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Veröffentlicht am 27.01.2022

Hat mich berührt, bewegt und begeistert wie lange kein Buch mehr

Weil wir träumten
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"Weil wir träumten", welches heute seinen Erscheinungstermin feiert, ist in vielerlei Hinsicht ein hervorstechender Roman, der in mir alle möglichen emotionalen Extreme hervorgerufen und mich so fertig ...

"Weil wir träumten", welches heute seinen Erscheinungstermin feiert, ist in vielerlei Hinsicht ein hervorstechender Roman, der in mir alle möglichen emotionalen Extreme hervorgerufen und mich so fertig zurückgelassen hat, dass ich auch nach Tagen noch keine Rezension schreiben konnte. Nun wage ich einen ersten Versuch, meine Gedanken, Gefühle und Erfahrungen mit der Geschichte in Worte zu fassen und will mit einer Liebeserklärung an das Cover beginnen.


"Ich sah Kraken in ihren Höhlen, ich sah zwei Wale, eine Mutter und Kalb. Wir tauchten zu ihnen hinab und wir schwammen mit ihnen und ich wusste, wer sie waren, ich musste nicht fragen. Zwei andere junge Wale stießen zu uns, einer hatte Wunden auf seinem Rücken, tiefe Striemen. Doch sie hatten bereits begonnen zu heilen. "Die Mitte des Lebens", sage ich, "wir sind da. Dies ist die Mitte des Lebens."


Auch wenn ich die beiden Gesichter (das sommersprossig-blasse von Emma und das dunkel strahlende von Fy) und den Leuchtturm vor dem ausgeblichenen blau-grauen Hintergrund für eine sehr gute Wahl für diese Geschichte halte, ist es der dunkelblaue Aufkleber, für den ich meine Begeisterung aussprechen will. Dieser verkündet nämlich, dass mit dem Kauf eines Exemplars von "Weil wir träumten" 1€ an den "Kinder für die Zukunft E.V." gespendet wird. Wenn das noch kein Grund genug ist, sich den Roman zuzulegen folgt nun eine ausführliche Liebeserklärung an diese Geschichte, die hoffentlich verdeutlicht, warum ich finde, dass jeder "Weil wir träumten" gelesen haben sollte!


Erster Satz: "Es ist so schön hier.


Mit diesem ersten Satz entführt uns Antonia Michaelis in ein wunderschönes, paradiesisch anmutendes Setting: eine madagassische Insel voller Leben mit unberührtem Urwald, weißem Strand, bunten Muscheln, gewaltigen Walen und französisch sprechenden Piraten. Die schiere Schönheit dieses Ortes, an dem die herzkranke, 16jährige Emma zusammen mit ihrer Urgroßmutter Elise versucht, ein wenig Frieden zu finden und sich lebendig zu fühlen, da er in krassem Gegensatz zu den sterilen Krankenhauszimmern steht, in denen sie sonst lebt, erscheint einem dabei wie ein Traum, aus dem man nicht aufwachen möchte. Antonia Michaelis schnörkeliger, bildhafter Schreibstil gleicht dem Stil eines Märchens, in dem alles irgendwie magisch und auf unwirkliche Weise schmerzlich schön erscheint. Manche Passagen lesen sich dabei wie Lyrik - "Mondlicht strömte herein wie Wasser. Der geschnitzte Delfin und die Meerjungfrau, die aus dem Mittelbalken ragten, regten sich, bereit, nach draußen zu entkommen - doch sie waren gefangen, steckten im Holz fest: unglückliche Geister." oder "Eine Tasse Milchkaffee, weiße Baumorchideem mit hellgrünen Blättern dazwischen: ein Stillleben. Elise hatte ein paar Muscheln dazugelegt. Und in der Ferne floss das Meer türkisblau in den Horizont." - und zergehen beim Lesen geradezu auf der Zunge. So war ich schon nach wenigen Kapiteln komplett verzaubert, was der zweite Grund ist, weshalb ich "Weil wir träumten" liebe.


"Darin sind sie alle wie Kinder: Sie sehen immer nur das Schöne. Niemals hindurch."


Leider steht der verträumte, wunderschöne Schreibstil der Autorin der harter Realität, die sie damit verschleiert, in einem krassen Gegensatz gegenüber. Denn der wunderschöne Schleier, der zu Beginn über Madagaskar liegt, wird nach und nach gelüftet, während die sechzehnjährige Madagassin Fy uns und Emma ihre Geschichte erzählt. Antonia Michaelis hat für "Weil wir träumten" zwei spannende Erzählperspektiven gewählt. Sie erzählt abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Emma, die ihre Erlebnisse auf Madagaskar in einem Tagebuch niederschreibt, und in einer Art Gedankenstrom von Fy, die in "Du"-Form mit ihrem Kind Onja spricht. Zwischen touristischen Abenteuern auf der Insel und Begegnungen mit dem jungen Weltreisenden Luc wird die Freundschaft zwischen Fy und Emma tiefer und wir erfahren bruchstückhaft, wie Fy - als minderjährige Mutter - auf dieser vermeintlichen Trauminsel gelandet ist. Fys Geschichte zu hören ist dabei wie Aufwachen: erst langsam und dann immer schneller werden wir mit der grausamen Realität konfrontiert und ist man dann erstmal wach, kann man nicht mehr zurück in den süßen Taumel des Schlafs und die Welt mit denselben Augen sehen.


"Ich dachte überhaupt nicht mehr nach als andere Leute. Ich hatte nur das Glück gehabt, dass Fy mir Dinge erzählt hatte. Oder das Pech. Sonst wäre ich für immer blind geblieben. Sonst wäre der weiße Sand, in dem meine Zehen einsanken, für immer nur schön geblieben. Sonst hätte ich nicht geahnt, dass die Kinder, die mir mit Eimern voller Krabben entgegenkamen, nicht spielten, sondern arbeiteten. Dass sie die Krabben an Restaurants verkauften, statt zur Schule zu gehen. Sonst hätte ich beim Geruch von Vanille weiter an Pudding gedacht."


Auch Emma hat eine Geschichte zu erzählen, die sie erst im letzten Drittel mit den LeserInnen teilt. Genau wie Fys ändert auch diese Erzählung das Bild, das man von der Protagonistin hatte. Während man zu Beginn noch dachte, Emma würde verantwortungslos handeln, ihr Wohlergehen aufs Spiel setzen und sich gedankenlos treiben lassen, verstehen wir auch sie im Verlauf der Handlung besser und können tief im eigenen Herzen nachfühlen, wie sie die Suche nach purem Leben, Intensität, Liebe, Sinn und Bedeutung innerlich zerreißt. "Weil wir träumten" hat mich bewegt, berührt, ganz tief erreicht und mich genau wie Emma an meine Ideale erinnert, an den tiefen Wunsch, die Welt zu verändern, hinauszuziehen und etwas zu bewirken, Menschen zu treffen, hinter Fassaden zu blicken und Schicksale zu verändern. Wünsche, die ich als Kind hatte, beim Erwachsenwerden aber vergessen habe und von denen ich hoffe, dass ich sie nicht mehr verliere.
Und auch dafür liebe ich diesen Roman!


"Schlaf gut, Emma", flüsterte Elise. "Ich werde hier sitzen bleiben. Ich passe auf dich auf." Aber wer passt auf die anderen auf?, dachte ich. Auf die, die im Winter ihr Zimmer mit den Ratten teilen?"


Doch selbst nachdem die Autorin den schönen Schleier gelüftet hat und wir sehen, was sich darunter verbirgt, bleibt der Traum ganz dem Titel entsprechend ein wichtiges Motiv der Handlung und das unwirkliche Gefühl, das durch die leicht entrückte Atmosphäre entsteht, begleitet die Geschichte bis zum Ende. Aufrechterhalten wird diese dadurch, dass Träume, in denen Figuren zu Wale werden, mit Toten sprechen oder Visionen einer besseren Zukunft herbeiträumen, zwischen die bittere Realität gemischt werden. Bedrohungen werden durch Geister, Flüche oder Figuren wie der Herzenssammler der Realität entrückt und viele heftige Szenen sprachlich eingetrübt, sodass das Lesen erträglicher gemacht wird, ohne sie zu verharmlosen. Das sollte theoretisch nicht ganz zusammenpassen, trägt aber auf sehr stimmige Art und Weise zum Verständnis der Figuren und deren innersten Wünschen bei und sorgt dafür, dass man es überhaupt aushält, diese Geschichte zu lesen.


"Langsam nahm ich Umrisse in der Dunkelheit wahr - Umrisse von Blättern aller Formen vor dem Himmel, der hoch oben hing und ein wenig Mondlicht auf mich träufelte, Mondlicht wie Medizin. Da war sie wieder, die Schönheit - jedes Blatt ein Ornament. Ehe ich gehe, eines Tages, möchte ich Blätter sehen."


Denn auch wenn "Weil wir träumten" ohne Triggerwarnung daherkommt und offiziell für LeserInnen ab 14 Jahren empfohlen wird, kann ich nur nochmal betonen, dass wir es hier mit einem Drama zu tun haben, das tiefste Abgründe zeigt. Hier geht es um Zwangsprostitution, Gewalt, Armut, Hunger, Krankheit, Tod, Mord, Gefängnis, Missbrauch und Kinderarbeit. Besonders unter die Haut geht das Geschilderte, dadurch, dass die Autorin zwei Jahre lang vor Ort war und mit ihrer Familie eine Schule und ein Kinderhaus aufgebaut hat. Dadurch, dass sie in dieser Zeit sowohl aus eigener Erfahrung als auch durch Erzählungen von echten Schicksalen Einblicke in das Leben der Madagassen erhielt, kann sie Emmas und Fys Perspektiven so authentisch wiedergeben, dass man meinen könnte, es sei eine echte Geschichte. Und das macht sie sich zunutze: Antonia Michaelis zeigt wie düster ein schönes Land, wie zerstörerisch verzweifelte Menschen und wie blind eine ganze Gesellschaft sein können. Dabei macht sie keine Kompromisse und treibt uns LeserInnen über Grenzen hinaus. Sie beschreibt Dinge, die man nicht lesen will, aber man folgt ihr dennoch auf diese Reise, man kann gar nicht anders. Denn trotz all der emotionalen Arbeit, wärmt es das Herz, wie die Geschichte Schönheit im Hässlichen und Hässlichkeit im Schönen findet.


