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Veröffentlicht am 14.12.2021

Über die Entwertung weiblicher Arbeit

Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung
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„Die Verwandlung der Frauen in eine heimliche Dienerklasse war eine ökonomische Leistung ersten Ranges. Diener für niedere Arbeiten konnte sich nur eine Minderheit der vorindustriellen Gesellschaft leisten; ...

„Die Verwandlung der Frauen in eine heimliche Dienerklasse war eine ökonomische Leistung ersten Ranges. Diener für niedere Arbeiten konnte sich nur eine Minderheit der vorindustriellen Gesellschaft leisten; im Zuge der Demokratisierung steht heute fast dem gesamten männlichen Bevölkerungsteil eine Ehefrau als Dienerin zur Verfügung.“ 81%

Mit diesem Zitat vom Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith von 1974 schließt das Buch „Die Erfindung der Hausfrau - Geschichte einer Entwertung“ von Evke Rulffes.
Was wir bis heute noch als wirkmächtig und schwer überwindbar empfinden, ist eine vergleichsweise junge Erfindung. Mit dem Aufkommen des Bürgertums und einer größeren Mittelschicht im 19. Jahrhundert bedurfte es einer Dienerklasse, die sich selbst nicht als solche empfand und kostenlos arbeitete: Die Ehefrau und Mutter in ihrer Rolle als Hausfrau. Eine Rolle, die mit Haut und Haaren auszufüllen war, denn sie appelliert an das Gewissen der Frauen und verlangt die absolute Identifikation und Selbstaufgabe. Im Gegenzug steht der Erfüllung dieser Rolle allerdings weder eine Bezahlung noch die geringste Anerkennung zu.

Es wird erschreckend deutlich, wie perfide und nachhaltig dieses Konzept angelegt ist. Ja, man hat das alles schon mal irgendwo gehört. Und, hey, wir Frauen sind doch inzwischen alle emanzipiert und stehen da drüber. Oder?
Wie sehr uns die Erfindung der Hausfrau bis heute nachhängt, wird spätestens dann deutlich, wenn eine Frau zum ersten Mal Mutter wird. Oder wenn sie auf ihrem beruflichen Weg ausgebremst und schlechter bezahlt wird. All diese Phänomene hängen immer auch damit zusammen, dass die Arbeit von Frauen entwertet und auf die selbstlose Hausfrauenrolle uminterpretiert wurde.

Evke Rulffes Buch basiert auf ihrer wissenschaftlichen Arbeit zur Hausväterliteratur bzw. besonders zu dem Werk „Die Hausmutter“ von Christian Friedrich Germershausen, das um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert in vielen Auflagen erschienen ist. Vor der Erfindung der Hausfrau war die Rolle der Frau noch eine andere. Natürlich war auch damals nicht alles besser; das Gesinde wurde schlecht bezahlt, man hatte viel und körperlich anstrengende Arbeit und darüber hinaus repräsentative Aufgaben. Auch ist eine Rückkehr zu damaligen Verhältnissen von der Autorin nicht gewünscht - sie macht mit der Analyse der damaligen Verhältnisse und der Rolle der Frau aber deutlich, wann und wie es zur Erfindung der Hausfrau kam und dass damit eine Entwertung der weiblichen Arbeit einherging, die bis heute anhält.

Auch wenn „Die Erfindung der Hausfrau“ den Fokus in weiten Teilen auf die Analyse „Der Hausmutter“ legt, ist dieses Buch sehr augenöffnend (und erschreckend) in Bezug auf die Emanzipationsgeschichte und auch auf die Rolle moderner Frauen. Die Lektüre ist aber nicht nur aufschlussreich, sondern auch überaus unterhaltend. Ich kann dieses Buch allen Frauen und Männern nahelegen, die sich für gesellschaftliche Zusammenhänge interessieren.

