Berührende Autobiografie
Ich bin mit der Musik von Mariah Carey aufgewachsen; schon damals, als ihr Musikvideo zu "Without You" auf MTV hoch und runter gespielt wurde, war mir klar: Diese Frau ist ein stimmliches Ausnahmetalent. ...
Ich bin mit der Musik von Mariah Carey aufgewachsen; schon damals, als ihr Musikvideo zu "Without You" auf MTV hoch und runter gespielt wurde, war mir klar: Diese Frau ist ein stimmliches Ausnahmetalent. Und auch heute bin ich der Meinung, dass sie (neben der unverwechselbaren Whitney Houston) zu DEN großen Stimmen des Jahrhunderts zählt. Egal ob man ein Fan ihrer Musik ist oder nicht, Mariahs sage und schreibe 5 Oktaven umfassende Vocal Range ist einfach bemerkenswert.
Die Presse liebt sie für ihren Unterhaltungswert, damit meine ich jedoch leider nicht ausschließlich ihre zahlreichen Charterfolge und Auszeichnungen; vielmehr wird regelmäßig über ihre vermeintlichen Fehltritte berichtet. Mariah, die Diva mit Starallüren. Mariah, die für ihren Film »Glitter - Glanz eines Stars« die Goldene Himbeere als schlechteste Schauspielerin des Jahres erhält. Mariah, die sich während ihrer Zeit als Jurorin bei American Idol mit Nicki Minaj einen bösen Zickenkrieg liefert. Mariah, die sich einen Plattenboss angelt. The list goes on.
Das Cinderella-Märchen vom Mädchen mit der faszinierenden Stimme, das nicht nur ein gefeierter Weltstar wird, sondern obendrein den damaligen Präsidenten von Sony Music heiratet, verwandelte sich sehr schnell in einen Albtraum. Tommy Mottola verhielt sich Mariah gegenüber dermaßen respektlos und kontrollsüchtig, dass mir beim Lesen Stück für Stück das Herz brach für das kleine Mädchen in ihr, von dem sie zu Beginn ihres Werkes erzählt. Genau solch eine toxische Beziehung, solch seelischen Missbrauch hatte sie doch eigentlich um jeden Preis vermeiden wollen. "[…] ich wurde nicht gerade auf Händen getragen. Und eins ist sicher: Tommy Mottola war kein Prinz auf einem weißen Pferd."
Mariahs Kindheit war geprägt von traumatischen Erlebnissen, die mehr als verstörend auf jedes Kind wirken müssen. "Den Großteil meiner Kindheit verbrachte ich eingekeilt zwischen dem Zorn meines Bruders und der traurigen Suche meiner Mutter. Zorn und Mutlosigkeit sind beide äußerst schädlich, doch ich glaube, das eine sticht nach innen und das andere nach außen. […] Als ich in den Kindergarten kam, waren Katastrophen für mich bereits an der Tagesordnung." Zwar gab es ein paar wenige Lichtblicke, aber Gewalt, Angst, Erfahrung mit Rassismus und das Gefühl von Verlorenheit dominierten. In meinen Augen grenzt es an ein Wunder, dass sie nicht völlig daran zerbrochen ist, und sie scheint dies ebenfalls so zu sehen. - "Einer der Polizisten schaute auf mich hinunter und sagte zu dem Polizisten neben ihm: »Wäre ein Wunder, wenn die es schafft.« An diesem Abend wurde ich also weniger Kind und mehr Wunder."
Schon früh fand die Künstlerin in der für sie beruhigenden Wirkung der Musik eine Zuflucht vor der unerträglichen Realität, der sie in ihrer zerrütteten Familie täglich ausgesetzt war. Der Glaube an Gott und die Musik waren Mariahs Rettung, und im Laufe ihrer Karriere war wiederum sie es, die mit ihren gefühlvollen Balladen, die einen direkt ins Herz treffen, vielen Menschen geholfen hat, mit Problemen und Schicksalsschlägen fertigzuwerden (- man denke nur an die LGBT+ Community, die sich damals in ihrem Individualität und innere Stärke zelebrierenden Song "Hero" wiederfand).
Nicht ohne Grund nannte Mariah die luxuriöse Villa, in der sie mit Tommy lebte, insgeheim 'Sing Sing' - also genau wie das berüchtigte gleichnamige Gefängnis; sie fühlte sich vollkommen isoliert und eingesperrt. "Was hätte ich nicht für fünf Minuten Ruhe gegeben! Ich wollte nur einmal in meine eigene Küche gehen und mir einen Snack holen, ohne sein bedrohliches »Was machst du?« durch die Sprechanlage knarzen zu hören." Nun mag sich manch einer vielleicht fragen: Warum ist sie denn nicht einfach gegangen, hat ihn verlassen?
Abgesehen davon, dass Mariah zu diesem Zeitpunkt beruflich von ihrem Ehemann abhängig und vertraglich an ihn gebunden war: Dieser Vorschlag klingt tatsächlich nur dann super easy, wenn man nicht selbst in dieser Situation steckt. Wenn man nicht aus Vorsicht und Angst vor einem Donnerwetter jedes Wort fünfmal überdenken muss, ehe man es ausspricht, wenn man nicht einsam ist, sondern über ein familiäres und/oder freundschaftliches Netzwerk verfügt, das einen notfalls auffangen kann. Ja, dann sagt sich das leicht, 'geh doch einfach'.