"Emma hat es selbst gemerkt: Zuerst sieht man nur die schönen Dinge an der Oberfläche, die Dinge, die Besucher sehen sollen. Dann, irgendwann, sieht man die Hässlichkeit darunter, und erst danach sieht man das wahrhaft Schöne unter dem Hässlichen: die Sonne auf einem Abwasserkanal. Eine Blume im Müll. Das Lächeln der Menschen in ihren abgerissenen Kleidern. Die Hoffnung in ihren Augen. Das Lachen, das niemals ganz verschwindet. Ja, mein Land ist schön. Aber nicht wegen der Palmen, der Muscheln, der Lemuren."


So kommt es, dass auch die Liebe einen großen Teil des Romans in Beschlag nimmt. Anhand der Hauptfiguren und den ebenso liebevoll und detailliert ausgearbeiteten Nebenfiguren werden alle Facetten der Liebe beschrieben und zum Leben erweckt. Die zwischen einem Jungen und einem Mädchen. Zwischen Bruder und Schwester. Zwischen Eltern und Kind. Enkelin und Uroma. Zwischen Freundinnen. Zwischen Schicksalsgefährten. Zwischen einer Madagassin und ihrer Heimat. Zwischen einer Leserin und ihren Protagonisten....

Wegen genau dieser Liebe und Nähe zu den Figuren ist "Weil wir träumten" eines der traurigsten Bücher, die ich jemals gelesen habe. Es hat einen solchen Schmerz in mir hervorgerufen, dass ich es kaum ausgehalten habe, es zu Ende zu lesen, dass ich an mehreren Stellen "bitte nicht, bitte nicht" geflüstert habe und an noch viel mehr Stellen in Tränen ausgebrochen bin. Doch obwohl es schmerzlich grausam war, war es auch das schönste Buch, das ich seit Langem gelesen habe. Ich habe selten eine so intensive Geschichte gelesen, die die Schönheit des Lebens so feiert, wie "Weil wir träumten". Und ich habe auch selten ein Buch gelesen, bei dem ich schon in der Hälfte wusste, dass es mir für immer im Gedächtnis bleiben wird. In kurz: ICH LIEBE ES! LEST DIESES BUCH!


"Ich war hier, weil ich gedacht hatte, ich könnte alle retten, ganz leicht, nur weil ich aus Europa kam, aber im Grund dachte ich, im Grund, hatten sie mich gerettet. Diese Menschen. Sie hatten etwas bewirkt, was kein Medikament bewirken kann. Etwas in mir ausgelöst. Ein Gefühl von Glück."





Fazit:


Diese Mischung zwischen Traum und Wachen, zwischen Realität und Übersinnlichem, Schönheit und Grausamkeit, Traurigkeit und Freude hat mich berührt, bewegt und beschämt wie lange kein Buch mehr. In "Weil wir träumten" erzählt Antonia Michaels auf absolut atemberaubende und authentische Art und Weise von Freundschaft, Liebe und den Schattenseiten der Mitte des Lebens: Madagaskar.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.01.2022

Ein Reihenauftakt, dem man sich unmöglich entziehen kann

The Inheritance Games
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Als ich "The Inheritance Games" in der Verlagsvorschau des cbt Verlags entdeckte, klang der Klapptext fast zu schön, um wahr zu sein: ein überraschendes Milliardenerbe, ein riesiges Haus voller Rätsel ...

Als ich "The Inheritance Games" in der Verlagsvorschau des cbt Verlags entdeckte, klang der Klapptext fast zu schön, um wahr zu sein: ein überraschendes Milliardenerbe, ein riesiges Haus voller Rätsel und eine gefährliche Familie... Schon nach wenigen Kapiteln hat sich mein vorsichtiger Optimismus dann in pures Entzücken verwandelt, denn dieser hochspannende Pageturner konnte meine Erwartungen sogar noch übertreffen...


"Jeder Mensch hat wohl irgendwas, was er unerklärlicherweise attraktiv findet. Anscheinend waren das für mich anzugtragende, silberäugige Typen, die das Wort empirisch in den Mund nahmen und ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass ich wusste, was damit gemeint war."


Schon das Cover ist ein Gesamtkunstwerk! Vor einem waldgrünen Hintergrund ist der Titel in großen goldenen 3D-Buchstaben aufgedruckt. Kunstvoll umrahmt wird der Titel durch allerlei Verzierungen in den beiden Leitfarben dunkelgrün und gold. Zu sehen sind unteranderem ein großer Schlüssel, eine gläserne Ballerina, eine Halskette, ein Messer, eine Krone, Schachfiguren, Rosen und eine Kerze - allesamt wichtige Motive, die in der Geschichte ihren Platz finden. Je länger man dieses detailreiche Gesamtkunstwerk anschaut, desto mehr fällt einem dabei auf. Ein großes Kompliment also an den Verlag, der sich hier glücklicherweise dafür entschieden hat, sowohl das Cover als auch der passende Titel der Originalausgabe beizubehalten.


Erster Satz: "Als ich klein war, dachte meine Mom sich ständig Spiele aus."


"The Inheritance Games" konnte mich so schnell catchen wie schon lange keine Geschichte mehr. Nachdem die Autorin uns kurz einen Eindruck davon verschafft hat, wie der Alltag der 17jährigen Avery aussieht, stellt sie deren Leben in kürzester Zeit auf den Kopf. Schlief sie in der einen Nacht noch in ihrem Auto, um dem übergriffigen Freund ihrer Schwester zu entgehen, bei der sie nach dem Tod ihrer Mutter wohnt, ist sie am anderen Tag die überraschende Erbin des Multimilliardärs Tobias Hawthorne und somit die reichste Teenagerin der Welt. Der einzige Haken an der Sache? Sie hat den Namen Tobias Hawthorne noch nie gehört, kann sich nicht erinnern, ihn jemals getroffen zu haben und ist deshalb auch ahnungslos, warum er ausgerechnet IHR sein gesamtes Vermögen vermachen sollte. Der Familie des alten Philanthropen ist das Auftauchen der Erbin übrigens auch völlig schleierhaft, auch wenn sie von ihm schon allerlei Sperenzchen, Rätsel und Geheimnisse gewohnt sind. Ist Avery also sein letztes großes Rätsel, das letzte Spiel, das er selbst aus dem Grab heraus noch zu spielen weiß, oder steckt mehr dahinter...? Avery ist festentschlossen, genau dies herauszufinden und bekommt dabei Hilfe von den vier Enkeln von Tobias Hawthorne, die alle ein Rätsel für sich sind...


"Alles ist ein Spiel, Avery Grambs. Das Einzige, was wir in diesem Leben entscheiden dürfen, ist, ob wir spielen, um zu gewinnen."
"Dir hat er das Vermögen hinterlassen, Avery. Alles, was er uns hinterlassen hat, bist du."


Jennifer Lynn Barnes Reihenauftakt erzählt in 91 sehr kurzen Kapiteln eine facettenreiche und hochspannende Geschichte über Rätsel, Familie, Liebe und Geheimnisse, deren Anziehungskraft auf verschiedenen Bausteinen beruht. Zunächst hätten wir den "reich über Nacht"-Trope, welcher denke ich auf die allermeisten LeserInnen für sich schon einen großen Reiz ausübt, da es kaum eine Person gibt, die sich nicht schonmal ausgemalt hat, was man tun würde, wenn man im Lotto gewinnen würde. Hier geht es jedoch nicht nur um die schillernde Welt des Reichtums, sondern auch um die Verantwortung, die diese Macht mit sich bringt, sodass auch einige interessante Denkanstöße in der Geschichte zu finden sind. Allein der aschenputtelartige Aufstieg Averys nach der schicksalshaften Testamentsverkündung, wo sie sich plötzlich mit Paparazzi, Umstylings, Investitionen, Stiftungen und Galas auseinandersetzen muss, wäre also schon lesenswert. Dabei belässt es die Autorin aber natürlich nicht und schickt ihre Protagonistin auf eine Rätseljagd quer über das Anwesen, um dem alten Gönner auf die Schliche zu kommen und herauszufinden, was für ein Spiel mit ihr gespielt wird.


"Jameson hatte von Anfang an gesagt ich sei besonders. Mir war bis jetzt nicht klar gewesen, wie sehr ich glauben wollte, dass er damit recht hatte. Dass ich nicht unsichtbar war, kein bloßer Bildschirmschoner. Ich wollte glauben, dass Tobias Hawthorne etwas in mir gesehen hatte, etwas, das ihm gesagt hatte, dass ich das hier tun könnte, dass ich klarkommen könnte mit den Blicken und dem Rampenlicht, der Verantwortung, den Rätseln, den Drohungen... mit allen, Ich wollte etwas bedeuten."


Der zweite Baustein, auf den sich diese Geschichte stützt, ist die verschachtelte und hochspannend erzählte Suche nach Antworten. Hinter jeder Ecke lauert eine Falltür, ein Anagramm in einem Brief, ein versteckter Hinweis oder eine clever geplante Intrige gegen Avery, sodass man das Buch kaum noch aus der Hand legen kann. Die absurde Spannung des Buches wird auch durch die kurzen Kapiteln unterstützt. Als Kapitelleserin bin ich sowieso ein großer Freund von kurzen Kapiteln. Die Autorin treibt das hier aber auf die Spitze und setzt uns Kapitel vor, die oft nur 3-5 Seiten aufweisen, um das Erzähltempo weiter zu steigern. Dabei stellt sich bald eine Art "Escape-Room-Feeling" ein. Man hangelt sich gemeinsam mit den Figuren von einem Hinweis zum nächsten und kann es kaum erwarten, herauszufinden, wo die ausgestreute Brotkrumenspur uns am Ende hinführen wird. Manche der Geheimnis, Intrigen und Rätsel errät man dabei schon vor der Protagonistin, auf andere Wendungen wäre man niemals gekommen.


"Du glaubst wohl, dass du das Spiel spielst, Darling, aber das ist nicht, wie Jamie die Sache sieht." Nash Stimme war sanft, anders als seine Worte. "Wir sind nicht normal. Dieser Ort ist nicht normal und du bist keine Spielerin, Kleines. Du bist die gläserne Ballerina... oder das Messer."


