitz machen kann, ist für mich unglaubwürdig. Und die Figuren selbst, wirken zwar ins sich geschlossen bleiben mir aber emotional sehr fremd. Immer wieder hat sich mir beim Lesen die Frage aufgedrängt, was uns die Autorin sagen möchte und ich habe leider keine Antwort darauf gefunden.

Fazit

Ich vergebe 2,5 Lesesterne (aufgerundet 3) für diesen eigenwilligen Roman über eine fatale Zusammenkunft eines wilden Mannes und einer gefügigen Frau. Inhaltlich habe ich hier kaum etwas gefunden, was mir eine konkrete Aussage geliefert hat. Man kann dieses Buch gut und schnell lesen, vor allem, wenn man möglichst wenig Erwartungshaltung aufgebaut hat. Die Art und Weise der Erzählung wirkt schon reizvoll, nur der Inhalt des Gesagten zerrinnt mit jedem Satz zwischen den Fingern und verliert sich nach gut 200 Seiten gänzlich. Ich glaube, dieses Buch hinterlässt einfach zu wenige Spuren und wirft Fragen auf, deren Antworten ich nicht kennen muss. Dies ist bereits der zweite Roman in diesem Jahr, bei dem eine Erkrankung mit einer Lappalie verbunden wird. Beide Bücher („Wilde Freude“ und dieses hier) konnten mich viel zu wenig überzeugen, weil es ihnen an psychologischem Tiefgang fehlte, obwohl ich sonst sehr gern Romane über Abschiede, und menschliche Sorgen und Nöte lese, kann ich nicht nachvollziehen, warum man sie mit so lockeren Themen kombinieren muss.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere