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Veröffentlicht am 25.05.2017

Geständnisse

Geständnisse
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Am letzten Schultag des Semesters kündigt Lehrerin Moriguchi ihren Achtklässlern an, dass sie nach den Ferien nicht zurückkommen wird. Kein Wunder, denken sich die Kinder, hat die alleinerziehende Mutter ...

Am letzten Schultag des Semesters kündigt Lehrerin Moriguchi ihren Achtklässlern an, dass sie nach den Ferien nicht zurückkommen wird. Kein Wunder, denken sich die Kinder, hat die alleinerziehende Mutter doch erst ihre Tochter durch einen tragischen Unfall verloren. Doch wie sie ihnen erläutert, war der Tod des Kindes kein Unfall, sondern Mord und sie hat ihre ganz eigene Rache an den beiden Schuldigen geplant, die sich auch im Klassenraum befinden. Mikuzi, die Klassensprecherin erzählt die Geschichte etwas anders. Auch der beschuldigte Naoki, seine Mutter und Schwester, die die Folgen der Lektion der Lehrerin mitansehen müssen, sowie der zweite Verdächtige, Shuya, kommen zu Wort. Jeder hat einen etwas anderen Blick auf die Geschehnisse. Und jeder gibt einen ganz anderen Grund für sein Handeln, der jedoch dem außenstehenden Betrachter zunächst verborgen bleibt und die Dinge in einem immer wieder neuen Licht erscheinen lässt.

Der Titel des Romans, „Geständnisse“, ist bei Kanae Minato Programm. Nacheinander offenbare sich die Figuren. Immer mehr Abgründe werden sichtbar und führen den Leser an seine Schmerzgrenze. Kaum hat man sich einen Reim auf die Geschehnisse des unheilvollen Tages gemacht, muss dieser ob der neuen Erkenntnisse schon wieder revidiert und adaptiert werden. Geradezu verstörend wirkt die brutale und kaltblütige Macht, die die Figuren in ihren Bann reißt und zu unsäglichen Taten anstiftet. Aber man erkennt auch, welch ein Druck auf den Japanern lastet. Das Gesicht für die Außenwelt, die Selbstdarstellung, ist so viel wichtiger als der Seelenzustand und die hinter der Fassade lauernden Abgründe, die sie schließlich alle ins Verderben stürzen.

Die Autorin gilt in Japan als Meisterin des iyamisu, einer literarischen Unterform des Thrillers, der insbesondere die dunklen Seiten der menschlichen Natur behandelt. Dies gelingt ihr in Geständnisse in der Tat meisterlich. Was die Figuren antreibt, ist ganz unterschiedlich. Ebenso wie sie mit Druck umgehen und gar mit der Angst vor dem drohenden Tod. Es sind vor allem die Beweggründe, die einem zwischen Faszination und Erschrecken auf die Seiten starren lassen. Man kann sich dies alles vorstellen, aber wie kann kein Mensch dafür so weit gehen?

Unweigerlich stellt man sich die Frage, ob dies ein typisch japanisches, oder eher asiatisches Phänomen ist und ob eine solche Geschichte von einem Europäer oder Nordamerikaner in derselben Weise hätte verfasst werden können. Diese sehr eigenen Figuren kamen mit zuletzt in Han Kangs „The Vegetarian“ unter, auch bei der Koreanerin war das Handeln der Figuren nach unseren Maßstäben eher verstörend, aber offenbar in der östlichen Welt völlig stimmig. Das Phänomen der „Hikikomori“ etwa, der Menschen, die sich aufgrund des schulischen und gesellschaftlichen Drucks immer weiter zurückziehen und sich schließlich gänzlich von der Außenwelt abschotten, ist sicherlich in dieser Weise in Europa nicht denkbar, zu individualistisch und hedonistisch streben wir nach Selbstverwirklichung, die sich an den eigenen Normen bemisst.

Kanae Minato reißt allerhand Fragen auf: Schuld und Rache als vorderste, aber auch der Umgang mit einer todbringenden Erkrankung, konkret dem AIDS Virus, dysfunktionale Familienstrukturen, Verlustängste und der Wunsch nach Anerkennung durch diejenigen, die einem wichtig sind. An den Abgründen der menschlichen Seele siedelt sie diese Fragen an, so dass sie keine simplen Antworten dulden können.

Veröffentlicht am 25.05.2017

Konklave

Konklave
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Der Papst ist tot – es lebe der Papst. Die Vakanz führt die Kardinäle aus allen Ecken der Welt in den Vatikan zum heiligen Konklave. Kardinal Lomeli muss das jahrhundertalte Verfahren leiten, obwohl er ...