Begleitet wird diese prickelnde Mischung von einem Setting, in dem alles, wirklich ALLES möglich scheint und in dem man niemandem so wirklich trauen kann. Zu Beginn nimmt Avery den Fakt, dass mehrere Milliarden auf dem Spiel stehen, nur am Rande wahr. Als dann jedoch ein Mordversuch auf sie verübt wird, beginnt sie jeden zu hinterfragen, denn wer weiß, was selbst die eigene Schwester für so eine irrsinnige Summe tun würde... Trotz dass keine einzige übernatürliche Sache passiert, scheint Hawthorne Haus wie ein eigenes, magisches Universum zu sein und über allem schwebt eine beinahe mystische, faszinierende Atmosphäre. Geheimgänge, versteckte Schubladen, Zahlenkombinationen in der Dekoration, Falltüren, Tunnels, zugemauerte Flügel, mehrere Bibliotheken, schrullige Bewohner und natürlich eine Menge dunkle Geheimnisse - das ist die Szenerie, in der sich die Geschichte abspielt. Und diese wird durch Jennifer Lynn Barnes intensiven Schreibstil zum Leben erweckt. An mehr als einer Stelle habe ich einen ganzen Absatz einfach erneut gelesen, weil er in mir wunderschöne Bilder hervorgerufen hat, die an Aestetics -Reels erinnern, die man häufig zu Fantasyreihen auf Instagram oder TikTok sieht.


"Wenn du klug wärst", warnte er leise, würdest du dich von Jameson fernhalten. Und vom Spiel." Er senkte den Blick. "Von mir." Tiefe Gefühle zuckten über sein Gesicht, aber er kaschierte sie, bevor ich erkennen konnte, was genau er da fühlte. "Thea hat recht", sagte er schneidend, wobei er sich von mir abwandte, sich von mir entfernte. "Diese Familie... wir zerstören alles, was wir berühren."


Das allerbeste an "The Inheritance Games" sind jedoch nicht die Aschenputtel-Magie, die cleveren Rätsel, das magische Setting, die absurd hohe Spannung, oder der ästhetische Schreibstil. Es sind die Figuren. Ich weiß nicht wieso (oder ich habe da einen fundamentalen Wahrnehmungsfehler), aber die Figuren, die von PsychologInnen geschrieben und konzipiert wurden, sind einfach nochmal eine ganze Ecke... krasser. Beginnen wir mal mit der Hauptprotagonistin und Ich-Erzählerin Avery. Diese ist eine sehr sympathische Heldin - clever, schlagfertig, das Herz am richtigen Fleck und sehr reflektiert -, die mir sofort ans Herz gewachsen ist, mich aber alleine noch nicht ins Schwärmen bringen würde. Mir gefällt gut, dass sie zwischen der wilden Rätseljagd noch genügend Zeit erhält, die plötzlichen Veränderungen in ihrem Leben zu verarbeiten, denke aber, dass sie noch einen weiten Weg vor sich hat. Auch wenn sie wirklich toll ist und ich gerne öfters von Protagonistinnen lesen will, die nicht naiv sind, sich benutzen lassen und sich ständig retten lassen müssen, stehlen ihr vier andere Figuren leider ziemlich dreist die Show: die Hawthorne Enkel.


"Nimm bitte den Rat von jemandem an, der es bereits ausprobiert und hinter sich gebracht hat - verliere nie dein Herz an einen Hawthorne."
"Keine Sorge", erwiderte ich, gleichmäßig verärgert über ihre Unterstellung wie über die Tatsache, dass sie in der Lage gewesen war, auch nur eine Spur meiner Gedanken in meinem Gesicht zu lesen. "Ich verwahre meins hinter Schloss und Riegel."


Da wäre als ältester im Bunde der rebellische Vagabund mit Retterkomplex Nash, der dem Erbe schon vor langer Zeit entsagt hat und seitdem gekleidet in abgewetzten Cowboystiefeln verlorene Seelen nach Hawthorne House schleppt. Als zweitältester lernen wir den steifen Erbe in Spe Grayson kennen, dessen geschäftsmäßiger, glatter Auftritt als gehöre ihm die Welt niemals vermuten lassen würde, dass er erst 19 Jahre alt ist. Der 18jährige Jameson hingegen passt in keine Kategorie und lässt sich am ehesten noch als männliches Pendant zum Manic-Pixie-Dream-Girl beschreiben (stolz darauf anders zu sein, scheint verträumt und nicht von dieser Welt und lässt gleichzeitig kaum etwas anderes als mystisches Chaos durchblicken). Und als jüngster Hawthorne haben wir dann noch Xander, der kreative, geniale Bastler, der aber nichts außer Blaubeerscones ernst zu nehmen scheint. Alle vier sind sie auf ihre ganze eigene Art magisch, hervorstechend und genial, sodass ich mich in jeden einzelnen von ihnen verliebt habe.


"Ihn zu küssen fühlte sich an wie Feuer. Er war nicht sanft und zärtlich, so wie er es gewesen war, als er das Blut und den Schmutzt von mir wegwischte. Ich brauchte weder sanft noch zärtlich. Das hier war genau das, was ich brauchte."


Demnach kann ich es Avery auch nicht verübeln, dass sie sich von mehr als nur einem von ihnen angezogen fühlt und uns damit eine unliebsame Dreiecksgeschichte beschert. Mehr als prickelnde Dialoge und der ein oder andere Kuss passiert hier aber nicht. Diese wohldosierte Prise Romantik, die mindestens genauso viele Fragezeichen, offene Fäden und Zweifel enthält wie die restliche Handlung, gibt der Geschichte eine zusätzliche mitreißende Dynamik und bildet der letzte der sieben Bausteine (I know what you did, Jennifer, jedes gute Rätsel enthält die Zahl sieben 😉).

Das Ende dieses uneingeschränkt empfehlenswerten Auftakts ist leider etwas offen, macht dabei aber umso mehr Lust auf den nächsten Band, der im Juli 2022 erscheinen wird und den Titel "The Inheritance Games - Das Spiel geht weiter" tragen wird. Ich bin schon riesig gespannt, wie es mit Avery und den anderen weitergeht!



Fazit:


Anziehende Aschenputtel-Magie, clevere Rätsel, ein magisches Setting, absurd hohe Spannung, ein ästhetischer Schreibstil, besondere Figuren und die perfekte Prise Romantik - Mit "The Inheritance Games" hat Jennifer Lynn Barnes ein Reihenauftakt geschrieben, dem man sich unmöglich entziehen kann. Uneingeschränkte Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.01.2022

Ein Reihenauftakt, dem man sich unmöglich entziehen kann

The Inheritance Games
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Als ich "The Inheritance Games" in der Verlagsvorschau des cbt Verlags entdeckte, klang der Klapptext fast zu schön, um wahr zu sein: ein überraschendes Milliardenerbe, ein riesiges Haus voller Rätsel ...

Als ich "The Inheritance Games" in der Verlagsvorschau des cbt Verlags entdeckte, klang der Klapptext fast zu schön, um wahr zu sein: ein überraschendes Milliardenerbe, ein riesiges Haus voller Rätsel und eine gefährliche Familie... Schon nach wenigen Kapiteln hat sich mein vorsichtiger Optimismus dann in pures Entzücken verwandelt, denn dieser hochspannende Pageturner konnte meine Erwartungen sogar noch übertreffen...


"Jeder Mensch hat wohl irgendwas, was er unerklärlicherweise attraktiv findet. Anscheinend waren das für mich anzugtragende, silberäugige Typen, die das Wort empirisch in den Mund nahmen und ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass ich wusste, was damit gemeint war."


Schon das Cover ist ein Gesamtkunstwerk! Vor einem waldgrünen Hintergrund ist der Titel in großen goldenen 3D-Buchstaben aufgedruckt. Kunstvoll umrahmt wird der Titel durch allerlei Verzierungen in den beiden Leitfarben dunkelgrün und gold. Zu sehen sind unteranderem ein großer Schlüssel, eine gläserne Ballerina, eine Halskette, ein Messer, eine Krone, Schachfiguren, Rosen und eine Kerze - allesamt wichtige Motive, die in der Geschichte ihren Platz finden. Je länger man dieses detailreiche Gesamtkunstwerk anschaut, desto mehr fällt einem dabei auf. Ein großes Kompliment also an den Verlag, der sich hier glücklicherweise dafür entschieden hat, sowohl das Cover als auch der passende Titel der Originalausgabe beizubehalten.


Erster Satz: "Als ich klein war, dachte meine Mom sich ständig Spiele aus."


"The Inheritance Games" konnte mich so schnell catchen wie schon lange keine Geschichte mehr. Nachdem die Autorin uns kurz einen Eindruck davon verschafft hat, wie der Alltag der 17jährigen Avery aussieht, stellt sie deren Leben in kürzester Zeit auf den Kopf. Schlief sie in der einen Nacht noch in ihrem Auto, um dem übergriffigen Freund ihrer Schwester zu entgehen, bei der sie nach dem Tod ihrer Mutter wohnt, ist sie am anderen Tag die überraschende Erbin des Multimilliardärs Tobias Hawthorne und somit die reichste Teenagerin der Welt. Der einzige Haken an der Sache? Sie hat den Namen Tobias Hawthorne noch nie gehört, kann sich nicht erinnern, ihn jemals getroffen zu haben und ist deshalb auch ahnungslos, warum er ausgerechnet IHR sein gesamtes Vermögen vermachen sollte. Der Familie des alten Philanthropen ist das Auftauchen der Erbin übrigens auch völlig schleierhaft, auch wenn sie von ihm schon allerlei Sperenzchen, Rätsel und Geheimnisse gewohnt sind. Ist Avery also sein letztes großes Rätsel, das letzte Spiel, das er selbst aus dem Grab heraus noch zu spielen weiß, oder steckt mehr dahinter...? Avery ist festentschlossen, genau dies herauszufinden und bekommt dabei Hilfe von den vier Enkeln von Tobias Hawthorne, die alle ein Rätsel für sich sind...


