Cover-Bild Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit
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16,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Weissbooks
  • Themenbereich: Belletristik - Biografischer Roman
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 240
  • Ersterscheinung: 14.03.2016
  • ISBN: 9783863371029
Hermann Kinder

Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit

Ein Mann erzählt die Geschichte von E, der große Talente hatte, aber sein Leben nicht meistern konnte. Er war zur Welt gekommen, als der letzte große Krieg noch tobte, die Kindheit geprägt von Bomben, Bedrohung, Hunger, Flucht. Von den Wunden aber, die jene Zeit schlug – der Vater im Krieg, die Mutter im ständigen Überlebenskampf –, hatten E und sein Bruder keinen Begriff; die Nachkriegs-Kindheit hatte auch schöne Seiten. Doch die Wunden waren tief und heilten nicht; vor allem nicht jene von E, dem so Empfindsamen, der sie weniger gut nahm als die härter Gesottenen. In den Jahren, als es in der jungen Bundesrepublik bergauf ging, wollten E und seine Freunde Künstler werden. Doch E zerbrach daran und nahm sich 1962 das Leben. Über 50 Jahre danach erinnert sich der Erzähler, legt Dokumente vor und flaniert durch
die Gegenwart im Staunen über den Wandel der Zeiten.

Nach seinem hochgelobten Buch Der Weg allen Fleisches (2014), der würdevollen Schilderung einer unvorstellbaren Krankheitsgeschichte, greift Hermann Kinder nun weit zurück in die 1950er Jahre. Er erzählt von der Kindheit und Jugend eines Mannes, der vor einer großen Karriere als Schauspieler stand – und der sein Bruder hätte sein können.

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 28.12.2021

Geschichtsschreibung aus Familienperspektive

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Der soeben verstorbene Autor Hermann Kinder (1944-2021) war gewiss ein Meister der Schwermut aus niederdeutschen Landen, der oft mit „Schwarzer Galle am Schreibtisch“ saß und schrieb, ein wenig wohl auch ...