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Veröffentlicht am 27.11.2021

Schenken in seinem eigentlichen Sinne

Selber machen statt kaufen – Geschenke
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„Während Geschenke doch eigentlich von Herzen kommen und eine ganz besondere persönliche Freude bereiten sollen, ist die Realität häufig eine andere: Dank Massenkonsum und allgegenwärtiger Werbung ist ...

„Während Geschenke doch eigentlich von Herzen kommen und eine ganz besondere persönliche Freude bereiten sollen, ist die Realität häufig eine andere: Dank Massenkonsum und allgegenwärtiger Werbung ist Schenken nicht selten zu einer Formalität oder zu einer Pflichtaufgabe geworden, die sich mit Geld erledigen lässt. ‚Wert‘ wird mit ‚Preis‘ verwechselt, und Schenken bedeutet dann nur noch, etwas für andere zu kaufen - oder gar diesen Schritt noch der beschenkten Person zu übertragen, indem man Geld oder einen Einkaufsgutschein überreicht.“ (7)

So macht Schenken dann auch keinen Spaß mehr und wird zu einer stressigen Aufgabe. Aber es geht auch anders! Indem man sich kleine individuelle Geschenke überlegt und sie selbst macht zum Beispiel.

In diesem kleinen, aber vor Ideen nur so überquellenden Buch „Geschenke selber machen statt kaufen“ von smarticular findet man viele Anleitungen für selbstgemachte Geschenke. Die Themenvielfalt ist groß: So gibt es Anleitungen für Geschenke aus der Küche, für selbstgemachte (Natur-) Kosmetik, kleine Handarbeiten, und auch für Basteleien mit Kindern. Selbst an die umweltfreundliche und selbstgebastelte Verpackung wird gedacht.

Das Buch ist auch wunderbar gelayoutet und macht einfach Freude beim Durchblättern. Man hat gleich ganz viel Inspiration und Lust zu starten.

Es lohnt natürlich auch immer ein Besuch der smarticular.net Website - auch hier finden sich unendlich viele Tipps für ein umweltfreundliches Leben und Anleitungen für Selbstmacher. Dieses Buch selbst ist übrigens auch ein tolles Weihnachtsgeschenk, finde ich.

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Veröffentlicht am 01.10.2021

Öffnet die Augen und weitet den Blick

FRAUEN LITERATUR
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„Nein, wir sind nicht darüber hinaus, auf diese Dinge achten zu müssen. Es wird gerade erst interessant. Denn es sind andere Erfahrungen, andere Perspektiven, die hier erzählt werden, neue Geschichten, ...

„Nein, wir sind nicht darüber hinaus, auf diese Dinge achten zu müssen. Es wird gerade erst interessant. Denn es sind andere Erfahrungen, andere Perspektiven, die hier erzählt werden, neue Geschichten, die ich nach dem männerdominierten Lesen der letzten Jahrzehnte nicht nur als Abwechslung und Bereicherung empfinde, sondern geradezu als Offenbarung.“ (25%)

Gerade in letzter Zeit liest man in den Zeitungen häufiger, dass unter den Nominierungen für einen Literaturpreis dieses Mal außergewöhnlich viele Frauen dabei seien. Es scheint sich etwas zu bewegen in der Literaturwelt! Doch ist die journalistische Berichterstattung darüber vielleicht noch mutmachend, so muss man nur zu den Leserkommentaren weiterscrollen. Dort wird man sofort fündig; meist ist schon der erste Kommentar ein empörter Aufschrei, dass es doch bei einem Literaturpreis bitte nicht ums Geschlecht der Autorin gehen dürfe, sondern um die Qualität des Geschriebenen.

Nicole Seifert greift unter anderem diesen vermeintlichen Qualitätsanspruch in ihrem Buch FRAUEN LITERATUR auf. Natürlich sollte das Geschlecht der Autorin bei der Qualitätsbewertung keine Rolle spielen. Tut es aber. Und es wird gerade den AutorINNEN zum Nachteil in der Bewertung. Denn Literatur von Frauen wurde seit jeher systematisch unterdrückt und abgewertet. Die Bedingungen, unter denen Frauen schrieben und schreiben, waren und sind schwierig. Ihre Werke wurden und werden deutlich seltener kanonisiert. Die Rezeption ihrer Werke findet nicht nur seltener statt, sondern ist häufig auch trivialisierend oder sogar diskriminierend.