"Alles ist ein Spiel, Avery Grambs. Das Einzige, was wir in diesem Leben entscheiden dürfen, ist, ob wir spielen, um zu gewinnen."
"Dir hat er das Vermögen hinterlassen, Avery. Alles, was er uns hinterlassen hat, bist du."


Jennifer Lynn Barnes Reihenauftakt erzählt in 91 sehr kurzen Kapiteln eine facettenreiche und hochspannende Geschichte über Rätsel, Familie, Liebe und Geheimnisse, deren Anziehungskraft auf verschiedenen Bausteinen beruht. Zunächst hätten wir den "reich über Nacht"-Trope, welcher denke ich auf die allermeisten LeserInnen für sich schon einen großen Reiz ausübt, da es kaum eine Person gibt, die sich nicht schonmal ausgemalt hat, was man tun würde, wenn man im Lotto gewinnen würde. Hier geht es jedoch nicht nur um die schillernde Welt des Reichtums, sondern auch um die Verantwortung, die diese Macht mit sich bringt, sodass auch einige interessante Denkanstöße in der Geschichte zu finden sind. Allein der aschenputtelartige Aufstieg Averys nach der schicksalshaften Testamentsverkündung, wo sie sich plötzlich mit Paparazzi, Umstylings, Investitionen, Stiftungen und Galas auseinandersetzen muss, wäre also schon lesenswert. Dabei belässt es die Autorin aber natürlich nicht und schickt ihre Protagonistin auf eine Rätseljagd quer über das Anwesen, um dem alten Gönner auf die Schliche zu kommen und herauszufinden, was für ein Spiel mit ihr gespielt wird.


"Jameson hatte von Anfang an gesagt ich sei besonders. Mir war bis jetzt nicht klar gewesen, wie sehr ich glauben wollte, dass er damit recht hatte. Dass ich nicht unsichtbar war, kein bloßer Bildschirmschoner. Ich wollte glauben, dass Tobias Hawthorne etwas in mir gesehen hatte, etwas, das ihm gesagt hatte, dass ich das hier tun könnte, dass ich klarkommen könnte mit den Blicken und dem Rampenlicht, der Verantwortung, den Rätseln, den Drohungen... mit allen, Ich wollte etwas bedeuten."


Der zweite Baustein, auf den sich diese Geschichte stützt, ist die verschachtelte und hochspannend erzählte Suche nach Antworten. Hinter jeder Ecke lauert eine Falltür, ein Anagramm in einem Brief, ein versteckter Hinweis oder eine clever geplante Intrige gegen Avery, sodass man das Buch kaum noch aus der Hand legen kann. Die absurde Spannung des Buches wird auch durch die kurzen Kapiteln unterstützt. Als Kapitelleserin bin ich sowieso ein großer Freund von kurzen Kapiteln. Die Autorin treibt das hier aber auf die Spitze und setzt uns Kapitel vor, die oft nur 3-5 Seiten aufweisen, um das Erzähltempo weiter zu steigern. Dabei stellt sich bald eine Art "Escape-Room-Feeling" ein. Man hangelt sich gemeinsam mit den Figuren von einem Hinweis zum nächsten und kann es kaum erwarten, herauszufinden, wo die ausgestreute Brotkrumenspur uns am Ende hinführen wird. Manche der Geheimnis, Intrigen und Rätsel errät man dabei schon vor der Protagonistin, auf andere Wendungen wäre man niemals gekommen.


"Du glaubst wohl, dass du das Spiel spielst, Darling, aber das ist nicht, wie Jamie die Sache sieht." Nash Stimme war sanft, anders als seine Worte. "Wir sind nicht normal. Dieser Ort ist nicht normal und du bist keine Spielerin, Kleines. Du bist die gläserne Ballerina... oder das Messer."


Begleitet wird diese prickelnde Mischung von einem Setting, in dem alles, wirklich ALLES möglich scheint und in dem man niemandem so wirklich trauen kann. Zu Beginn nimmt Avery den Fakt, dass mehrere Milliarden auf dem Spiel stehen, nur am Rande wahr. Als dann jedoch ein Mordversuch auf sie verübt wird, beginnt sie jeden zu hinterfragen, denn wer weiß, was selbst die eigene Schwester für so eine irrsinnige Summe tun würde... Trotz dass keine einzige übernatürliche Sache passiert, scheint Hawthorne Haus wie ein eigenes, magisches Universum zu sein und über allem schwebt eine beinahe mystische, faszinierende Atmosphäre. Geheimgänge, versteckte Schubladen, Zahlenkombinationen in der Dekoration, Falltüren, Tunnels, zugemauerte Flügel, mehrere Bibliotheken, schrullige Bewohner und natürlich eine Menge dunkle Geheimnisse - das ist die Szenerie, in der sich die Geschichte abspielt. Und diese wird durch Jennifer Lynn Barnes intensiven Schreibstil zum Leben erweckt. An mehr als einer Stelle habe ich einen ganzen Absatz einfach erneut gelesen, weil er in mir wunderschöne Bilder hervorgerufen hat, die an Aestetics -Reels erinnern, die man häufig zu Fantasyreihen auf Instagram oder TikTok sieht.


"Wenn du klug wärst", warnte er leise, würdest du dich von Jameson fernhalten. Und vom Spiel." Er senkte den Blick. "Von mir." Tiefe Gefühle zuckten über sein Gesicht, aber er kaschierte sie, bevor ich erkennen konnte, was genau er da fühlte. "Thea hat recht", sagte er schneidend, wobei er sich von mir abwandte, sich von mir entfernte. "Diese Familie... wir zerstören alles, was wir berühren."


Das allerbeste an "The Inheritance Games" sind jedoch nicht die Aschenputtel-Magie, die cleveren Rätsel, das magische Setting, die absurd hohe Spannung, oder der ästhetische Schreibstil. Es sind die Figuren. Ich weiß nicht wieso (oder ich habe da einen fundamentalen Wahrnehmungsfehler), aber die Figuren, die von PsychologInnen geschrieben und konzipiert wurden, sind einfach nochmal eine ganze Ecke... krasser. Beginnen wir mal mit der Hauptprotagonistin und Ich-Erzählerin Avery. Diese ist eine sehr sympathische Heldin - clever, schlagfertig, das Herz am richtigen Fleck und sehr reflektiert -, die mir sofort ans Herz gewachsen ist, mich aber alleine noch nicht ins Schwärmen bringen würde. Mir gefällt gut, dass sie zwischen der wilden Rätseljagd noch genügend Zeit erhält, die plötzlichen Veränderungen in ihrem Leben zu verarbeiten, denke aber, dass sie noch einen weiten Weg vor sich hat. Auch wenn sie wirklich toll ist und ich gerne öfters von Protagonistinnen lesen will, die nicht naiv sind, sich benutzen lassen und sich ständig retten lassen müssen, stehlen ihr vier andere Figuren leider ziemlich dreist die Show: die Hawthorne Enkel.


"Nimm bitte den Rat von jemandem an, der es bereits ausprobiert und hinter sich gebracht hat - verliere nie dein Herz an einen Hawthorne."
"Keine Sorge", erwiderte ich, gleichmäßig verärgert über ihre Unterstellung wie über die Tatsache, dass sie in der Lage gewesen war, auch nur eine Spur meiner Gedanken in meinem Gesicht zu lesen. "Ich verwahre meins hinter Schloss und Riegel."


Da wäre als ältester im Bunde der rebellische Vagabund mit Retterkomplex Nash, der dem Erbe schon vor langer Zeit entsagt hat und seitdem gekleidet in abgewetzten Cowboystiefeln verlorene Seelen nach Hawthorne House schleppt. Als zweitältester lernen wir den steifen Erbe in Spe Grayson kennen, dessen geschäftsmäßiger, glatter Auftritt als gehöre ihm die Welt niemals vermuten lassen würde, dass er erst 19 Jahre alt ist. Der 18jährige Jameson hingegen passt in keine Kategorie und lässt sich am ehesten noch als männliches Pendant zum Manic-Pixie-Dream-Girl beschreiben (stolz darauf anders zu sein, scheint verträumt und nicht von dieser Welt und lässt gleichzeitig kaum etwas anderes als mystisches Chaos durchblicken). Und als jüngster Hawthorne haben wir dann noch Xander, der kreative, geniale Bastler, der aber nichts außer Blaubeerscones ernst zu nehmen scheint. Alle vier sind sie auf ihre ganze eigene Art magisch, hervorstechend und genial, sodass ich mich in jeden einzelnen von ihnen verliebt habe.


"Ihn zu küssen fühlte sich an wie Feuer. Er war nicht sanft und zärtlich, so wie er es gewesen war, als er das Blut und den Schmutzt von mir wegwischte. Ich brauchte weder sanft noch zärtlich. Das hier war genau das, was ich brauchte."


Demnach kann ich es Avery auch nicht verübeln, dass sie sich von mehr als nur einem von ihnen angezogen fühlt und uns damit eine unliebsame Dreiecksgeschichte beschert. Mehr als prickelnde Dialoge und der ein oder andere Kuss passiert hier aber nicht. Diese wohldosierte Prise Romantik, die mindestens genauso viele Fragezeichen, offene Fäden und Zweifel enthält wie die restliche Handlung, gibt der Geschichte eine zusätzliche mitreißende Dynamik und bildet der letzte der sieben Bausteine (I know what you did, Jennifer, jedes gute Rätsel enthält die Zahl sieben 😉).

Das Ende dieses uneingeschränkt empfehlenswerten Auftakts ist leider etwas offen, macht dabei aber umso mehr Lust auf den nächsten Band, der im Juli 2022 erscheinen wird und den Titel "The Inheritance Games - Das Spiel geht weiter" tragen wird. Ich bin schon riesig gespannt, wie es mit Avery und den anderen weitergeht!



Fazit:


Anziehende Aschenputtel-Magie, clevere Rätsel, ein magisches Setting, absurd hohe Spannung, ein ästhetischer Schreibstil, besondere Figuren und die perfekte Prise Romantik - Mit "The Inheritance Games" hat Jennifer Lynn Barnes ein Reihenauftakt geschrieben, dem man sich unmöglich entziehen kann. Uneingeschränkte Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 14.11.2021

Eine mitreißende, intelligente und atmosphärische Geschichte!

