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19,95
inkl. MwSt
  • Verlag: Rowohlt
  • Themenbereich: Gesellschaft und Sozialwissenschaften - Soziologie und Anthropologie
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 304
  • Ersterscheinung: 25.09.2015
  • ISBN: 9783498058036
Iris Radisch

Die letzten Dinge

Lebensendgespräche

Blickt man anders auf das durchlebte Zeitalter, wenn der Tod näher rückt? Wird das, was früher wichtig war, unwichtig? Wo hat man geirrt? Was hat man bewirken können – und was ist geblieben? Seit vielen Jahren führt ZEIT-Feuilletonchefin Iris Radisch Gespräche mit Schriftstellern und Philosophen im hohen Alter. Oft war es ein Abschiedsgespräch, manchmal buchstäblich das letzte Interview. Der Lebensabend und seine Gestaltung sind in diesen Begegnungen immer präsent, ebenso die Rückschau auf die erlebte Geschichte und die Bedeutung des Alters für das eigene Schaffen. Alle Gesprächspartner zeigen sich ungewöhnlich offen und unverstellt, und doch zieht jeder auf ganz eigene Weise Bilanz: Bei manchen überwiegt Wehmut, auch Bitterkeit, bei anderen Gelassenheit und Heiterkeit. Dieses Buch versammelt achtzehn Interviews mit großen Zeugen unserer Zeit: Amos Oz, Marcel Reich-Ranicki, Günter Grass, Martin Walser, Imre Kertész, Péter Nádas, Ilse Aichinger, Julien Green, Peter Rühmkorf, Antonio Tabucchi, Patrick Modiano, Ruth Klüger, George Tabori, Claude Simon, George Steiner, Sarah Kirsch, Friederike Mayröcker, Michel Butor und Andrej Bitow.

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Veröffentlicht am 29.12.2021

„Worüber wollen wir denn plaudern?“

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Iris Radisch hat schon viel für die Verbreitung und Bewertung von Literatur geleistet und die Idee dieser „Lebensendgespräche“, die zwischen Herbst 1990 und Frühjahr 2015 geführt und aufgezeichnet wurden, ...