Der Papst ist tot – es lebe der Papst. Die Vakanz führt die Kardinäle aus allen Ecken der Welt in den Vatikan zum heiligen Konklave. Kardinal Lomeli muss das jahrhundertalte Verfahren leiten, obwohl er selbst seit Monaten von einer großen Glaubenskrise geplagt wird. Kurz vor Verschließen der Tore hastet noch ein unbekannter Kardinal herbei, Benitez, der Bischof von Bagdad, vom verschiedenen Papst in pectore ernannt und daher nicht auf den offiziellen Listen. Schnell bilden sich Koalitionen, die Italiener bevorzugen einen Kandidaten aus ihren Reihen, die Afrikaner hoffen auf einen Vertreter ihres Kontinents, ebenso wie die spanischsprachigen Hirten. Doch bald schon zeigen sich die Abgründe der Kirche: kaum bildet sich ein Kandidat heraus, sieht dieser sich mit seinen sorgsam vertuschten Fehltritten konfrontiert. Die Kongregation steht vor einer immer schwierigeren Aufgabe, der heikle Stand der Kirche im 21. Jahrhundert spiegelt sich auch hinter den heiligen Mauern wieder, während die Gläubigen auf die erlösenden Worte „Habemus papam“ warten.

Dass Robert Harris aus geschichtlichen Stoffen einen spannenden Krimi schrieben kann, ist bekannt. Nun wagt er sich an dir Kirche und den heiligsten aller Prozesse, die Wahl des Papstes. Sein Protagonist, dessen Gedanken und Sorgen wir begleiten, trägt durch die Handlung, nicht aufgrund seiner tiefen religiösen Überzeugung, sondern wegen seiner Zweifel und bodenständigen, weltlichen Denkweise. Der Reiz des Themas besteht natürlich darin, hinter die verschlossenen Türen der Sixtinischen Kapelle zu blicken, Mäuschen zu spielen bei den Intrigen der Kirchenvertreter. Harris erfüllt hier die Erwartungen vollends: keineswegs sind sie die vorbildlichen Gläubigen, die nie zweifeln, ihr Leben für die Kirche und Gott hingeben und sich desinteressiert zeigen an weltlichen Gütern. Nein, sie horten Reichtümer an, gieren nach Macht, haben heimliche Liebschaften, gar Kinder, und auch ansonsten weisen sie alle Laster auf, denen auch der Normalsterbliche nur schwer entkommen kann.

Der Handlungs- und Spannungsbogen ist recht klar umrissen: von Beginn bis Ende des Konklaves. Der Ausgang ist wenig überraschend, dafür war er von den ersten Minuten an zu klar vorausgeplant, aber hier ist – wie auch schon in seinen anderen historischen Romanen, die der Realität angelehnt waren und deren Ausgang ohnehin bekannt war – weniger das Ergebnis als der Weg dorthin das Ziel. Immer wieder neue Ränke und Enthüllungen verzögern die Wahl, durchaus vielfältig und überzeugend vom Autor angelegt, so dass das vermeintlich langweilige Procedere von knapp 120 älteren Herren, die gemeinsam in einem Raum eingesperrt werden, um aus ihren Reihen einen Führer zu wählen, zu einer unterhaltsamen und spannenden Angelegenheit wird.

Veröffentlicht am 29.01.2023

Vincenzo Latronico - Die Perfektionen

Die Perfektionen
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Anna und Tom kommen nach Berlin. Es ist die Zeit, als es viele aus aller Herren Länder in die deutsche Hauptstadt zieht. Sie finden günstige Wohnungen und arbeiten freiberuflich an ihren Laptops in Cafés. ...

Anna und Tom kommen nach Berlin. Es ist die Zeit, als es viele aus aller Herren Länder in die deutsche Hauptstadt zieht. Sie finden günstige Wohnungen und arbeiten freiberuflich an ihren Laptops in Cafés. Zwischen Kunstgalerien und Nachtclubs verwischen Arbeit und Privatleben und alles scheint für die 20 bis 30-Jährigen möglich. Nur gelegentlich kommt der Gedanke an die Heimat, die man zurückgelassen hat. Der Freundes- und Bekanntenkreis ist in Dauerbewegung, neue kommen hinzu, andere verschwinden. Doch langsam verändert sich die Stadt und irgendwann beginnen auch Anna und Tom darüber nachzudenken, ob das noch das Leben ist, wie sie es sich vorgestellt haben.