Das Reich der sieben Höfe – Silbernes Feuer
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Dass ich monatelang sehnlichst auf den Erscheinungstermin dieses Spin-Offs gewartet und gespannt die Tage bis zum Veröffentlichungstermin gezählt habe, muss ich also großer Sarah-J.-Maas-Fan eigentlich ...

Dass ich monatelang sehnlichst auf den Erscheinungstermin dieses Spin-Offs gewartet und gespannt die Tage bis zum Veröffentlichungstermin gezählt habe, muss ich also großer Sarah-J.-Maas-Fan eigentlich gar nicht mehr sagen. Um optimal auf die Geschichte vorbereitet zu sein, habe ich durch einen Reread der kompletten "Das Reich der sieben Höfe"-Saga in den letzten Wochen meine Erinnerungen nochmal aufgefrischt und konnte letzte Woche dann voll hyped und emotional fest am Hof der Nacht angedockt in die Geschichte von Nesta und Cassian einsteigen. Mit "Das Reich der sieben Höfe - Silbernes Feuer" hat die Queen-of-Fantasy ein weiteres Mal bewiesen, dass sich hochkomplexe Fantasy und charakterzentrierter Liebesepos nicht ausschließen und hat (auch wenn mir das vorab kaum möglich erschien) nochmal deutlich an Gefühlsintensität und Charaktertiefe zugelegt. Was Spannung und Epos der eigentlichen Handlung angeht kann dieses Spin-Off der Originaltrilogie rund um Feyre aber leider nicht das Wasser reichen. Dennoch: "Silbernes Feuer" reiht sich in das Gesamtkunstwerk der Acotar-Saga ein und gehört damit unumstritten zu den Jahreshighlights des Lesejahres 2021. Und so stimme ich einem der Figuren absolut zu, wenn sie sagt: "Unsere Geschichten sind es wert, wert zählt zu werden."

Das Cover reiht sich hinsichtlich der Gestaltung ganz wunderbar in die Reihe ein, wirkt jedoch deutlich weniger verspielt. War Feyre immer in einem mädchenhaften Kleid in buntem Setting vor hellem Hintergrund zu sehen, hebt sich Nestas königliche Silhouette in einem für sie typischen blauen Kleid und mit Hochsteckfrisur hier von einem sehr düsteren Hintergrund ab und silberne Blätter Rahmen das deutlich kühlere Bild. Insgesamt vermittelt das Cover mit dem wunderhübschen, durchsichtigen Buchumschlag eine düstere, magische und leicht sinnliche Atmosphäre mit einem Hauch Untergang und Dunkelheit. Ein deutliches, stilistisches Upgrade ist auch bei der Karte Prythians zu verzeichnen, welche wie bei den Vorgängern der Saga vorne angefügt ist. Anstatt der weißen, grob angerissenen Kontinente und Länder sind hier nun viele Details und Verzierungen eingezeichnet, die insgesamt das ab Band 1 mit jedem weiteren Teil stark gewachsene Wordbuilding gut verkörpert.


"Ich bin der Fels, an dem die Brandung zerschellt", flüsterte Gwyn. Bei diesen Worten straffte Nesta die Schultern, als handelte es sich um ein Gebet, ein Schlachtruf. Gwyn hob die Klinge. "Nichts kann mich brechen" Der Anblick schnürte Cassian die Kehle zu, und selbst von der anderen Seite des Trainingsplatzes konnte er sehen, wie Nestas Augen vor Stolz und Schmerz funkelten. "Nicht kann uns brechen", sagte Emerie. Die Welt schien stillzustehen bei diesen Worten. Als wäre sie einem Weg gefolgt und würde nun in eine andere Richtung abzweigen, dachte Cassian. In hundert, in tausend Jahren würde dieser Moment noch immer in sein Gedächtnis eingebrannt sein. Er würde seinen Kindern und seinen Enkelkindern erzählen: Dort, in diesem Moment, hat sich alles verändert."


Denn: Manche Fantasy-Welten werden einmal aufgebaut und dann spielt sich die Handlung in diesem statischen Bühnenbild ab. Doch nicht bei der "Das Reich der sieben Höfe"-Reihe. Ständig verändert sich der Fokus, der Blickwinkel, der Handlungsort der Geschichte, es werden neue Dinge aufgenommen, bestehende ändern sich - eine stetige Entwicklung, die die Geschichte so perfekt und schlüssig erweitert, dass aus dem roten Fanden, ein rotes Band wird. Das ist eine Fähigkeit, für die ich Sarah J. Maas immer bewundern werde: ihre zusammenhängende Darstellung der Welt, die immer komplexer, verschachtelter und geheimnisvoller wird, mit jedem Charakter und Handlungsstrang, der dazukommt. Dabei verliert sie nie das Wesentliche aus den Augen und überlädt die Story auch nicht - sie pickt sich einzelne interessante Aspekte gekonnt heraus, welche dann weitergesponnen und vernetzt werden, bis ein umwerfendes Gesamtergebnis entsteht! Wie für die ganze Reihe gibt es ein Wort, das ihr erstaunliches Talent Worte in Sätzen so zu platzieren, dass sie der Geschichte alleine durch den Schreibstil ein imposantes Auftreten verleihen, super beschreibt: EPISCH. Durch ihre teils sehr außergewöhnliche Wahl der Worte und einer intensiven Szenenbeschreibung, fühlt man sich oft, als würde man einem Film zusehen, der vor den eigenen Augen abläuft. Ein wunderbarer Film voller Action, Gefühle und Hintergrund und mit genialen Schauspielern... Ein ebensolcher Wechsel des Blickwinkels stellt dieses Spin-Off dar, welches sich nun auf Cassian und Nesta konzentriert und das Gesamtkunstwerk der Reihe noch reichhaltiger macht.


Erster Satz: "Das schwarze Wasser an ihren um sich tretenden Füßen war eiskalt."


"Das Reich der sieben Höfe - Silbernes Feuer" knüpft etwa ein Jahr nach dem Ende von "Das Reich der sieben Höfe - Sterne und Schwerter" an und greift im großen Handlungskontext genau wie im Zwischenteil "Das Reich der sieben Höfe - Frost und Mondlicht" schon angedeutet den Konflikt mit den sterblichen Königinnen des Kontinents wieder auf. Denn auch wenn Feyre, Rhysand und ihr innerer Kreis an Verbündeten den König von Hybern erfolgreich besiegt und Frieden über das Land der Fae gebracht haben, herrscht noch lange keine Einigkeit in Prythian. Kurzfristig durch den großen Krieg geeint gehen die High Lords des Landes wieder ihren eigenen Weg, die Beziehung der Fae zu den Menschen ist so angespannt wie noch nie und auch auf dem Kontinent werden kriegstreiberische Stimmen laut. Es gibt also wieder einiges zu tun für unseren liebgewonnenen Hof der Nacht und da neben dem ganzen höfischen Trubel auch noch schreckliche magische Artefakte auf den Plan treten, dürfen wir uns auch in diesem Spin-Off wieder über epische Abenteuer freuen.

Im Zentrum dieser Fortführung stehen jedoch weniger die großen, settingübergreifenden Konflikte, sondern mehr die zwischenmenschlichen und innerpersonellen. Kriegstrauma, Verlust, sexualisierte Gewalt, Emanzipation, Selbstliebe, Partnerschaft und Freundschaft - das sind die überraschenden Hauptthemen dieses Spin-Offs, welches nochmal deutlich tiefer in das Innenleben der Hauptfigur einsteigt, als das sowieso bei Feyre schon der Fall war. Anders als ich das zu Beginn erwartet hatte, zieht Sarah J. Maas einen großen Anteil der 816 Seiten dazu heran, Nestas inneren Heilungsprozess auszubreiten und räumt sich dadurch genügend Raum frei für eine der unglaublichsten Charakterentwicklungen, von denen ich jemals gelesen habe. Passend zu diesem Charakterfokus ist der Roman in vier Teile geteilt, die jeweils einen Entwicklungsabschnitt betiteln. In Teil 1, "Novizin", treffen wir auf eine abweisende, eiskalte Protagonistin, die genau wie ihre Liebsten auch den Leser erstmal mit ihrer verletzenden Fassade abschreckt. Schon in der Trilogie hat sie mit diesem Verhalten gleichermaßen Neugierde und Verachtung bei mir ausgelöst. Erst nach und nach blicken wir hinter eben jene Fassade, erkennen die Tiefe ihres Traumas, ihres Selbsthasses und ihrer Schuldgefühle und steigen mit ihr zusammen in den Abgrund ihrer Gefühls- und Gedankenwelt hinab.


"Sie hatten sie allesamt den Wölfen zum Fraß vorgeworfen - drei Kinder und einen gebrochenen Mann. Also hatte Nesta sich selbst in einen Wolf verwandelt. Sich mit unsichtbaren Zähnen und Klauen bewehrt und gelernt, schneller, härter und tödlicher zuzuschlagen als jeder andere. Hatte es sogar genossen. Doch als der Moment kam, den Wolf abzulegen, hatte sie feststellen müssen, dass er auch sie mit Haut und Haaren verschlungen hatte."


Im zweiten Abschnitt der Handlung, "Klinge", nach dem schon gute 300 schwermütige Seiten vergangen sind, beginnt Nesta dann zu kämpfen, ihre gesamte Palette an Emotionen in das Kampftraining mit Cassian zu kanalisieren und knüpft zarte Banden Freundschaft mit zwei Frauen, die ebenfalls Schlimmes durchleben mussten. Die Illyrianerin Emerie und die Priesterin Gwyn haben es genau wie Nesta satt, hilflose Opfer zu sein und kämpfen sich durch ihre eigenen Dämonen hindurch zu geistiger Klarheit und Entschlossenheit. Beide sind mir auf dem steinigen Weg des Trios sehr ans Herz gewachsen und auch ihre Freundschaft hat etwas in mir zum Blühen gebracht. Die größte Inspiration war für mich aber die unfassbare Stärke, Unerschrockenheit und pure Willenskraft, die Nesta zu großen und kleinen Wundern antreibt. Trotz des personalen Er-Erzählers, der hier zwischen Cassian und Nesta wechselte und an den ich mich nach der offenherzigen Ich-Erzählerin der Haupttrilogie erstmal gewöhnen musste, habe ich mich Nesta so nahe gefühlt wie schon lange keiner fiktionalen Figur mehr.


