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Veröffentlicht am 07.06.2017

Hesekiel 18,20

Glaube Liebe Tod (Ein Martin-Bauer-Krimi 1)
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P.S. Das findet der interessierte Leser in der Bibel

„Fassungslos sah Keunert, wie der Polizeipfarrer in die Tiefe stürzte, wie er mit den Armen ruderte und, nach einem viel zu langen Fall, aufrecht ...

P.S. Das findet der interessierte Leser in der Bibel

„Fassungslos sah Keunert, wie der Polizeipfarrer in die Tiefe stürzte, wie er mit den Armen ruderte und, nach einem viel zu langen Fall, aufrecht und mit den Füßen voran die dunkle Oberfläche des Flusses zum Platzen brachte.
Keunert keuchte. „So ein Arschloch!“
Dann sprang er hinterher.“

Eigentlich haben Polizeipfarrer Martin Bauer und Polizeimeister Walter Keunert einiges gemeinsam – beide sind verheiratet, haben ein 15-jähriges Kind. Doch gegen Keunert wird ermittelt wegen Bestechlichkeit; er will von der Rheinbrücke aus Selbstmord begehen. Und deshalb provoziert ihn Pfarrer Bauer, wird selbst zum Hilfsbedürftigen für Keunert und dessen langjährige Polizei-Instinkte – er springt von der Brücke, um sich retten zu lassen von Keunert. Bald danach wird dessen Leiche gefunden. Und Bauer fühlt sich schuldig – schuldig, weil er Keunert für zu wütend und zu ängstlich für einen weiteren Selbstmordversuch hielt, und in der Schuld stehend gegenüber dessen Sohn in all dessen Verzweiflung.

Mir gefiel das Ermittlerduo des Buches aus Polizeipfarrer, im Einsatz für Täter, Opfer, Ermittler, und Polizistin Verena Dorn. Das ist zum einen schlicht mal eine andere Idee und birgt zum anderen verschiedene realistische Chancen für die Handlung: der Polizeipfarrer hat zwar gewisse Möglichkeiten innerhalb des „Systems“, unterliegt aber weniger den Beschränkungen des Polizeiapparates. Außerdem nutzen die beiden Autoren sehr geschickt die Zwickmühlen, in denen sich der Pfarrer flugs befindet. Nur ein Beispiel: beichtet ihm einer der Täter die Tatumstände, bindet ihn das Beichtgeheimnis, kann er dadurch aber in einem speziellen Fall die Hinterbliebenden nicht umfassend unterstützen. Themen wie Schuld und Verantwortung werden im Buch ein einer angenehm weiten Perspektive im Vergleich zum Genre diskutiert, teils umrahmt von einigen weiteren theologischen Gedankenfäden und Bibelzitaten zum Thema. Ich denke jedoch, auch nicht-Christen dürften sich von den ethischen Erörterungen nicht überflutet fühlen. Den Kontext empfand ich also als durchaus komplex, hingegen bleibt die Sprache eher einfach. Nicht unüblich für einen Krimi, jedoch fand ich gerade zu Beginn einige Sätze etwas „über“ vor Betroffenheit: „Die Küchenuhr aus verblichenem grünen Plastik zählte die Sekunden. Das tat sie schon, solange er denken konnte.“
„In den Augen des Jungen sah Bauer alles zerbrechen, was von seiner Kindheit noch übrig war.“
„Sie suchte die längst verlorene Nähe zu ihrem Sohn und opferte dafür den Vater.“
Hier hätte schlicht die jeweils erste Hälfte gereicht – und Vertrauen in die Fähigkeit des Lesers, den Rest des Bildes herzustellen. Ähnliches tun Sätze wie „Kapselkaffee mied er nicht erst seit Ninas Appellen gegen diese Umweltsauerei.“ – ja, stimmt schon – aber nicht, wenn man gleichzeitig fröhlich mit dem Auto auch gelegentlich rein als Spritztour fährt. Etwas weniger wäre also mehr gewesen – doch die Basis passt für solide 4 von 5 Sternen.