Der Italiener Vincenzo Latronico ist Autor und Übersetzer und lebt selbst in Berlin. „Die Perfektionen“ ist sein zweiter Roman und eine Hommage an seine Wahlheimat. In starken Bildern fängt er eine inzwischen schon wieder vergangene Zeit und ein Lebensgefühl einer ganzen Generation ein.

„In Berlin lebten Anna und Tom in jeder Hinsicht in einer Blase, die kleiner und abgesonderter war als die, die sie sich in den sozialen Netzwerken schufen.“

Mit hübschen Bildern zeichnen sie online ein Bild von ihrem Leben, das mehr Fassade als Realität ist. Ein Scheinleben online wie offline in einer Stadt, deren Sprache sie kaum sprechen und in der sie nie wirklich ankommen, geschweige denn in das Leben der Deutschen eindringen. Alle, die sie kennen, sind Expats wie sie selbst, die denselben Lebensstil pflegen, jung und mobil sind, die globalen englischsprachigen Nachrichten verfolgen, aber nichts von den Vorfällen oder Sorgen um die Ecke wissen.

Es braucht ein extremes Ereignis wie die Ankunft tausender Geflüchteter im Jahr 2015, damit sie etwas von dem Leben in der Stadt mitbekommen und ihre Blase kurzzeitig verlassen. Doch auch das bleibt eine kurze Momentaufnahme und ist schnell schon wieder vergessen.

Es sind vor allem die präzisen Beschreibungen, die den kurzen Roman zu einem herausragenden Leseerlebnis machen. Poetisch und doch präzise lässt Vincenzo Latronico konkrete Bilder vor dem inneren Auge aufsteigen und den Leser darin versinken.

Veröffentlicht am 02.04.2022

Kotaro Isaka - Bullet Train

Bullet Train
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Der berühmte Shinkansen, von Tokio unterwegs nach Morioka. An Bord gleich mehrere Mörder, alle mit unterschiedlichen Missionen: Lemon und Tangerine, die den Sohn des großen Unterweltbosses Minegishi und ...

Der berühmte Shinkansen, von Tokio unterwegs nach Morioka. An Bord gleich mehrere Mörder, alle mit unterschiedlichen Missionen: Lemon und Tangerine, die den Sohn des großen Unterweltbosses Minegishi und einen Koffer bewachen und heil ans Ziel befördern sollen. Kimura, der mental völlig durch den Wind Rache für seinen im Koma liegenden Sohn sucht. Der Prinz, eigentlich noch viel zu jung für das, was er vorhat. Und zu guter Letzt Nanao, der vom Pech verfolgt wird und diesen Auftrag auch nur widerwillig angenommen hat, obwohl es so einfach klang. Am Ende sind gleich mehrere Opfer zu beklagen, der Tatort ein heilloses Chaos, den die Ermittler beim besten Willen nicht überblicken können, denn was sich an Bord zugetragen hat, ist auch jenseits aller Vorstellungskraft.

Kotaro Isaka hat Jura studiert und als Systemingenieur gearbeitet, bevor er sich dem Schreiben zugewandt hat. Inzwischen gilt er als einer der besten Krimiautoren seiner japanischen Heimat und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. „Bullet Train“ erschien dort bereits 2010, jetzt erstmals in deutscher Übersetzung. Auch wenn hier eine ganze Horde von Mördern in schlechter Absicht unterwegs ist, ist der Roman keineswegs ein klassischer Thriller, denn das, was mich tatsächlich am meisten begeistern konnte, waren der feinsinnige Witz und die pointierten Dialoge, die mich immer wieder schmunzeln ließen.

Der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen wird im Englischen auch als „Bullet Train“ bezeichnet, was dem Titel eine doppeldeutige Bezeichnung verleiht, denn natürlich werden gleich mehrere Kugeln abgefeuert, wie man sich bei derart vielen Mördern unter den Reisenden vorstellen kann. Sie alle haben eine Mission, deren Erfüllung zunächst nicht weiter kompliziert scheint, durch die Anwesenheit der Kollegen jedoch erheblich gestört wird.

Der schwarze Humor, mit dem der Autor seine Figuren liebevoll begleitet und sie so gar nicht dem gängigen Bild eines abgebrühten Auftragskillers entsprechen lässt, ist zweifelsohne das Highlight des Romans. Die Verkettung unglücklicher Fügungen lässt die Handlung bisweilen fast absurd wirken, Kotaro Isaka fängt sie jedoch immer wieder ein und schafft es weit mehr als einmal, den Leser mit einer neuen Wendung zu überraschen.