"Ich will nicht länger den sicheren Weg gehen." Sie zeigte auf den Berg, auf den schmalen Pfad nach oben. "Ich will diesen Weg gehen." Ihre Stimme wurde eindringlicher. "Den Weg, auf den sich keiner wagt, und ich will ihn mit euch gehen. (...) Wir gewinnen, um allen zu zeigen, dass etwas Neues genauso mächtig und unumstößlich sein kann wie die alten Gesetze. Dass dieses Etwas, das noch niemand gesehen hat - nicht ganz Walküre, nicht ganz Illyrianer -, das Blutritual gewinnen kann." "Nein", sagte Nesta schließlich. "Wir gewinnen, um uns selbst zu beweisen, dass wir es schaffen können."


Bis das Trio im dritten Teil der Geschichte "Walküren" sind und schließlich in Teil vier "Ataraxia" (- inneren Frieden) erreichen, haben sie aber noch einen weiten Weg vor sich, der gepflastert ist mit Enttäuschungen, Muskelkater, Sexismus, altem Ballast und dem ein oder anderen magischen Hindernis. Neben den High Lords Prythians, den Königinnen, neuen magische Artefakte und uralten Kreaturen im Gefängnis des Hofs der Nacht tritt hier nämlich auch unter anderem ein Haus auf und spielt eine wichtige Rolle (ja, Ihr habt richtig gehört, ein HAUS - diese Autorin schafft es einfach, dass man selbst eigentlich unbelebte Objekte lieben lernt). Aller Magie zum Trotz - bis zum Beginn des letzten Teiles, in dem wir dann wie gewohnt viel epische Kampfszenen und Action serviert bekommen, ist die Handlung weitläufig eigentlich wenig spektakulär. Die "Queen of Fantasy" spielt hier wie bereits erwähnt vor allem mit den inneren Dämonen ihrer Charaktere und setzt auf die brodelnde Vorkriegsstimmung, die unter anderem von unheilvollen Ankündigungen, überraschenden Wendungen und der Dynamik der Charaktere lebt. Das Ende und die inhaltliche Jagd nach den Artefakten hätte für meinen Geschmack zwar gerne umfangreicher sein können und ich verstehe auch dahingehend die Kritik einiger LeserInnen. Da mir die langsame Charakterentwicklung Nestas aber so unglaublich gut gefallen hat, bin ich aber trotzdem sehr zufrieden damit, wie sich die Handlungsbalance gestaltet.


"So vieles aus der Vergangenheit ist verloren gegangen, aber die Erinnerung an seine Tapferkeit bleibt." Genau wie Cassians Name in die Geschichte eingehen würde, dachte Nesta. Und ihrer? Tief in ihrem Inneren wünschte sie es sich."


Neben dem großen Handlungskontext und Nestas Charakterentwicklung hat Sarah J. Maas ihrem Spin-Off nämlich noch eine weitere Komponente zugesetzt, die garantiert jegliche Langeweile vertreibt: die Liebesgeschichte zwischen Cassian und Nesta. Da die beiden schon in der Trilogie ganz schön viele Funken versprüht haben, hatte ich mich bereits auf eine leidenschaftliche Liebesgeschichte zwischen Verlangen, Hass, Liebe, Ablehnung, Kontrolle und Macht eingestellt. Aber was die Autorin hier in den guten 800 Seiten entrollt, ... uff, das hätte ich so niemals erwartet. Um es kurz zu machen: es wird steamy. Und mit "steamy" meine ich seitenweise erotische Eskapaden und jede Menge dirty talk. Konnte man die Erotik der Reihe bislang auf wenigen grob angerissenen Seiten zusammenfassen, wird die Autorin hier deutlich mutiger und scheut sich auch nicht vor sehr expliziten Schilderungen.


"Sie hob die Laterne höher und blies sie aus. Ließ die Dunkelheit kommen, begrüßte sie. "Ich habe keine Angst", flüsterte sie in die Finsternis hinein. "Du bist mein Freund und mein Zuhause."


Auch die Sprache an sich wird deutlich derber. Ob das am Wechsel des ÜbersetzerInnen-Duos liegt, oder ob es von der Autorin gewollt war, kann ich nicht sagen. Feststeht: Da Sarah J. Maas´ Erzählmagie alles in allem erhalten bleibt und der herbere Umgangston gut zu Cassian und Nesta passt, will ich mich nicht mit langen Beschwerden aufhalten. Es ist auch nicht so, dass sich die Beziehung der beiden auf Sexeskapaden beschränken würde. Im Gegenteil: genau wie Feyre und Rhysand verbindet die beiden eine sehr große Nähe und Verbundenheit, sodass die Liebe genau wie die Anziehungskraft fast mit Händen zu greifen ist. Cassian ist zwar kein zweiter Rhysand (als könnte es so etwas jemals geben), mir mit seinem Humor, seiner Lockerheit, seiner Arroganz, die über einige seit 500 Jahren gehegten Selbstzweifel hinwegtäuschen soll und dem tapferen Herzen eines wahren Helden aber wahnsinnig ans Herz gewachsen. Unterm Strich fand ich also, dass sich die stark aufgeladene Stimmung zwischen den beiden, stimmig in das Gesamtkonzept einfügt, kann aber auch die negativen Stimmen verstehen, die sich einen stärkeren Fokus auf die Handlung gewünscht hätten.


"Deine Kraft ist ein Lied, und ich habe sehr, sehr lange darauf gewartet, dieses Lied zu hören, Nesta."


Ein weiterer Punkt, in dem ich die vereinzelten Kritiken absolut nachvollziehen kann, welcher aber ebenfalls nicht dazu geführt hat, dass ich "Silbernes Feuer" weniger geliebt hätte ist die geringe Präsenz der Nebenfiguren. Wie bereits erwähnt kehren wir hier zwar nach Velaris, an den Hof der Nacht zurück und treffen so auch auf alle liebgewonnene Figuren. Auch wenn einige neue Entwicklungen und Herausforderungen kurz angedeutet werden (Spoiler: OMG, wer ist noch soooo begeistert von Feysand als Eltern und dem inneren Kreis als Onkels und Tanten?!? Und Baby Nyx - ich will unbedingt mehr von ihm lesen!!!) bezieht die Autorin den inneren Kreis hier nicht so stark ein, wie in der Trilogie und konzentriert sich in erster Linie auf Cassian, Nesta und deren zwei neue Freundinnen. Ich kann durchaus verstehen, dass Sarah J. Maas hier Nesta genügend Raum geben wollte, um ihren eigenen Platz in der neuen Welt der Fae zu finden und außerdem mit ihrer zu Beginn sehr negativen Beziehung und Sicht auf unsere anderen Lieblinge diese in ein nicht zu negatives Licht rücken lassen wollte (Spoiler: Ich habe zeitweise schon bemerkt, wie ich durch Nestas Sicht Mor, Feyre, Elain und sogar Rhys weniger heftig geliebt habe, als das in der Trilogie der Fall gewesen war), etwas mehr Interaktionen mit Elain, Amren, Mor, Azriel, Feyre und unserem liebsten High Lord hätten mich aber trotzdem gefreut.


"Welche Kraft hat sie", fragte Azriel. "Die des Todes", wisperte Rhys mit noch immer zitternden Händen. Dann stand er auf und ging zum Fenster, das sich gerade Scherbe für Scherbe selbst wieder zusammensetzte. Der High Lord des Hofs der Nacht ward einen Blick auf die schlafende Gestalt auf dem Bett, und Furcht zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. "Sie besitzt die Kraft des blanken Todes."


Vor allem Azriel, Mor und Elain kommen hier noch deutlich zu kurz. Während Rhys und Feyre, Amren und Varian, Nesta und Cassian schon ihren Platz gefunden haben und ihren Weg gegangen sind, bleiben bezüglich dieser drei noch eine Menge Fragen und Anknüpfungspunkte offen. Kann Mor endlich zu ihrer Sexualität stehen? Schafft es Azriel, sich von seiner jahrhundertlangen Schwärmerei für Mor zu lösen und in die Zukunft zu blicken? Ist die Verbundenheit zwischen Elain und ihm Liebe, oder Freundschaft? Wie steht es um die Seelenbeziehung zwischen Elain und Lucien? Hat ihr Gefährte noch die Chance ihr Herz zu gewinnen, oder bahnt sich für Lucien vielleicht etwas mit der menschlichen Königin Vassa an? Zusammen mit einigen handlungstechnischen Fragen, die am Ende noch offenbleiben und geradezu um eine Fortsetzung betteln sehe ich einen Spin-Off Roman über Azriel, Mor und Elain als logische Konsequenz der gesamten Reihe und bete nun zum Kessel, zur großen Mutter und allen Göttern der alten Welt, dass Sarah J. Maas diese Fragen tatsächlich zeitnah in einer weiteren Fortsetzung beantwortet. Ich bin nämlich noch lange nicht bereit, dieses Universum zu verlassen und denke, dass es da einigen LeserInnen ähnlich geht.


"Nie wieder. Nie wieder würde sie schwach sein. Nie wieder würde sie jemandem ausgeliefert sein. Nie wieder würde sie versagen. Nie wieder, nie wieder, nie wieder."




Fazit:


"Das Reich der sieben Höfe - Silbernes Feuer" ermöglicht uns die Rückkehr nach Prythian und zu heißgeliebten Figuren und knüpft hinsichtlich Schreibstil und Setting wunderbar an das Gesamtkunstwerk der Originaltrilogie an. Durch den stärkeren Fokus auf Nestas Charakterentwicklung und die deutlich explizitere Liebesgeschichte gewinnt dieses Spin-Off an Gefühlsintensität und Charaktertiefe, kann hinsichtlich Spannung und Epos der eigentlichen Handlung der Originaltrilogie rund um Feyre aber leider nicht ganz das Wasser reichen. Nichtsdestotrotz gibt es volle und hochverdiente 5 Sterne für diese mitreißende, intelligente und atmosphärische Geschichte!