Veröffentlicht am 28.05.2017

"Der Zerstörer der Welten" oder: ein cooler Horror-Film in Buchform

Die Brut - Sie sind da
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"Da war es. Ein schwarzer Faden.
Aus dem Faden wurde ein Band.
Ein Fluss.
Eine Flut.“ S. 242
Das Buch hat richtig Spaß gemacht – also, bitte richtig verstehen, die Sorte Spaß, bei der man sonst in einem ...

"Da war es. Ein schwarzer Faden.
Aus dem Faden wurde ein Band.
Ein Fluss.
Eine Flut.“ S. 242
Das Buch hat richtig Spaß gemacht – also, bitte richtig verstehen, die Sorte Spaß, bei der man sonst in einem Kino oder sonstigem Sessel vor Bildschirm oder Leinwand sitzt, Popcorn und Limo danben hat. Irgendwann sitzt man immer starrer, die Hand mit dem Popcorn bleibt in der Luft. Daheim zieht man die Decke hoch, faltet sich zusammen.

In verschiedenen Regionen der Welt geht Seltsames vor sich. In China explodiert eine Atombombe. Versehentlich? Eine Expeditionsgruppe hat eine unheilvolle Begegnung und verlässt den Dschungel nicht vollzählig. Nahe der Nazca-Linien wird ein seltsames Objekt gefunden. Langsam, aber unaufhaltsam wird der Leser hineingezogen, steigt die Spannung. Und langsam kommt es näher, es…„Du sagst, sie sind wie kleine Maschinen, die nur eine bestimmte Tätigkeit ausüben können. Richtig?“ S. 272

Das ist KEIN Buch für Leser, bei denen das Wort SPINNE nicht auftauchen darf (soviel MUSS man hier spoilern, das IST für einige ein No-Go). Ich bin jetzt kein Fan, habe aber auch keine Panik und fand das Buch daher absolut nicht eklig. Es ist irgendwie eher so geschrieben, dass man sich wie im Film fühlt – so ein Horror-Katastrophen-Weltuntergangs-Dings, Harrison Ford inmitten von Spinnen, Arachnophobia, Independence Day, Outbreak, wenn ganze Regionen abgeriegelt werden sollen und Menschen in Panik sind. Das bekommt keinen Pulitzer-Preis – aber ist sehr unterhaltsam. Da muss man dann auch nicht alles auf die Goldwaage legen – ich konnte das durchaus genießen und habe das Buch verschlungen, auch wenn einiges schon recht dick aufgetragen ist.

Soweit hat Autor Ezekiel Boone alles richtig gemacht (ein Pseudonym – wer’s wissen will: https://www.theglobeandmail.com/arts/books-and-media/summer-reading-an-excerpt-from-ezekiel-boones-new-thriller-the-hatching-and-a-qa-with-the-author/article30818000/)
Was stört? Die deutsche Übersetzung hat z.B. „Obstakel“ in den Text geschrieben – sinnvoller: Hindernis. Das Sprachniveau ist eher durchschnittlich, verlangt bei dem Genre auch nichts anderes – da wirken diese Patzer (nicht viele, doch einige) eher wie mit heißer Nadel gestrickt – das ist Jammern auf recht hohem Niveau, da die Fehler eher selten und „räumlich“ seltsam konzentriert sind (Übersetzergruppe statt des einen genannten?). Vergesst Diskussionen über die Glaubwürdigkeit; was man sich fragen muss, ist, ob man es mag, wenn man eigentlich zwingend den nächsten Band lesen muss, der im August kommt (oder gleich das Original davon lesen sollte, das gibt es schon)…ich werde es tun, gebe aber dafür einen Stern Abzug.

Veröffentlicht am 24.05.2017

Überleben

Die Nachtigall
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Wer (wie ich) in der „alten“ Bundesrepublik in den 70ern und 80ern sozialisiert wurde, tat dies zwingend auch in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. „Damals war es Friedrich“, ...