Misogynie ist noch lange nicht aus unserer Gesellschaft verschwunden. Sie wird nur nicht immer auf den ersten Blick erkannt. Und sie versteckt sich inzwischen sogar unter dem Deckmäntelchen, dass Frauen doch heute alle Türen offen stünden. Wenn sie also scheitern, dann ja wohl auf Grund mangelnder Qualität ihrer Arbeit.

Nein. Der Fehler liegt im System. Unsere Köpfe sind noch lange nicht frei von Geschlechterklischees.

Nicole Seifert führt unter anderem Studien als Beispiele an, die belegen, dass Literatur von Autorinnen deutlich besser in der Bewertung einer Jury abschneidet, wenn das Geschlecht der Autor
innen nicht bekannt ist.

Sie zeigt auf, wie vom Schreibprozess, über das Verlegen bis hin zur Rezeption die Werke von Autorinnen benachteiligt werden. Sie geht darüber hinaus auf die Literaturgeschichte, die geschichtlichen Veränderungen und die männlich dominierte Kanonisierung ein. So sind viele literarische Werke aus der Feder von Frauen in Vergessenheit geraten und werden selten neu aufgelegt.

Fundiert und umfassend deckt Seifert in ihrem Buch auf, wie es um FRAUEN LITERATUR stand und steht. Nach der Lektüre ist man nicht aufgeklärter, sondern hat auch eine lange Leseliste „abzuarbeiten“, denn das Buch platzt fast vor lauter toller Empfehlungen.

Dieses Buch öffnet die Augen und weitet den Blick. Ich kann es nur weiterempfehlen!

„Und man bekommt einen Blick für unsere völlig schiefen Vorstellungen von Geschlechternormen, an die wir aber derart gewöhnt sind, dass wir sie für richtig und wichtig, für normal und unveränderbar halten.“ (9%)


*Zum Beispiel hier: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-04/preis-der-leipziger-buchmesse-nominierungen-belletristik-frauen

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Veröffentlicht am 29.09.2021

Hirschpark

Die letzte Tochter von Versailles
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„Wer sind Sie?“
„Veronique Roux.“
„Wer ist der Vater Ihres Kindes?“
„Der König von Frankreich.“

Veronique ist dreizehn Jahre jung, als sie einem königlichen Kundschafter durch ihre Schönheit auffällt ...

„Wer sind Sie?“
„Veronique Roux.“
„Wer ist der Vater Ihres Kindes?“
„Der König von Frankreich.“

Veronique ist dreizehn Jahre jung, als sie einem königlichen Kundschafter durch ihre Schönheit auffällt und mit in den „Hirschpark“ genommen wird. Sie selbst weiß nicht recht, welches Schicksal ihr blüht und welche Aufgabe sie hier erfüllen soll. Sie weiß nur, dass ihre lieblose Mutter sich von diesem Arrangement mit dem Königshaus eine finanzielle Unterstützung erhofft, die die verarmte Familie dringend nötig hat.

Wie sich herausstellt, ist der Hirschpark eine Art Privatbordell von Louis XV, in dem seine Mätresse Madame de Pompadour und der königliche Diener junge Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen unterbringen, um sie für den König hübsch, sauber und gefällig zu machen.

Veroniques Zeit in der Gunst des Königs vergeht, als sie schwanger wird. Man nimmt ihr das kleine Mädchen, das sie zur Welt bringt, weg. Für Veronique und auch für ihr Kind sind bereits Arrangements getroffen worden, in denen beide verhältnismäßig gut über die Runden kommen können.

