Cover-Bild "Die Herzen hoch und hoch den Mut"
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15,99
inkl. MwSt
  • Verlag: Klöpfer & Meyer
  • Themenbereich: Belletristik
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Ersterscheinung: 27.08.2018
  • ISBN: 9783863513436
Hermann Kinder

"Die Herzen hoch und hoch den Mut"

Das Familienalbum meines lutherischen Vaters 1942-1949
Hermann Kinders Buch: keine Abrechnung mit dem Vater, wie etwa die von Bernward Vesper oder Niklas Frank. Auch keine dem Vater nachgetragene Liebe, wie etwa die von Peter Härtling. Auch kein vielschichtiges Suchbild über den Vater, wie etwa das von Christoph Meckel. Sondern ganz schlicht und einfach eine nüchtern-ernüchternde Bestandsaufnahme.
Zwischen 1940 und 1948 legt der lutherische Theologe Ernst Kinder ein Familienalbum an. Nach der späten und mühevollen Entzifferung steht der Sohn, Hermann Kinder, vor Fragen, die zuvor in der Familie nicht gestellt wurden: Warum wird der "Kathastrophe des verlorenen Krieges", so Ernst Kinder im Wortlaut, diese Traditions- und Selbstdarstellung entgegen gehalten? Wie ist ein Glauben zu begreifen, der Kraft zum Überleben gibt, doch keine Aufmerksamkeit für die Verbrechen des Krieges und Regimes hat? Wie nah waren sich Protestantismus und Nationalsozialismus? Wie verhalte ich mich Nachgeborener zum Erleben des Vaters? Das Authentische dieses sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Dokuments liegt in der unbeirrten zeittypischen Selbstrechtfertigung, die wohl für nicht wenige Familienväter um die Jahre 1945 und folgende zutreffen dürfte

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Veröffentlicht am 28.12.2021

Selbstvergewisserung: Über das Annehmen und Ausschlagen von Erbschaften

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Ein Erbe anzunehmen oder auszuschlagen hat sicher viele Aspekte - diese können etwa zivilrechtlicher, biographischer oder ökonomischer Natur sein. Wenn man von einem „väterlichen Erbe“ spricht, kann es, ...