Wer (wie ich) in der „alten“ Bundesrepublik in den 70ern und 80ern sozialisiert wurde, tat dies zwingend auch in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. „Damals war es Friedrich“, Anne Frank, „Sophies Entscheidung“, „Napola“. Ein Einblick in andere Länder zu der Zeit? Aus der genannten Sicht gab es dort Besatzung und Widerstand, Kollaboration dabei eher ein „blinder Fleck“. „Die Nachtigall“ bringt hier diverses an die Oberfläche mit Verortung mitten im Vichy-Régime: von Vertrauen in bisherige Politiker und Ordnungsorgane über Anpassung, Widerstand und Kollaboration werden alle Reaktion auf die Situation umfasst. Was Krieg, Bezugsscheine, Schlangestehen, Hunger usw. bedeuten – die meisten von uns können es sich doch nicht mehr vorstellen und im Buch wird das alles sehr plastisch, eine große Leistung der Autorin, und bewegend geschrieben.

Dass die Umsetzung der Maßnahmen der Besatzer dabei eine derart weitgehende Teilhabe auch der französischen Polizei mit sich zog, ist zwar eigentlich sachlich zwingend, war mir aber bisher nicht bewusst – beispielhaft wird der Dorfpolizist fett, während die anderen hungern. Generell ist die Darstellung differenziert; da gibt es keine Besatzer als Witzfiguren wie in „Ein Käfig voller Helden/Hogan’s Heroes“ oder dämonisiert wie bei „Indiana Jones“, sondern genauso komplexe Persönlichkeiten wie bei den Besetzten. Der Einblick in das damalige Frankreich gelingt bedrückend und beeindruckte mich.

Die beiden Hauptpersonen sind zwei Schwestern, Vianne und Isabelle – das Buch wechselt zwischen beiden über den Verlauf des Krieges zur Perspektive von einer von ihnen als alter Frau. Während Vianne früh ihre erste Liebe heiratete, Mutter ist und zu Beginn Probleme ausblendet, dabei mit ihrer übergroßen Bescheidenheit und Duldsamkeit jedoch (eher) nicht unglaubwürdig wirkt – das dürfte immerhin dem damaligen Frauenbild entsprechen - nervte mich die jüngere Schwester Isabelle – kindisch, rücksichtslos, unvorsichtig, dumm, zickig, verzogen. Ja, sie soll die „jugendliche Rebellin“ darstellen, doch Nazi-Besatzer ohne Sinn und Verstand unbedingt provozieren zu wollen, wirkt gewollt und schlicht dümmlich -unglaubwürdig, vor allem, da sie damit Schwester und Nichte gefährdet, bei denen sie wohnt. Insgesamt bleibt sie mit ihrer kompletten Wandlung im Roman für mich die schwächere Figur, zu sehr geläutert „allein durch die Liebe“ zum Ende. Etwas weniger verzogene Göre mit Vernachlässigungskomplex zu Beginn hätte gut getan. Immerhin fehlen bei beiden peinliche Schmachtszenen (wirklich fast).

US-typisch ist leider die „Macke“, bei der Annahme eines rein französischsprachigen Umfelds gerne Fetzen einzustreuen wie „oui Madame“, „merci“ – das wirkt lächerlich, ebenso wie das permanente Bestellen von „Café au lait“ und Espresso, während gleichzeitig betont wird, dass es weder Kaffee noch Milch gebe, wie eine Puppen-Tee-Party mit der Dreijährigen, auch wenn die Ersatzprodukte genannt werden. Und natürlich wird der letzte Lippenstift gehütet – es muss ja glaubhaft für Frankreich sein. Bis auf vielleicht das letzte Zehntel meidet die Autorin weitgehend Kitsch, dann wurde es doch etwas viel Pathos und sehr versöhnliches „Gruppenkuscheln“ (ja, die Tränendrüse wirkt bei mir – leider, ich hätte ihr doch lieber nachgegeben, wenn die Autorin dem Stoff durchgängig vertraut hätte).