Der soeben verstorbene Autor Hermann Kinder (1944-2021) war gewiss ein Meister der Schwermut aus niederdeutschen Landen, der oft mit „Schwarzer Galle am Schreibtisch“ saß und schrieb, ein wenig wohl auch das Produkt einer akademischen Scheinriesenhaftigkeit vom Schlage chinesischer Mandarine, wie sie etwa sein akademischer Lehrer Wolfgang Preisendanz (1920-2007) durchaus verkörperte, für den er den Nachruf im „Tagesspiegel formulieren“ durfte, von dem aber wohl nie eine Silbe ins Englische übersetzt wurde, wobei das von P. im Konstanzer Hörsaal zu hörende Englisch schon als möglicher Beleg für dessen Humortheorie genommen werden dürfte, so gewaltig war das Gefälle, mit ihm die Fallhöhe zwischen Ideal und Wirklichkeit. Für meine Generation der „weißen alten Männer“, wie man uns heute bezeichnet findet, ist auch dieses Kinder-Buch ein Manifest, das mit Blick auf das soeben Geschehene nun auch als (s)ein Vermächtnis gewertet werden darf. Es ist zudem eine Form von essayistischer Geschichtsschreibung aus Familienperspektive, die eine eisenharte Zeit des Wiederaufbaus nach 1945 im Kontrast mit den weichgespülten Wohlstandsverrenkungen unserer Tage spiegelt, die der Autor als pensionierter Nutzer von „Bussen und Bahnen“, der sich zur empirischen Prüfung von Thesen „genau umsehen“ will (77), aus der unmittelbaren Anschauung heraus zu beschreiben und zu kompilieren sucht. Im Mittelpunkt steht ein älterer Bruder (E), Jahrgang 1941, Spitzname „Schnüffel“, „ein Kindskopf von 1,90 Meter Länge“ (73), der sich mit anderen „Lulatschen“ aus einer Clique von präsumptiven Künstlern „Die Verlorenen“ (108ff) nennt, in der ersten Kinoreihe, „wo sie ihre Beine ausstrecken konnten“ (111), Heinz Rühmann oder dem „Förster aus dem Silberwald“ ausweichend Filme von Käutner oder Resnais mit Schauspielern wie Peter van Eyck oder Boy Gobert ansehen. E. ist ein „sanfter Heinrich“ (72), der zweimal sitzen bleibt und deshalb wie Salingers Alter-Ego Holden Caulfield ins Internat muss, seine Haare zeitgemäß lang trägt, eine DKW RT 175 zu Schrott fährt und „lieber schrieb als redete“ (88). Von diesem Bruder, der gegen den Widerstand eines mächtigen Vaters das Berufsziel „Schauspieler“ trotz der kargen Zeit durchsetzen möchte, waren Aufzeichnungen erhalten, für die sich niemand in der Familie zu interessieren schien und die der Akademische Oberrat ein halbes Leben lang bei sich aufbewahrte. Auf dem Dustcover sehen wir eine Tagebuchkladde des Bruders abgebildet (Foto Hermann Kinder), die wie ein Schulheft aussieht und in säuberlicher Tintenhandschrift die Aufschrift trägt: Die Wahrheit liegt zwischen den Zeilen. Den Worten glaube nicht. 10.VIII. - 30.IX.62 (siehe auch das Kapitel Hamburg I ab Seite 182). Die Schwermut lag wie bei dem ebenfalls wortmächtigen Ludwig Wittgenstein in der Familie, sodass E im 22.Lebensjahr stehend (70) und seit dem 30.11.1962 in Wien am Seminar von Max Reinhardt arbeitend (193ff) „sich im Februar (1963) um(brachte), mit Gas“ (206) - „die Fluchtmöglichkeit (!) Selbstmord (liege) zu nah“ (175), hieß es bereits in einem Tagebucheintrag vom 23.11.1962. „Er konnte nur bei sich sein, wenn er allein war.“ (182) Unsere heutigen Postmods und Neolibs dürften sich mit ihrem „du passé faisons table rase“ auf die Schenkel klopfen, sich bestätigt fühlen und wie die FAZ am 1.9.2021 zu Kinders Tod die geschmacklose Schlagzeile „Dem Trog entkommen“ wählen. Man sollte sich aber nicht aufregen und es ihnen gönnen, denn es gibt Schlimmeres als der Glaube, heute sei alles besser. Und genau von dieser Frage handelt dieses Buch um einen jungen Mann aus alter Zeit wirklich, wenn es von einer „an sich glaubende(n) Wortkultur“ (121) auf das aktuelle Geschehen blickt: „Die Deutschen sind (inzwischen) im Pornokonsum Spitzenreiter.“ (85) Denn „der Turmbau von Babel war kein Fortschritt.“ (61) Kinders Neigungen zu sprachlicher Brueghelei mag nicht jedermanns Sache sein - ihr verdanken wir immerhin u.a. die zeitlos gültige Schilderung einer fidelen Rentnergruppe im Hallenbad am Seerhein, wie sie der von Huizinga so geschätzte Vondel auch nicht treffender hätte aufzeichnen können. Kinder-Leser wissen spätestens seit 1977, was sie an diesem vielfältig begabten Schriftsteller schätzen und bewundern konnten. Im „Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit“ stoßen zwei Welten aufeinander, die sich zu Kinders Lebzeiten ablösten und die ich hier zum Schluss in Hauptwörtern, die sich (fast) alle im Text finden, gegenüberstellen möchte. Die Nachkriegszeit kannte heute so „verschollene Wörter“ wie Alte Kameraden, Ami-Schlitten, Bakelit, Bibel, Bimmelbahn, Brylcreem-Frisur, Einraumschule, Hilfsbereitschaft, Hosenklammern, Jod, Kernseife, Kloppe, Kokosnuss, Läuse + Dreck, Lederhose, Leiterwagen, Lungenschuss, Muckefuck, Notizbuch, Pichelsteiner Eintopf, Plumpsklo, Rohrstock, Rote Bete, Ruinenlücken, Rummelplatz, Russen-Föten, Sauerampfer, Schnittbogen, Schorf, Tatzen, Waschtag und Wringmangel; in unseren Tagen gibt (oder gab) es allzu bekanntlich Abibälle, Apple Stores, Austernpilze, Bärlauchpesto, Diclofenac, Dildos, Displays, Doggystyle, die Eventler, Fessenheim, Fitnessstudios, geile Warenautomaten, Google, High Heels, Hyperloops, ICEs, Kaufland, Klausu-renpunkte, 1,5-Literflaschen, Must-haves, Nokia-Handys, outdoor, PC-Disketten, Powerpoint-Folien, public viewing, Ruccola, Selbstbedienung, Skype, Smartphones, 63 Mrd. SMS p.a., Sonntagsbrunch, Starbucks Erlebnis, Y-Titty oder walkman, an die sich zu gewöhnen unser Autor des Jahrgangs 1944 sichtlich Mühe hatte. Aber nun ist er ja „dem Trog entkommen“.
Michael Karl

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