Ein Erbe anzunehmen oder auszuschlagen hat sicher viele Aspekte - diese können etwa zivilrechtlicher, biographischer oder ökonomischer Natur sein. Wenn man von einem „väterlichen Erbe“ spricht, kann es, in Deutschland zumal, noch ein wenig unübersichtlicher werden, denn es stehen z.B. die berühmten 68er in dem Ruf, das Erbe ihrer Väter komplett abgelehnt zu haben. Väter kommen dann vor den Richterstuhl der Nachgeborenen, und wie man mit ihnen, den Vätern, dabei umgeht, kann unvermittelt aufzeigen, wes Geistes Kind diese Nachgeborenen eigentlich waren - denn die Ankläger können leicht selbst zu Angeklagten werden. Auf der Ebene der ungezählten Familien in Deutschland, in denen noch in den letzten Kriegsjahren geborene Söhne und Töchter von ihren aus „dem Feld“ nicht heimgekehrten Vätern nichts weiter auf ihren Lebensweg mitnehmen konnten als eine „Nachlasskiste“, wendet sich ein solches Thema ins Beklemmende und Düstere und viele, die ihren eigenen Lebensweg „so“ beginnen mussten, haben es oft bis zu ihrem eigenen Ruhestand nicht gewagt, jene Kisten zu öffnen und sich die darin enthaltenen Habseligkeiten genauer zu betrachten. Beim vorliegenden Buch liegt der „Erbfolge-Fall“ etwas anders, denn der pensionierte Literaturwissenschaftler und kreative - und bis zuletzt produktive - Autor (1944-2021) hat sich auf seiner letzten Lebensetappe nach einem Buch über den älteren Bruder Ernst jun. (2016) nun auch dem eigenen Vater (Ernst sen., 1910-1970) zugewandt und dabei ein „Familienalbum“ dechiffriert, das dieser Vater von vier Söhnen, die zwischen 1938 und 1949 geboren wurden, im Zeitraum von 1940 bis 1949 akribisch angelegt hatte. Eingerahmt von einem das Terrain absteckenden Vorwort (5-13) und einem der Analyse gewidmeten Nachwort (146-161), dem noch eine Taufansprache von 1944, Gedanken aus der Gefangenschaft, eine Titelauswahl aus 376 theologischen Veröffentlichungen des Vaters seit 1935 sowie ein Dutzend „Gedichte im Kriege“ (1942-44) angehängt sind, wird das Familienalbum des „lutherischen Vaters“ in fünf Teilen, die teilweise „stark gekürzt“ wurden (143), dokumentarisch aufbereitet - der Geschwisterkreis, das Elternpaar, die Kriegs- und Nachkriegszeit sowie die Herkunft der Sippe (15-90). Die Vorlage „umfasst 82 Seiten außer Deckblatt und Namensregister (...). Etwa die Hälfte der Seiten füllen Fotos.“ Das Familienbuch „ist in einen gehäkelten grünen Wollumschlag eingebunden.“ (143f) Die Kohäsionskraft der Familienbande und die Adhäsionskräfte historischer Zerstörungsgewalten waren selten so ins Ungleichgewicht geraten wie in jener ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in die sich Ernst Kinder und seine Generation gestellt sahen, zumal in Deutschland, zumal in Europa. Dass sich ein Theologe, mit einer solchen Gegenwart konfrontiert, zu behelfen versucht, und zwar a) mit dem (heute vielleicht naiv anmutenden) Vertrauen auf die Bindekraft von Worten - immerhin leitet sich die lat. Wurzel lingua von Sprache/language/langue von ligare (verbinden) ab, - und b) mit einer neuerlichen Besinnung auf die eigene Familie, hat unsere Anerkennung und unseren Respekt verdient, zumal es nicht jedem Geisteswissenschaftler, der mit Wort und Schrift umzugehen weiß, gegeben war, etwa auch als Truppenführer bzw. Kompaniechef (99,141) seinen Mann zu stehen, „mit dem ´Eisernen Kreuz´ I.Klasse ausgezeichnet“ (52) zu werden und volle sieben Jahre, über zehn Prozent der eigenen Lebenszeit, eine Uniform zu tragen - im Krieg die zahlreichen Blessuren und ernsthaften Verletzungen (Granatsplitter am Hals, Lungensteckschuss) zu ertragen und zu überleben. Er stirbt (daran?) allerdings, erst im 60. Lebensjahr stehend, schon im Jahr 1970, und zwar „vor den Augen der Leute“ (105) - als sei das für einen Professor nicht gerade standesgemäß! Aber starb nicht auch der ebenso leidenschaftliche wie angriffslustige Historiker H.U.Wehler, noch einer aus Bielefeld, ebenso plötzlich und gleichfalls bei einem Gang durch die Stadt, eben der Stadt, in der Ernst Kinder (mit seinem älteren Bruder zusammen) in den 1920er Jahren Klassenkamerad von Robert Havemann war. (127) Sohn Hermann wurde 1944 in Thorn an der Weichsel geboren. Bei seiner Geburt im Krankenhaus von Thorn half eine jüdische Frauenärztin, die (vermutlich) aus ihrer Wohnung vertrieben wurde, die nun die Kinders bewohnten. (140) Dieser Sohn, der soeben verstorbene Literaturlehrer und Künstler, hat in seinem letzten richtigen Buch erstaunlich große Schwierigkeiten, diese Haltungen seines