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  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.11.2021

Eine mitreißende, intelligente und atmosphärische Geschichte!

Das Reich der sieben Höfe – Teil 5: Silbernes Feuer
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Dass ich monatelang sehnlichst auf den Erscheinungstermin dieses Spin-Offs gewartet und gespannt die Tage bis zum Veröffentlichungstermin gezählt habe, muss ich also großer Sarah-J.-Maas-Fan eigentlich ...

Dass ich monatelang sehnlichst auf den Erscheinungstermin dieses Spin-Offs gewartet und gespannt die Tage bis zum Veröffentlichungstermin gezählt habe, muss ich also großer Sarah-J.-Maas-Fan eigentlich gar nicht mehr sagen. Um optimal auf die Geschichte vorbereitet zu sein, habe ich durch einen Reread der kompletten "Das Reich der sieben Höfe"-Saga in den letzten Wochen meine Erinnerungen nochmal aufgefrischt und konnte letzte Woche dann voll hyped und emotional fest am Hof der Nacht angedockt in die Geschichte von Nesta und Cassian einsteigen. Mit "Das Reich der sieben Höfe - Silbernes Feuer" hat die Queen-of-Fantasy ein weiteres Mal bewiesen, dass sich hochkomplexe Fantasy und charakterzentrierter Liebesepos nicht ausschließen und hat (auch wenn mir das vorab kaum möglich erschien) nochmal deutlich an Gefühlsintensität und Charaktertiefe zugelegt. Was Spannung und Epos der eigentlichen Handlung angeht kann dieses Spin-Off der Originaltrilogie rund um Feyre aber leider nicht das Wasser reichen. Dennoch: "Silbernes Feuer" reiht sich in das Gesamtkunstwerk der Acotar-Saga ein und gehört damit unumstritten zu den Jahreshighlights des Lesejahres 2021. Und so stimme ich einem der Figuren absolut zu, wenn sie sagt: "Unsere Geschichten sind es wert, wert zählt zu werden."

Das Cover reiht sich hinsichtlich der Gestaltung ganz wunderbar in die Reihe ein, wirkt jedoch deutlich weniger verspielt. War Feyre immer in einem mädchenhaften Kleid in buntem Setting vor hellem Hintergrund zu sehen, hebt sich Nestas königliche Silhouette in einem für sie typischen blauen Kleid und mit Hochsteckfrisur hier von einem sehr düsteren Hintergrund ab und silberne Blätter Rahmen das deutlich kühlere Bild. Insgesamt vermittelt das Cover mit dem wunderhübschen, durchsichtigen Buchumschlag eine düstere, magische und leicht sinnliche Atmosphäre mit einem Hauch Untergang und Dunkelheit. Ein deutliches, stilistisches Upgrade ist auch bei der Karte Prythians zu verzeichnen, welche wie bei den Vorgängern der Saga vorne angefügt ist. Anstatt der weißen, grob angerissenen Kontinente und Länder sind hier nun viele Details und Verzierungen eingezeichnet, die insgesamt das ab Band 1 mit jedem weiteren Teil stark gewachsene Wordbuilding gut verkörpert.


"Ich bin der Fels, an dem die Brandung zerschellt", flüsterte Gwyn. Bei diesen Worten straffte Nesta die Schultern, als handelte es sich um ein Gebet, ein Schlachtruf. Gwyn hob die Klinge. "Nichts kann mich brechen" Der Anblick schnürte Cassian die Kehle zu, und selbst von der anderen Seite des Trainingsplatzes konnte er sehen, wie Nestas Augen vor Stolz und Schmerz funkelten. "Nicht kann uns brechen", sagte Emerie. Die Welt schien stillzustehen bei diesen Worten. Als wäre sie einem Weg gefolgt und würde nun in eine andere Richtung abzweigen, dachte Cassian. In hundert, in tausend Jahren würde dieser Moment noch immer in sein Gedächtnis eingebrannt sein. Er würde seinen Kindern und seinen Enkelkindern erzählen: Dort, in diesem Moment, hat sich alles verändert."


Denn: Manche Fantasy-Welten werden einmal aufgebaut und dann spielt sich die Handlung in diesem statischen Bühnenbild ab. Doch nicht bei der "Das Reich der sieben Höfe"-Reihe. Ständig verändert sich der Fokus, der Blickwinkel, der Handlungsort der Geschichte, es werden neue Dinge aufgenommen, bestehende ändern sich - eine stetige Entwicklung, die die Geschichte so perfekt und schlüssig erweitert, dass aus dem roten Fanden, ein rotes Band wird. Das ist eine Fähigkeit, für die ich Sarah J. Maas immer bewundern werde: ihre zusammenhängende Darstellung der Welt, die immer komplexer, verschachtelter und geheimnisvoller wird, mit jedem Charakter und Handlungsstrang, der dazukommt. Dabei verliert sie nie das Wesentliche aus den Augen und überlädt die Story auch nicht - sie pickt sich einzelne interessante Aspekte gekonnt heraus, welche dann weitergesponnen und vernetzt werden, bis ein umwerfendes Gesamtergebnis entsteht! Wie für die ganze Reihe gibt es ein Wort, das ihr erstaunliches Talent Worte in Sätzen so zu platzieren, dass sie der Geschichte alleine durch den Schreibstil ein imposantes Auftreten verleihen, super beschreibt: EPISCH. Durch ihre teils sehr außergewöhnliche Wahl der Worte und einer intensiven Szenenbeschreibung, fühlt man sich oft, als würde man einem Film zusehen, der vor den eigenen Augen abläuft. Ein wunderbarer Film voller Action, Gefühle und Hintergrund und mit genialen Schauspielern... Ein ebensolcher Wechsel des Blickwinkels stellt dieses Spin-Off dar, welches sich nun auf Cassian und Nesta konzentriert und das Gesamtkunstwerk der Reihe noch reichhaltiger macht.


Erster Satz: "Das schwarze Wasser an ihren um sich tretenden Füßen war eiskalt."


"Das Reich der sieben Höfe - Silbernes Feuer" knüpft etwa ein Jahr nach dem Ende von "Das Reich der sieben Höfe - Sterne und Schwerter" an und greift im großen Handlungskontext genau wie im Zwischenteil "Das Reich der sieben Höfe - Frost und Mondlicht" schon angedeutet den Konflikt mit den sterblichen Königinnen des Kontinents wieder auf. Denn auch wenn Feyre, Rhysand und ihr innerer Kreis an Verbündeten den König von Hybern erfolgreich besiegt und Frieden über das Land der Fae gebracht haben, herrscht noch lange keine Einigkeit in Prythian. Kurzfristig durch den großen Krieg geeint gehen die High Lords des Landes wieder ihren eigenen Weg, die Beziehung der Fae zu den Menschen ist so angespannt wie noch nie und auch auf dem Kontinent werden kriegstreiberische Stimmen laut. Es gibt also wieder einiges zu tun für unseren liebgewonnenen Hof der Nacht und da neben dem ganzen höfischen Trubel auch noch schreckliche magische Artefakte auf den Plan treten, dürfen wir uns auch in diesem Spin-Off wieder über epische Abenteuer freuen.

Im Zentrum dieser Fortführung stehen jedoch weniger die großen, settingübergreifenden Konflikte, sondern mehr die zwischenmenschlichen und innerpersonellen. Kriegstrauma, Verlust, sexualisierte Gewalt, Emanzipation, Selbstliebe, Partnerschaft und Freundschaft - das sind die überraschenden Hauptthemen dieses Spin-Offs, welches nochmal deutlich tiefer in das Innenleben der Hauptfigur einsteigt, als das sowieso bei Feyre schon der Fall war. Anders als ich das zu Beginn erwartet hatte, zieht Sarah J. Maas einen großen Anteil der 816 Seiten dazu heran, Nestas inneren Heilungsprozess auszubreiten und räumt sich dadurch genügend Raum frei für eine der unglaublichsten Charakterentwicklungen, von denen ich jemals gelesen habe. Passend zu diesem Charakterfokus ist der Roman in vier Teile geteilt, die jeweils einen Entwicklungsabschnitt betiteln. In Teil 1, "Novizin", treffen wir auf eine abweisende, eiskalte Protagonistin, die genau wie ihre Liebsten auch den Leser erstmal mit ihrer verletzenden Fassade abschreckt. Schon in der Trilogie hat sie mit diesem Verhalten gleichermaßen Neugierde und Verachtung bei mir ausgelöst. Erst nach und nach blicken wir hinter eben jene Fassade, erkennen die Tiefe ihres Traumas, ihres Selbsthasses und ihrer Schuldgefühle und steigen mit ihr zusammen in den Abgrund ihrer Gefühls- und Gedankenwelt hinab.


"Sie hatten sie allesamt den Wölfen zum Fraß vorgeworfen - drei Kinder und einen gebrochenen Mann. Also hatte Nesta sich selbst in einen Wolf verwandelt. Sich mit unsichtbaren Zähnen und Klauen bewehrt und gelernt, schneller, härter und tödlicher zuzuschlagen als jeder andere. Hatte es sogar genossen. Doch als der Moment kam, den Wolf abzulegen, hatte sie feststellen müssen, dass er auch sie mit Haut und Haaren verschlungen hatte."


Im zweiten Abschnitt der Handlung, "Klinge", nach dem schon gute 300 schwermütige Seiten vergangen sind, beginnt Nesta dann zu kämpfen, ihre gesamte Palette an Emotionen in das Kampftraining mit Cassian zu kanalisieren und knüpft zarte Banden Freundschaft mit zwei Frauen, die ebenfalls Schlimmes durchleben mussten. Die Illyrianerin Emerie und die Priesterin Gwyn haben es genau wie Nesta satt, hilflose Opfer zu sein und kämpfen sich durch ihre eigenen Dämonen hindurch zu geistiger Klarheit und Entschlossenheit. Beide sind mir auf dem steinigen Weg des Trios sehr ans Herz gewachsen und auch ihre Freundschaft hat etwas in mir zum Blühen gebracht. Die größte Inspiration war für mich aber die unfassbare Stärke, Unerschrockenheit und pure Willenskraft, die Nesta zu großen und kleinen Wundern antreibt. Trotz des personalen Er-Erzählers, der hier zwischen Cassian und Nesta wechselte und an den ich mich nach der offenherzigen Ich-Erzählerin der Haupttrilogie erstmal gewöhnen musste, habe ich mich Nesta so nahe gefühlt wie schon lange keiner fiktionalen Figur mehr.