Ein kleineres Manko ebenso: es bleiben einige lose Handlungsfäden in der Luft flattern wie Viannes Gedenkbänder. Isabelle versteckt die zwei Kinder der jüdischen Nachbarn im Versteck in ihrem Zimmer – was wird später mit ihnen? Das Haus von Viannes Freundin und Nachbarin Rachel steht jetzt leer – nutzt das wirklich niemand, bei ihr selbst sind ja Besatzer wegen der günstigen Lage einquartiert. Die Buchhandlung wurde gestürmt und missliebige Bücher wurden geholt – die Druckerei selbst allerdings nicht? Das Ärgerliche: viele dieser „losen Enden“ wären sehr einfach entwirrbar gewesen. Rachels Haus wird auch besetzt, die Kinder der Nachbarn in Paris fliehen mit der Mutter oder werden versteckt oder später entdeckt, …

Insgesamt bleibt jedoch ein positiver Eindruck zurück (gute vier Sterne – wer dem Genre Frauenroman mehr zuneigt als ich, wird es schlicht lieben). Die Erzählung fand ich als Hörbuch sehr gut geeignet.

Veröffentlicht am 14.05.2017

Wenn die neue Zeit auf den Trümmern der Vergangenheit entstehen soll

Der Trümmermörder
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Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg, es ist der Hungerwinter 1946/4. Eine tote Frau wird in den Trümmern gefunden, nackt, mit Strangulationsspuren. Polizei-Oberinspektor Frank Stave, er wird während der ...

Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg, es ist der Hungerwinter 1946/4. Eine tote Frau wird in den Trümmern gefunden, nackt, mit Strangulationsspuren. Polizei-Oberinspektor Frank Stave, er wird während der Ermittlungen 43 Jahre alt werden, wird mit der Aufklärung betraut. „Die Briten haben nach dem Einmarsch im Mai 1945 Hunderte Polizisten entlassen – jeden, der bei der Gestapo war, der hohe Funktionen hatte, der irgendwie politisch aufgefallen war. Leute wie Stave, die im alten Regime als „links“ galten und die man auf unbedeutenden Posten kaltgestellt hatte, sind geblieben.“ S. 11 Ihm zur Seite gestellt werden ein Kollege von der Sitte, Polizeiinspektor Lothar Maschke - schließlich war die Frau unbekleidet, sowie der britische Verbindungsoffizier Lieutenant James C. MacDonald - Hamburg ist britisch besetzte Zone.

Die Stadt ist von Flüchtlingen überschwemmt, displaced persons (DP) aus KZs, Flüchtlingen aus den früheren Ostgebieten, Kriegsheimkehrer, Versprengte, Ausgebombte, das erschwert die Suche nach der Identität des Opfers. Auch Stave lebt nun in einem Nachbarhaus, seit seine frühere Wohnung in der Ahrensburger Straße 91 zusammen mit seiner Frau den Bomben zum Opfer fiel; man kann die Häuser übrigens auf Google Maps sehen, die Beschreibung der Häuser entspricht der im Buch und die Lücke durch die Bomben besteht bis heute: https://www.google.de/maps/@53.5796157,10.1002102,3a,75y,128.02h,99.88t/data=!3m6!1e1!3m4!1sQ5RUCDVYeBsO3PGteJw86Q!2e0!7i13312!8i6656!6m1!1e1

Bald wird eine zweite Leiche gefunden, ein älterer Mann, auch er nackt, auch er stranguliert. Ein Serienmörder, ein Verrückter, ein mysteriöser Zusammenhang zwischen den immer noch namenlosen Opfern, zufällige Gemeinsamkeiten? Die Ermittlungen treten auf der Stelle, es gibt zunehmend Druck aus der Öffentlichkeit – regelmäßige Berichterstattung inklusive für Stave beim Leiter der Kripo, Carl „Cuddel“ Breuer https://de.wikipedia.org/wiki/CarlBreuer sowie beim Bürgermeister Max Brauer https://de.wikipedia.org/wiki/MaxBrauer, der klarmacht: „Ich aber werde nicht tatenlos zusehen, wie ein einziger verrückter Mörder eine Lage schafft, in der sich unsere Bürger nach den Nazis zurücksehnen.“ S. 222 Doch warum hat Stave das Gefühl, dass die Frau, Anna von Veckinhausen, die das zweite Opfer bei der Polizei gemeldet hat, etwas verschweigt? Er ist zunehmend fasziniert von seiner Zeugin und hat gleichzeitig Schuldgefühle, knapp 3 Jahre nach dem Tod seiner Frau und während er kein Lebenszeichen von seinem Sohn Karl hat, der sich mit 17 noch im April 1945 freiwillig gemeldet hatte. Dann wird der Ermittler wieder zu einem Tatort gerufen, ein Mann verschwindet und hinterlässt eine geheimnisvolle Botschaft und die Ermittlungsakten sind nirgends zu finden.