In der Literatur findet man nicht leicht Vergleichbares, am ehesten hat mich die Handlung an einen Film von Quentin Tarantino oder der Coen Brüder erinnert, weshalb die angekündigte Verfilmung auch nicht weiter verwundert und sicherlich bei der Besetzung mit Brad Pitt, Sandra Bullock und Lady Gaga ebenfalls überzeugen dürfte.

Veröffentlicht am 09.12.2021

Arianna Farinelli - Aufbrüche

Aufbrüche
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Bruna, Professorin für Globalisation Studies in New York, ist erschüttert, als sie mit ansehen muss, wie ihre amerikanische Wahlheimat 2016 ins Chaos taumelt und der unsäglich und ungenannte Immobilienhai ...

Bruna, Professorin für Globalisation Studies in New York, ist erschüttert, als sie mit ansehen muss, wie ihre amerikanische Wahlheimat 2016 ins Chaos taumelt und der unsäglich und ungenannte Immobilienhai zum Präsident gewählt wird. Sie kennt als Expertin die Strukturen von Hass, weiß, wie Menschen reagieren, wenn sie unzufrieden sind mit ihren Regierungen und welche Folgen das haben kann, droht das nun auch den USA? Doch nicht nur die politische Lage ist prekär, auch ihr Familienleben liegt in Trümmern: seit einigen Wochen schon hat sie eine Affäre mit Yunus, einem ihrer Studenten. Nun steht die Polizei in ihrem Büro und fragt nach dessen Verbleib, denn es scheint, als hätte sich der junge Mann radikalisiert und dem IS angeschlossen. Dass sie von ihm schwanger ist, macht die Lage mit ihrem erzkonservativen Mann und den beiden Kindern nicht leichter.

Arianna Farinelli ist selbst, genauso wie ihre Protagonistin, italienischer Abstammung und lehrt Politikwissenschaften in New York. „Aufbrüche“ ist ihr vielbeachtetes Debüt, das im Originaltitel „Gotico Americano“ auf ein Bild von Grant Wood anspielt („American Gothic“), einem Nationalheiligtum, das den amerikanischen Pioniergeist und das ländliche Leben preist. Genau jene ländliche Bevölkerung war es auch, die mit ihrem rückwärtsgewandten Blick, den das Bild illustriert, den politischen Erdrutsch verursachte. Die politische Ebene wird durch jene der Familie gespiegelt, in der die beiden Ehepartner ebenfalls auseinandertriften: Tom aus konservativer Familie mit ebensolchen Ansichten, der den progressiven Ansichten seiner Frau kaum mehr folgen kann.

Der Roman wird in vielen Rückblenden erzählt und kommt immer wieder in die Gegenwart, die sich bereits in einem desaströsen Zustand befindet, zurück. Dabei wechseln sich die großen Blickwinkel der weltpolitischen Lage und ihrer wissenschaftlichen Analyse zunächst mit den Disruptionen im Nukleus der Familie ab. Besonders interessant hier, wie differenziert es der Autorin gelingt, die Situation der italienischen Einwanderer, die je nach Einwanderungszeitpunkt gänzlich unterschiedlich in die amerikanische Gesellschaft aufgenommen wurden, mit zu integrieren. Bruna bleibt formal genauso ein „Alien“ wie sie sich Toms Familie immer fremd fühlt.

Einen Nebenkriegsschauplatz ist die Situation ihres Sohnes, der schon als kleines Kind lieber mit Puppen spielt und Kleider tragen will als den gesellschaftlichen Vorstellungen eines Jungen zu entsprechen und mit den anderen wilde Spiele zu verfolgen. Mario benötigt zunächst keine Bezeichnung für das, was er ist oder wie er sich fühlt, nur wäre er lieber eigentlich Maria als Mario - dass er damit für seinen Vater und dessen Familie Enttäuschung darstellt, ist keine Frage. Der Großvater hat auch keine Hemmungen, den noch kleinen Jungen übel abzuqualifizieren. Mit einer unsichtbaren Freundin und seiner cleveren und mental starken Schwester jedoch kann er seinen Platz finden.

Ein vielschichtiger Roman, der gleich mehrere große Themen anreißt, alles zentriert um eine interessante und ebenso vielschichtige Protagonistin, deren Leben an einem Scheidepunkt steht, bei dem nicht klar ist, welcher Weg für sie am Ende wartet.