Bei manchen Büchern fragt man sich als Leser warum man sie nicht schon längst gelesen hat – mir ging es mit „The Uncommon Reader“ jedenfalls so! Wie konnte ich es all die Jahre geschafft haben es nicht zu lesen? Eine ähnliche Frage stellt sich die Protagonistin des Kurzromans (oder der „novella“, wie man im Englischen sagt), die keine Geringere ist als Königin Elizabeth II. von England. Allerdings lautet ihre Frage eher: wie konnte ich erst jetzt im hohen Alten mit dem Lesen aus Leidenschaft anfangen?
Gut, der Grund ist einfach: als eine Person des öffentlichen Interesses, ja sogar als Identifikationsfigur eines Landes tut man seine Pflicht und gibt sich nicht so einer dekadenten Passion hin wie dem Lesen eines literarischen Werks, einer Beschäftigung, die scheinbar keinerlei positiven Einfluss auf das Land hat – allerdings auf sein Oberhaupt, wie Elizabeth II. im Laufe der Handlung feststellt.
Es ist ein Fest „Zeuge“ zu sein wie „ER II“ – angezettelt durch die mobile Leihbibliothek im Palasthof und in Begleitung des Küchenhelfers Norman, der von ihr zu einer Art „Lesebeauftragten ihrer Majestät“ befördert wird – zu einer passionierten Leserin wird und den Staatsgeschäften mit immer weniger Disziplin und Nachhaltigkeit nachgeht. Die Königin lernt die Klassiker ihres Landes (Trollope, Brontë, Dickens etc.) kennen und verschlingt den einen oder anderen Liebesroman und sogar richtig „dekadente“ – also „l’art pour l’art“ Literatur von französischen Autoren wie Marcel Proust und Jean Genet – während Schwimmbaderöffnungen in Norfolk oder Verleihungen der Ritterwürde immer weniger Priorität gegenüber dem auserwählten Lesestoff haben.
Ihrem nonchalanten Mann Prinz Philip, dem Duke of Edinburgh (DoE genannt), ringt dies allenfalls ein amüsiertes Augenzwinkern ab, nicht so ihrem neuseeländischen Sekretär Sir Kevin, der um die Erfüllung ihrer royalen Pflichten zunehmend besorgt ist. Auch der Premierminister („Her Majesty“ hat ja schon an die 10 im Amt vorübergehen sehen) ist „not amused“ darüber dass sich die Monarchin lieber über seine Lektüreerlebnisse (und dabei ist er kein großer Leser) als über die Konfliktherde der Welt und die Lage der Nation unterhalten will. Zusammen mit den Sir Kevin machen sie dem Lesebeauftragten ihrer Majestät ein unmoralisches Angebot. Doch eine „ungewöhnliche Leserin“ kann nichts von ihrer wahren Bestimmung abhalten: dem Lesen!
Dieses Buch ist mit einer großen Leichtigkeit und einem genialen Blick für Charakterfeinheiten und Situationskomik verfasst worden. Ich fand es herrlich erfrischend und das obwohl es auch nachdenkliche Momente der Königin gibt, die zunehmend befürchtet „keine Stimme“ zu haben und nach ihrem Tod nur durch ihre Funktion und nicht durch ihre gemachten Äußerungen weiterzuleben. Die (fiktive) Rede der Queen zu ihrem 80. Geburtstag ist bissig und witzig zugleich – auch wenn es nicht ihre tatsächlichen Worte sind kann man sich – auch durch die vorhergende Charakterisierung – absolut vorstellen dass sie sie zumindest wirklich so oder ähnlich zumindest denken könnte.
„The uncommon reader“ trägt somit auch dazu bei dass man die berühmteste Monarchin der Welt auch mal als Mensch betrachtet, dem durch sein Amt nicht nur zahlreiche Privilegien und ein einzigartiges Ansehen zustehend, sondern dass diesem Menschen auch eine lebenslange Bürde auferlegt ist, die mit einer Einschränkung persönlicher Freiheiten und einer ständigen Selbstbeurteilung einhergeht.
Wie sagte Shakespeare so schön: „Uneasy lies the head that wears a crown.“