Stromsperren, Bezugsmarken, Hamsterfahrten ins Umland, Schwarzmarkt, Nissenhütten, Ausgangssperre, Brennhexen – all das kommt im Roman vor und bleibt dennoch, von der Wohnsituation und der Brennhexe abgesehen, für mich seltsam blutleer. Die Wohnsituation schildert Autor Rademacher plastischer, mit der Ausbombung, dem Ersatz von defektem aus kaputten Häusern, den vereisten Scheiben, den fensterlosen Wohnungen in früheren Hochbunkern, den Nissenhütten aus dünnem Wellblech, in denen man mittig am Ofen stehend von vorne glüht und hinten eiskalt bleibt. Ähnlich beschreibt er die mühselige Nahrungszubereitung auf der Brennhexe, der Rest bleibt für mich – leider – Kulisse, einzig Staves Albträume sind mit-erlebbar. Der Autor hat, wie man seinem Nachwort entnehmen kann, recherchiert, selbst der „Trümmermörder“ beruht auf einem historischen, wenn auch nie aufgeklärten Vorbild.

Der Vergleich mit dem erst im letzten Jahr veröffentlichten „Der Angstmann“ von Frank Goldammer drängt sich auf: Goldammer lässt den Leser den Krieg spüren, den Hunger, das Misstrauen, die Bombennacht, die Besatzung. Der historische Dresden-Krimi hat hier vielleicht den Vorteil, zeitlich einen größeren Zeitraum abzubilden – das ist es jedoch nicht. In Hamburg lese ich „..bis ihn draußen auf der Straße der Wind trifft wie eine eisige Faust.“ S. 274 oder „…trifft ihn der Wind wie ein Faustschlag.“ S. 99, das ist erstens eine Wiederholung über diese beiden Stellen hinaus und lässt mich zweitens den Wind nicht miterleben – Goldammer schafft das. Dafür ist bei Goldammer weniger nachvollziehbar, wie sich sein Max Heller in der NS-Zeit behaupten konnte, „seine Morde“ sind blutrünstiger. Ich kenne Dresden und Hamburg von sehr regelmäßigen Besuchen – beide Autoren nehmen in seltener Übereinkunft Abstand von Dialekt selbst bei Nebenfiguren. Da s-tolpert niemand über den s-pitzen S-tein, da gibt es kein „nu nu freiiilisch“, das ist verständlich (nachvollziehbar UND im Wortsinn), aber irgendwie schade. Straßennamen zählen beide auf – während Rademacher Gebäude beschreibt, fühle ich mich bei Goldammer in den Beschreibungen von Straßenzügen eher vor Ort (dafür sind es dann teils wieder zu viele Straßennamen). Ich mag Stave irgendwie lieber – doch sehe ich insgesamt nur 4 Sterne für einen durchschnittlich guten Krimi (gegenüber 5 für den Angstmann, den ich verschlungen hatte). Dennoch will ich dem zweiten Band eine Chance geben, weil mich das Thema der Nachkriegszeit dann doch ausreichend interessiert.

Wer eines der Bücher verschenken möchte: man merkt bei der Lektüre doch eindeutig (so man alt genug dafür ist), wo man aufgewachsen ist, als "Wessi" oder "Ossi", welche Erzählungen in der eigenen Familie weiter getragen wurden - selbst wenn man, wie ich, "dazwischen" steht. Und man merkt auch, wenn die Erinnerungen der eigenen Familie im ländlichen Raume angesiedelt waren, wo die Auswirkungen durch Selbstversorgung und "mehr Fläche pro Mensch" milder waren: hier sind Hamburg und Dresden dann doch erschreckend ähnlich.
https://www.lesejury.de/frank-goldammer/hoerbuecher/der-angstmann/9783862318308?tab=reviews&s=2#reviews

Veröffentlicht am 08.05.2017

Beuteschema

Das Grauen in dir
1

„Da lag so viel in dem Blick dieses Jungen. Flehen, betteln, Todesangst. Und all das erregte ihn. Er wusste gar nicht, was am meisten. Dann griff er nach dem Ende des Gürtels.“ S. 74
Doch von vorne: Andrea ...

„Da lag so viel in dem Blick dieses Jungen. Flehen, betteln, Todesangst. Und all das erregte ihn. Er wusste gar nicht, was am meisten. Dann griff er nach dem Ende des Gürtels.“ S. 74
Doch von vorne: Andrea und Gregory Thornton und ihre neunjährige Tochter Julie sind auf dem Weg in den Urlaub, in ein Bed & Breakfast auf der Insel Skye. Kurz vor der Ankunft bekommen sie es noch mit der Polizei zu tun – ein harmloser Rempler mit dem Auto. Polizist Fergus Boyd erkennt Andrea – schließlich ist die gebürtige Deutsche als Profilerin schon mehrfach in der Presse gewesen.

Sei Jahren schon lassen dem schottischen Polizisten Boyd einige ungeklärte Fälle keine Ruhe: zwei Jungen wurden unabhängig voneinander entführt und brutal sexuell missbraucht – ein anderer wurde tot aufgefunden. Weitere Eltern wissen teils nach Jahren immer noch gar nichts vom Verbleib ihrer Teenager-Söhne. Und Andrea hasst Vergewaltiger einfach am meisten von allen Verbrechern. Doch warum sind die Taten so unterschiedlich? Mit Boyd beginnt sie zu ermitteln – sie benötigen dringend ein Profil für die Suche nach einem Täter, denn wie erklärt ihm Andrea so schön: „Wenn man seine Arbeit gut macht, liegt man ungefähr mit drei Vierteln der Annahmen richtig.“ S. 72

Andrea weiß, dass es da eine Ähnlichkeit bei den Taten gibt – nur, an welches Verbrechen wollen die Taten sie erinnern? Erschreckend auch die Situation der Eltern – einige sind zerbrochen an den Geschehnissen – oder haben sich gezwungen, damit abzuschließen. „Andrea war nicht fähig, sich vorzustellen, wie es sich anfühlen musste, sein Kind aufzugeben. Sie maßte sich jedoch kein Urteil darüber an. Um nicht zu zerbrechen, blieb einem irgendwann keine Wahl mehr.“ S. 82 Aber auch das Leben der Überlebenden ist zerstört – sexuelle Übergriffe auf männliche Opfer sind weiterhin ein Tabuthema, das macht Dania Dicken hier deutlich. Und noch wurde der Täter, der bisher stets zu dieser Jahreszeit zuschlug, nicht gefasst…

Besonders bewegt hat mich in diesem achten Band der Reihe der Umgang mit dem Thema Über-Leben mit den Folgen, Stigmatisierung der Opfer und die Konsequenzen – ich fürchtete schon ein Klischee, als es noch eine unerwartete Wendung gab, die mich zum Nachdenken brachte! Wie gewohnt, ist die Ermittlung spannend und vermittelt routiniert Hintergrundwissen zu echt krankem Verhalten. Nicht zu empfehlen für jene, die nicht gut mit Kindern als Opfer umgehen können oder mit sexueller Gewalt in Büchern. Vorbände werden zwar angesprochen – die Lektüre dürfte aber auch ohne möglich sein. Mein Manko – warum nur bekommen Andrea und ihr Umfeld IMMER direkten, also nicht nur beruflichen, Kontakt mit diesen völlig Gestörten? Sie und ihre kleine Familie wirken soooo sympathisch – aber als Nachbarin würde ich sie nach den bisherigen Erfahrungen aller Bücher ebenso wenig haben wollen wie als gute Freundin oder Verwandte, zu potentiell gefährlich und dazu auch reichlich offen mit Auskünften…Den Fall an sich fand ich top. Gute 4 Sterne.