"Ich hatte niemanden, dem ich hätte anvertrauen können, wie ich lebte - beziehungsweise nicht lebte. Ich traute niemandem. […] alle anderen Menschen in meinem Umfeld hingen irgendwie mit Tommy zusammen und hatten Angst vor ihm. Alles, was ich sagte, erreichte seine Ohren, und dann würde ich seinen Zorn zu spüren bekommen."
Die Frau, die aufgrund ihrer einzigartigen Stimme der Erfolgsgarant des Plattenlabels geworden war, hatte im privaten Leben ihre Stimme verloren. Sie war lediglich die Cash Cow, die es zu melken galt. Ihre Wünsche und Bedürfnisse wurden ignoriert. Ich sage nur: 2 Stunden Schlaf in 6 Tagen. Ja, es gab Momente in ihrer Karriere, da fand ich ihr Verhalten verwunderlich, aber nun, da ich die Hintergründe kenne, habe ich diesbezüglich wahnsinnig Mitleid mit ihr. Wer funktioniert schon normal bei dauerhaftem Schlafentzug; diese Praxis gilt nicht umsonst als Foltermethode.
"Ich war Anfang zwanzig, und die Vorstellung, ein Leben könne sowohl beruflich als auch persönlich erfüllend sein, war mir unbegreiflich. Ich glaubte wirklich, dass ich es nicht verdient hatte, glücklich und erfolgreich zu sein. Und meine Lebensentscheidungen traf ich danach, auf welchem Weg ich die größeren Überlebenschancen sah."
Kein Wunder, dass viele von Mariahs Liedern von Selbstfindung, Mut und Hoffnung handeln. Sie feierte grandiose Erfolge, doch hinter den Kulissen wurde sie ausgebeutet ohne Ende. Jetzt verstehe ich auch, warum die Queen of Christmas Weihnachten so sehr liebt. "Ich war schon immer furchtbar sentimental, und die Weihnachtszeit ist für mich der Inbegriff von Sentimentalität. Ich wollte einen Song schreiben, der mich glücklich machte, der mir das Gefühl gab, ein sorgenloses, geliebtes Kind zu sein, das sich auf Weihnachten freut. […] vielleicht könnte ich der Welt ja einen Weihnachtsklassiker schenken."
Der Schreibstil ist voller Feingefühl, emotionsgeladen und oftmals poetisch angehaucht. Mariahs Erzählung ließ mich betrübt den Kopf schütteln, aber auch hin und wieder schmunzeln und staunen, machte mich nachdenklich und nostalgisch. Besonders gelungen fand ich die Kapitelüberschriften; mein Favorit war "Eine Schneekugel voll Glück".
Diese Autobiografie ist unheimlich interessant, unterhaltsam und bewegend geschrieben, bietet private Einblicke und lässt sämtliche Songs in meinen Ohren klingeln. Und genau bei Letzterem liegt ein kleiner Haken - ich hatte zwischenzeitlich den Eindruck, dass die einzelnen Passagen rund um bestimmte Lieder aufgebaut worden sind, nach dem Motto 'hier haben wir Song X, dies ist die Entstehungsgeschichte dazu, und nun mixen wir das Ganze mit ein paar privaten Details zu einem Kapitel'. Selbstverständlich ist mir bewusst, dass Mariahs persönliche Erlebnisse ihre Musik geprägt haben und ich fand es auch spannend, mehr über die Hintergründe zu erfahren, über die jeweilige Zeit in Mariahs Leben, in der jene Hits entstanden sind, die ich besonders mag. ABER: Auf gefühlt jeder zweiten Seite gibt es eine weitere Songreferenz, mal ganze Strophen, mal nur eine Zeile. (Ich habe aus Neugier später im Quellenanhang nachgezählt: 38 Lieder werden zitiert.) Fans der Sängerin wird es freuen, andere Leser:innen eventuell irritieren.
Was das Cover betrifft: Seufz! Diese Frau ist so wunderschön - hätte man nicht ein vorteilhafteres Bild wählen können, auf dem ihr Gesicht nicht erstarrt, ihr Lächeln nicht festgefroren wirkt? (Die Abbildung auf der Rückseite des Buches hingegen gefällt mir ausgesprochen gut.) Verbucht dies einfach unter 'Jammern auf hohem Niveau', okay?
Abgesehen davon ist die Aufmachung des in der Ich-Form geschriebenen, fast 450 Seiten umfassenden Werks sehr gelungen, das Hardcover liegt prima in der Hand, wirkt hochwertig und beinhaltet in der Mitte zudem einen Bildteil mit Farbfotos.
In vielen von Mariahs Aussagen habe ich mich selbst wiedererkannt, auch ein neues Lieblingszitat habe ich entdeckt:
"Ich lebe von Weihnachten zu Weihnachten, von Fest zu Fest, von einem glänzenden Augenblick zum nächsten, statt meine Geburtstage oder mein Alter zu zählen […]. Das Leben hat mich gezwungen, meinen eigenen Weg in dieser Welt zu finden. Warum soll ich mir die Reise damit verderben, ständig auf die Uhr zu sehen und die dahintertickenden Jahre zu beweinen? […] Sich zu sehr auf die Zeit zu konzentrieren ist Zeitverschwendung."
Fazit: 5 ✰ ✰ ✰ ✰ ✰
Sehr lesenswert und nicht nur für Fans der talentierten Sängerin eine klare Empfehlung!