Iris Radisch hat schon viel für die Verbreitung und Bewertung von Literatur geleistet und die Idee dieser „Lebensendgespräche“, die zwischen Herbst 1990 und Frühjahr 2015 geführt und aufgezeichnet wurden, ist vorläufig auf ein eher geteiltes Echo gestoßen. Es handelt sich aber um eine kleine Fundgrube für alle, die sich für Literatur und ihre Erzeuger interessieren. „Meistens fanden die Gespräche in den Wohn- und Arbeitszimmern der Autoren statt.“ (12) Radisch erwartet von den Gesprächen keine stilisierten Auftritte von ergrauten Skribenten des Typus senex loquax, sie ist vielmehr neugierig auf „einen Wechsel der Blickrichtung“, auf „Altersradikalität“ und „wie der nahe Tod (den) Blick auf die Welt verändert.“ (10f) Neben dem Aufwand an Reisen und Spesen wartet das langjährige Projekt der ZEIT-Literaturchefin mit zahlreichen Überraschungen auf. Wo eigentlich die leisen Töne überwiegen müssten, wird es in der norddeutschen Provinz im Sommer 2007 am lautesten, denn Martin Walser ist als Gast bei Günter Grass anfangs noch „bester Laune“, aber bald auf Hundertachzig und „schreit“ bzw. „schreit noch immer.“ (166) „Das Gespräch dauert vier Stunden und droht mehrfach zu entgleisen. (…) Walser gibt das ausgelassene genialische Kind, Grass den überlegenen, heiter reservierten Gastgeber.“ (153) Er wundert sich jovial („Worüber wollen wir denn plaudern?“) über Walsers Klarsichthülle mit vielen Blättern („Hast du dich etwa vorbereitet, oder was? (…) „Ist ja ungeheuer.“ 154). Sie kennen sich seit einer Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1955 und sind „beide fleißige Menschen.“ Walser wollte mit „Halbzeit“ „neben dem“ (= Grass + Blechtrommel) „bestehen“ (156), was ihm letztlich gelungen ist, denn „im Behlendorfer Garten“ trifft Radisch auf „zwei angeschlagene Krieger“ (153) und Martin hat ganz offenbar in der Zwischenzeit das intellektuelle Auslegungskommando übernommen: „Günter ist ein Spätexpressionist. (…) Ich bin erzählerischer.“ (156) Walser entfahren mehrfach italienische SPD - Bastas und katholische Flüche vom Typus Heilandzack, er „schlägt auf den Tisch“ (172) und pocht oder klopft ungehalten auf die Banklehne. (179) Günter hatte unterdessen Weißwein und Zigarillos geholt, nach denen es den Martin verlangte. (162) Denn diesem ist bei dem - vor dem 80. Lebensjahren stehenden - Dioskurenpaar der deutschen Nachkriegsliteratur am Ende offenbar die Rolle des Chefstrategen und Presseattachés zugefallen. Es gibt Streit darüber, ob das „meinungsstark“ oder „erfahrungsgesättigt“ sei. Kostproben: Sprache sei „eo ipso ein öffentliches Element“ (160); man müsse „immer den ganzen Autor lesen“ (163, also nicht bloß das letzte Buch); Erfahrungen seien „nicht wählbar“ (167); „Reden wir von Peter Handke“ (168); „Du kannst keine Ahnung haben von den Chefetagen des Kapitalismus.“ (169) „Das ist doch nur (!) Statistik.“ (175, Herwig Birg sei´s geklagt); „Natur hat man nur konkret.“ (178) Bücher seien „eine Daseinssteigerung“ (182). Günter lässt Martin konziliant gewähren, bleibt höflich und bescheiden, legt den Begriff „Angstblüte“ für Martin aus (179, mit einem Bezug zum Waldsterben), sieht ein, dass „sich die Erinnerung erst altersbedingt umschichtet“ (173) und gibt sich befriedet und friedfertig: „Ich toleriere Martins enthusiastische Einschätzung, die ich nicht teile.“ (165) Am Ende des ZEIT - Gesprächs wird es noch peinlicher für den Martin: Der angebliche Kapitalismus-Kenner muss einräumen, dass seine Altersvorsorge „eine Illusion war.“ Er sei dann „zu den Banken gegangen“ und habe „alles auf den Tisch gelegt“, über welchen er dann offensichtlich „gezogen“ wurde. (175f) Bei der abschließenden Frage nach dem Bleibenden verweist Grass bescheiden auf einen Klassiker wie Jean Paul. Martin reagiert wieder wie aus der Pistole geschossen: „ Der hat nicht umsonst gelebt, ich war seine Auferstehung.“ (182) Ein solches Kammerstück aus einem Me-first-Germany ist wohl schwerlich zu überbieten und Iris Radisch lässt auch keine Ambitionen in diese Richtung erkennen; eher war sie froh, der unverhofften Provinz wieder entflohen zu sein. Die vielen anderen Begegnungen waren eher face-to-face angelegt, in denen wie erhofft die leiseren und reflektierteren Töne bestimmend wurden. Imre Kertesz äußert sich zu seinem Lebensthema, das sich „um den funktionalen Menschen des 20.Jhts.“ gedreht habe. „Der funktionale Mensch verliert sich selbst.“ (233) In der Barrow Road in Cambridge wohnt „Europas Geisteselite“ und „George Steiner wird in wenigen Tagen 85 Jahre alt.“ (241) Er hat „sein Leben der Literaturwissenschaft verschrieben“ und Iris Radisch ist beeindruckt von der Strenge „dieses überwältigend belesenen Anwalts einer elitären europäischen Hochkultur“, auch wenn diese nicht mehr zeitgemäß sei. (243) Die Berufsorientierung erwies sich bei Steiner als durch das Elternhaus vorbestimmt: „ Aber das Heiligste ist dennoch, ein Lehrer zu sein. Das ist tief, tief jüdisch und hat mein Leben entschieden.“ (251) Man könnte noch viele Hinweise auf dieses herrliche Buch geben. Lassen wir es mit einem letzten Blick bewenden, auf den französischen Nobelpreisträger für Literatur, Patrick Mondiano. (253ff) Schon als Kind war er viel sich „selbst überlassen und ging ständig allein in Paris spazieren.“ Dabei kam es „zu einer inneren Landschaft, in der die Zeit stillsteht. (…) Ich benutze nur Empfindungen, die ich gehabt habe, und Stimmungen, in denen ich gelebt habe.“ (260) „Man kann sagen, ich fing an zu schreiben, um ein Geheimnis aufzudecken.“ (262) Romane des 19. Jhts seien gebaut „wie massive Kathedralen (…) Mir bleiben nur kleinste Bausteine, Fetzen. Meine Bücher sind so zerrisssen wie mein Jahrhundert.“ (264)
Michael Karl

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