Vaters wenn nicht zu loben, so doch wenigstens zu achten und anzuerkennen, wobei wir natürlich in Rechnung stellen sollten, dass die anstrengende Bewältigung der - zudem oft fachfremden - Materie und Stoffmenge allein schon als Ausweis der Zuneigung für den Vater genommen werden darf (wie auch bei dem Buch über den älteren Bruder Ernst jun. zwei Jahre zuvor, 2016). Außerdem fallen selbstkritische Bemerkungen über „die selbstgerechten Vorwürfe gegen die Eltern-Generation (...), das hohe Ross der Überheblichkeit gegenüber den Eltern“ (95) oder „eine Verurteilung (...) die aus dem Hinterhalt der Nachgeborenen erfolgt“(101) exkulpierend ins Gewicht. Wie bei Joseph Ratzinger, dem Kardinal und späteren Papst, schließen jene fachfremden Fragen zum Beispiel ein, welche Rolle die menschliche Subjektivität bei der Auslegung von Gottes Wort haben darf (135 „Subjektivierung des Glaubens“); aber auch der Widerstandsmut evangelischer Christen - genannt werden Niemöller, Bonhoeffer, Gerstenmaier oder der Weißen Rose (v.a. Hans Scholz) - kommen zur Sprache (122), ebenso wie die Nazi-Anfechtungen und Verstrickungen hoher geistlicher Würdenträger wie Hans Meiser, für den Ernst sen. von 1938-1947 tätig war (132,140), Paul Althaus oder Werner Elert. (131f) Es geht um den Kirchenkampf zwischen Deutschen Christen (DC) und Bekennender Kirche und um Urteile darüber in Büchern von Historikern und Essayisten - etwa dem 4.Band von Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte, dem gelungenen Sammelband von Harald Welzer et.al - „Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis“ (123) oder Sabine Bodes erfolgreiches Buch über Kriegskinder, das 2004 bei Klett-Cotta erschienen ist und bis 2020 38 Auflagen (!) erreichte („Die vergessene Generation“). Sohn Hermann möchte aber geradezu alles auf den Prüfstand stellen und „aufklären“. Die eigene Mutter ist eine „Höhere Tochter“ des Kasseler Reichsbankrats Dessin (88) und lernt ihren Ernst im D-Zug auf der Rückreise von „einer Skitour aus der Wendelstein-Gegend zurück“ (89f) kennen, dessen Schienennetz wiederum der Ingenieur-Vater (Elektrotechnik) des Göttinger Mediävisten Hermann Heimpel konzipiert und beaufsichtigt hat, wie Leser von Heimpels vergnüglichem Buch „Die halbe Violine“ (st 1090) wissen, übrigens auch ein Buch der Selbstvergewisserung, wo der artverwandte, heute wohl obsolete Satz zu finden ist: „Das Schönste ist das Nachdenken selbst, so schön wie das Leben.“ (85) Das Zusammentreffen der Eltern war jedenfalls eine „Zufallsbekanntschaft“ und eine „Knall-auf-Fall-Liason“ (29), die auch heute in unser - wieder sehr biologisch-darwinistisch gewordenes - Bild vom Menschen und der Natur sehr gut passen würde, denn Emersons Erkenntnis in „Nature“ scheint ja weithin vergessen: „The foundations of man are not in matter, but in spirit.“ (50) Die umtriebige Lotte Dessin, wenige Wochen nach Ernst sen. in derselben Stadt Barmen 1910 geboren, war bei der ersten Begegnung im Zug noch „braungebrannt, und im Skikostüm“, wie der Vater notiert (29) - ist „aus ihrem gesunden Sportbedürfnis“ (89) Mitglied im „Schwimmverein“ und „Couleurdame“ mit einem „erhebliche(n) Bedürfnis nach Geselligkeit“ (139) - also im Grunde wenig begeistert von der Bekanntschaft mit einem theologischen Wortbastler und Argumentationskünstler, der sogar beim Rendez-vous „nur in seine Bücher“ schaut. Einen regelrechten Widerwillen „gegen den Beruf und die Lebensart unseres Vaters“ überwindet die bei der Hochzeit 28-Jährige nur auf „väterlichen Druck“ - der schon in ein Berufsziel (Zahnärztin) oder eine Liebschaft (Nazi) aus Standesgründen eingegriffen hat - oder sogar aus „Torschlusspanik“, denn das Heiratsalter „der Frauen (lag) bei 20 Jahren.“ (138f) Auf den Prüfstand kommt aber natürlich auch die „häufige Entrücktheit“ des „Theologen mit dem Holzbein“. (112) „Mein Vater war ein intensiver Nachdenker und Aufschreiber“; geradezu „manisches Aufschreiben“ und eine „Selbstvergewisserung (!) in der Schrift“ seien eben „Teil der Identität meines Vaters“ gewesen. Allerdings zeigt auch der Sohn in Kinder 2016 auf seinen Zugreisen als pensionierter Beobachter der modernen Verkehrssitten eben genau jene Manie, die man auch als eine Kompetenz auffassen kann und nicht schlechtreden muss. Seien wir doch froh, dass uns ein Eulenspiegel seinen vielfach geschliffenen Spiegel vorhält, in dem wir unsere Eigenschaften reflektiert finden. Streiten kann man dann immer noch.
Michael Karl

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