Wer bereits Romane von Eva Stachniak kennt, weiß, dass man sie kaum noch aus der Hand legen kann. Die Autorin versteht es, Geschichte lebendig und erlebbar zu machen.
„The Deer Park“ - wie der Roman im Original viel treffender heißt - hat mir von all ihren Büchern sogar am besten gefallen. Wieder spielt die Autorin mit Perspektivwechseln und macht es so möglich, dass man als Leser die Geschichte aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln wahrnimmt. Vom armen Mädchen, über den Diener des Königs bis hin zum König selbst.

Auch der Bruch in der Geschichte wird in diesem Roman eindringlich spürbar.
Während Louis XV der letzte regierende König im Ancien Régime ist, scheint er politische und gesellschaftliche Veränderungen kaum wahrzunehmen, sondern nur zutiefst gelangweilt und von seinen höfisch-repräsentativen Pflichten „gestresst“ zu sein.

Sein Thronfolger und Enkel Louis XVI und seine Frau Marie-Antoinette regieren in einer ganz anderen Zeit; die Französische Revolution naht. Ihn lernen wir schon als Kind kennen, wenn der zweite Teil des Romans beginnt und Marie-Louises Geschichte erzählt wird. Marie-Louise ist Veroniques Tochter und ihre Geschichte wird eine ganz andere sein.

Kaum eine Autorin versteht sich so gut darauf, die unterschiedlichsten historischen Begebenheiten und Themen zu verknüpfen und dabei gleichzeitig psychologisch spannende Romanfiguren zu schaffen.

„Die letzte Tochter von Versailles“ ist ein herausragendes Buch. Spannend und intelligent werden hier Teile der Geschichte aufgedeckt, über die man sonst kaum liest.

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Veröffentlicht am 17.09.2021

Über die Kindheit mit einer alkoholkranken Mutter

Shuggie Bain
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Durch die Spanplatte konnte er dem glockenkurvenartigen Absturz ihrer Laune lauschen. Er fragte sich, wie lange es noch dauerte, bis sie wegdämmerte und er sich ausruhen konnte. (353)

Glasgow in den 80er ...

Durch die Spanplatte konnte er dem glockenkurvenartigen Absturz ihrer Laune lauschen. Er fragte sich, wie lange es noch dauerte, bis sie wegdämmerte und er sich ausruhen konnte. (353)

Glasgow in den 80er Jahren - hier lebt der kleine Shuggie mit seiner Mutter Agnes und seinen Geschwistern. Die Familie ist arm, der Vater gewalttätig, die Mutter alkoholabhängig. Doch der kleine Shuggie liebt seine Mama über alles und beschließt, immer für sie da zu sein. Während Agnes’ Alkoholsucht immer mehr Raum einnimmt, bis sie alles und jeden erstickt, muss Shuggie auch noch mit seinen eigenen Problemen fertig werden. Denn er wird von den anderen gehänselt und hat in der Umgebung keine Möglichkeit seine Persönlichkeit zu entfalten.

So grausam und elend die Welt sich hier auch darstellt - „Shuggie Bain“ ist ein wundervolles und sehr zartes Buch über die Liebe eines Sohnes zu seiner suchtkranken Mutter. Unter diesen Umständen muss der kleine Shuggie viel zu früh erwachsen werden und Verantwortung übernehmen.

Douglas Stuart schafft es durch Perspektivwechsel, die dennoch alle dem Blick der Hauptfigur untergeordnet sind, uns Shuggies Leben und seinen Kampf gegen den Alkoholismus zu erzählen. Shuggies eigene Wünsche und Probleme verlieren sich vollkommen.

Armut, Elend, Gewalt und die Suchterkrankung werden in diesem Roman sehr intelligent analysiert. Und nicht zuletzt ist die Mutter-Kind-Beziehung, die durch diese Umstände in Schieflage gerät, herausragend dargestellt.

Am Ende muss auch Shuggie erkennen, dass er seiner Mutter nicht helfen kann. Und dass es Zeit für ihn wird sich zu lösen und sein eigenes Leben zu leben.

Sie wird nicht wieder gesund. Wenn die Zeit reif ist, musst du gehen. Das einzige, was du tun kannst, ist dich selbst zu retten. (410)

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