"Ich will nicht länger den sicheren Weg gehen." Sie zeigte auf den Berg, auf den schmalen Pfad nach oben. "Ich will diesen Weg gehen." Ihre Stimme wurde eindringlicher. "Den Weg, auf den sich keiner wagt, und ich will ihn mit euch gehen. (...) Wir gewinnen, um allen zu zeigen, dass etwas Neues genauso mächtig und unumstößlich sein kann wie die alten Gesetze. Dass dieses Etwas, das noch niemand gesehen hat - nicht ganz Walküre, nicht ganz Illyrianer -, das Blutritual gewinnen kann." "Nein", sagte Nesta schließlich. "Wir gewinnen, um uns selbst zu beweisen, dass wir es schaffen können."


Bis das Trio im dritten Teil der Geschichte "Walküren" sind und schließlich in Teil vier "Ataraxia" (- inneren Frieden) erreichen, haben sie aber noch einen weiten Weg vor sich, der gepflastert ist mit Enttäuschungen, Muskelkater, Sexismus, altem Ballast und dem ein oder anderen magischen Hindernis. Neben den High Lords Prythians, den Königinnen, neuen magische Artefakte und uralten Kreaturen im Gefängnis des Hofs der Nacht tritt hier nämlich auch unter anderem ein Haus auf und spielt eine wichtige Rolle (ja, Ihr habt richtig gehört, ein HAUS - diese Autorin schafft es einfach, dass man selbst eigentlich unbelebte Objekte lieben lernt). Aller Magie zum Trotz - bis zum Beginn des letzten Teiles, in dem wir dann wie gewohnt viel epische Kampfszenen und Action serviert bekommen, ist die Handlung weitläufig eigentlich wenig spektakulär. Die "Queen of Fantasy" spielt hier wie bereits erwähnt vor allem mit den inneren Dämonen ihrer Charaktere und setzt auf die brodelnde Vorkriegsstimmung, die unter anderem von unheilvollen Ankündigungen, überraschenden Wendungen und der Dynamik der Charaktere lebt. Das Ende und die inhaltliche Jagd nach den Artefakten hätte für meinen Geschmack zwar gerne umfangreicher sein können und ich verstehe auch dahingehend die Kritik einiger LeserInnen. Da mir die langsame Charakterentwicklung Nestas aber so unglaublich gut gefallen hat, bin ich aber trotzdem sehr zufrieden damit, wie sich die Handlungsbalance gestaltet.


"So vieles aus der Vergangenheit ist verloren gegangen, aber die Erinnerung an seine Tapferkeit bleibt." Genau wie Cassians Name in die Geschichte eingehen würde, dachte Nesta. Und ihrer? Tief in ihrem Inneren wünschte sie es sich."


Neben dem großen Handlungskontext und Nestas Charakterentwicklung hat Sarah J. Maas ihrem Spin-Off nämlich noch eine weitere Komponente zugesetzt, die garantiert jegliche Langeweile vertreibt: die Liebesgeschichte zwischen Cassian und Nesta. Da die beiden schon in der Trilogie ganz schön viele Funken versprüht haben, hatte ich mich bereits auf eine leidenschaftliche Liebesgeschichte zwischen Verlangen, Hass, Liebe, Ablehnung, Kontrolle und Macht eingestellt. Aber was die Autorin hier in den guten 800 Seiten entrollt, ... uff, das hätte ich so niemals erwartet. Um es kurz zu machen: es wird steamy. Und mit "steamy" meine ich seitenweise erotische Eskapaden und jede Menge dirty talk. Konnte man die Erotik der Reihe bislang auf wenigen grob angerissenen Seiten zusammenfassen, wird die Autorin hier deutlich mutiger und scheut sich auch nicht vor sehr expliziten Schilderungen.


"Sie hob die Laterne höher und blies sie aus. Ließ die Dunkelheit kommen, begrüßte sie. "Ich habe keine Angst", flüsterte sie in die Finsternis hinein. "Du bist mein Freund und mein Zuhause."


Auch die Sprache an sich wird deutlich derber. Ob das am Wechsel des ÜbersetzerInnen-Duos liegt, oder ob es von der Autorin gewollt war, kann ich nicht sagen. Feststeht: Da Sarah J. Maas´ Erzählmagie alles in allem erhalten bleibt und der herbere Umgangston gut zu Cassian und Nesta passt, will ich mich nicht mit langen Beschwerden aufhalten. Es ist auch nicht so, dass sich die Beziehung der beiden auf Sexeskapaden beschränken würde. Im Gegenteil: genau wie Feyre und Rhysand verbindet die beiden eine sehr große Nähe und Verbundenheit, sodass die Liebe genau wie die Anziehungskraft fast mit Händen zu greifen ist. Cassian ist zwar kein zweiter Rhysand (als könnte es so etwas jemals geben), mir mit seinem Humor, seiner Lockerheit, seiner Arroganz, die über einige seit 500 Jahren gehegten Selbstzweifel hinwegtäuschen soll und dem tapferen Herzen eines wahren Helden aber wahnsinnig ans Herz gewachsen. Unterm Strich fand ich also, dass sich die stark aufgeladene Stimmung zwischen den beiden, stimmig in das Gesamtkonzept einfügt, kann aber auch die negativen Stimmen verstehen, die sich einen stärkeren Fokus auf die Handlung gewünscht hätten.


"Deine Kraft ist ein Lied, und ich habe sehr, sehr lange darauf gewartet, dieses Lied zu hören, Nesta."


Ein weiterer Punkt, in dem ich die vereinzelten Kritiken absolut nachvollziehen kann, welcher aber ebenfalls nicht dazu geführt hat, dass ich "Silbernes Feuer" weniger geliebt hätte ist die geringe Präsenz der Nebenfiguren. Wie bereits erwähnt kehren wir hier zwar nach Velaris, an den Hof der Nacht zurück und treffen so auch auf alle liebgewonnene Figuren. Auch wenn einige neue Entwicklungen und Herausforderungen kurz angedeutet werden (Spoiler: OMG, wer ist noch soooo begeistert von Feysand als Eltern und dem inneren Kreis als Onkels und Tanten?!? Und Baby Nyx - ich will unbedingt mehr von ihm lesen!!!) bezieht die Autorin den inneren Kreis hier nicht so stark ein, wie in der Trilogie und konzentriert sich in erster Linie auf Cassian, Nesta und deren zwei neue Freundinnen. Ich kann durchaus verstehen, dass Sarah J. Maas hier Nesta genügend Raum geben wollte, um ihren eigenen Platz in der neuen Welt der Fae zu finden und außerdem mit ihrer zu Beginn sehr negativen Beziehung und Sicht auf unsere anderen Lieblinge diese in ein nicht zu negatives Licht rücken lassen wollte (Spoiler: Ich habe zeitweise schon bemerkt, wie ich durch Nestas Sicht Mor, Feyre, Elain und sogar Rhys weniger heftig geliebt habe, als das in der Trilogie der Fall gewesen war), etwas mehr Interaktionen mit Elain, Amren, Mor, Azriel, Feyre und unserem liebsten High Lord hätten mich aber trotzdem gefreut.


"Welche Kraft hat sie", fragte Azriel. "Die des Todes", wisperte Rhys mit noch immer zitternden Händen. Dann stand er auf und ging zum Fenster, das sich gerade Scherbe für Scherbe selbst wieder zusammensetzte. Der High Lord des Hofs der Nacht ward einen Blick auf die schlafende Gestalt auf dem Bett, und Furcht zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. "Sie besitzt die Kraft des blanken Todes."


Vor allem Azriel, Mor und Elain kommen hier noch deutlich zu kurz. Während Rhys und Feyre, Amren und Varian, Nesta und Cassian schon ihren Platz gefunden haben und ihren Weg gegangen sind, bleiben bezüglich dieser drei noch eine Menge Fragen und Anknüpfungspunkte offen. Kann Mor endlich zu ihrer Sexualität stehen? Schafft es Azriel, sich von seiner jahrhundertlangen Schwärmerei für Mor zu lösen und in die Zukunft zu blicken? Ist die Verbundenheit zwischen Elain und ihm Liebe, oder Freundschaft? Wie steht es um die Seelenbeziehung zwischen Elain und Lucien? Hat ihr Gefährte noch die Chance ihr Herz zu gewinnen, oder bahnt sich für Lucien vielleicht etwas mit der menschlichen Königin Vassa an? Zusammen mit einigen handlungstechnischen Fragen, die am Ende noch offenbleiben und geradezu um eine Fortsetzung betteln sehe ich einen Spin-Off Roman über Azriel, Mor und Elain als logische Konsequenz der gesamten Reihe und bete nun zum Kessel, zur großen Mutter und allen Göttern der alten Welt, dass Sarah J. Maas diese Fragen tatsächlich zeitnah in einer weiteren Fortsetzung beantwortet. Ich bin nämlich noch lange nicht bereit, dieses Universum zu verlassen und denke, dass es da einigen LeserInnen ähnlich geht.


"Nie wieder. Nie wieder würde sie schwach sein. Nie wieder würde sie jemandem ausgeliefert sein. Nie wieder würde sie versagen. Nie wieder, nie wieder, nie wieder."




Fazit:


"Das Reich der sieben Höfe - Silbernes Feuer" ermöglicht uns die Rückkehr nach Prythian und zu heißgeliebten Figuren und knüpft hinsichtlich Schreibstil und Setting wunderbar an das Gesamtkunstwerk der Originaltrilogie an. Durch den stärkeren Fokus auf Nestas Charakterentwicklung und die deutlich explizitere Liebesgeschichte gewinnt dieses Spin-Off an Gefühlsintensität und Charaktertiefe, kann hinsichtlich Spannung und Epos der eigentlichen Handlung der Originaltrilogie rund um Feyre aber leider nicht ganz das Wasser reichen. Nichtsdestotrotz gibt es volle und hochverdiente 5 Sterne für diese mitreißende, intelligente und atmosphärische Geschichte!

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  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere