Inkonsequent, unlogisch und klischeehaft!
Ich habe "Der Chip" von Manfred Theisen angefragt, da es nach einer Mischung aus packender Überwachungsdystopie und Academia-Thriller à la "The Circle" klang. Statt mit einem düsteren Setting, hochspannender ...
Ich habe "Der Chip" von Manfred Theisen angefragt, da es nach einer Mischung aus packender Überwachungsdystopie und Academia-Thriller à la "The Circle" klang. Statt mit einem düsteren Setting, hochspannender Handlung und einer gesellschaftskritischen Auseinandersetzung mit technischem Fortschritt aufzuwarten, stellte sich "Der Chip" jedoch als langatmige, oberflächliche und sprunghafte Jugenddystopie heraus, die leider unter den schlechtesten 5 Science-Fiction-Büchern rangiert, die ich jemals gelesen habe. Ehrlicherweise ist es nur dem Buddyread mit Sofia von Sofias kleiner Bücherwelt zu verdanken, dass ich das Buch überhaupt zu Ende gelesen habe (schaut unbedingt mal bei ihrer Rezension vorbei, sie bringt unser Leseerlebnis echt so gut auf den Punkt, dass ich mir eine eigene Rezension auch hätte sparen können😁)!
Doch, bevor ich mich schon in der Einleitung zu sehr in Rage rede, ein paar Worte zur Gestaltung. Mit den goldenen Leiterplatten auf typisch dunkelgrüner Leiterplatte, die zu einem schwarzen Mikrochip führen, auf dem der Titel in grünen Buchstaben steht, passt das Cover natürlich perfekt zum Thema und Titel. Auch der Klapptext machte mir sofort Lust, zur Geschichte zu greifen. An dieser Stelle endet der positive Einfluss des Verlags auf den Roman aber auch schon, denn zu dem, was sich innerhalb der Buchdeckel befindet, habe ich leider nicht besonders viel Positives zu sagen.
Erster Satz: "Sie lag in seinem Arm."
Zugutehalten muss man dem Roman, dass er einige interessante Themen und Fragen aufgreift: Überwachung, künstliche Intelligenz, kollektives Bewusstsein, Freiheit, Individualität des Einzelnen und die Frage, ob technischer Fortschritt immer ein Schritt nach vorne bedeuten muss. Jedes einzelne dieser Themen hätte einen Anknüpfungspunkt für spannende Diskussionen geboten, doch schon nach wenigen Seiten hatte ich das Gefühl, in einer abgedrehte, oberflächlichen Version der durchschnittlichen Teenie-Dystopie gelandet zu sein, in dem der typische unangepassten Außenseiter, das naive Mädchen davon überzeugen, dass etwas gehörig falschläuft. Nach ebenso kurzer Zeit waren dann auch meine Hoffnungen auf ein interessantes Worldbuilding dahin. Erklärt der Autor, weshalb er uns ins Jahr 2032 entführt? Bekommen wir geschildert, inwiefern sich die dortige Gesellschaft von unserer unterscheidet? Erfahren wir, was sich genau hinter der allgegenwärtigen KI "Brain" verbirgt, wie die Firma BrainVision und das umstrittene Elite-Internat Galileo genau funktionieren? Nicht im Geringsten! Dadurch, dass hier kaum etwas erklärt wird, erscheint die Handlung an einigen Stellen geradezu absurd. Zum Beispiel kam mir irgendwann der Gedanke, dass ich ja theoretisch der in "Der Chip" auftauchenden Erwachsenengeneration angehören würde, mir aber kaum vorstellen kann, was passieren müsste, dass sich meine Einstellungen so krass verändern, dass ich mich verhalte, wie die in der Handlung vorkommenden Eltern. Leider wird jedes einzelne der interessanten Themen nur am Rande gestreift und weder weiterentwickelt noch zu Ende gedacht, sodass es mir eigentlich fast widerstrebt, "Der Chip" als Dystopie zu klassifizieren.
Kein Worldbuiling? Nun gut, damit hätte ich noch leben können, wenn der Autor seine 224 Seiten dazu genutzt hätte, ein rasantes Kammerspiel zu schreiben, das sich ganz auf den Rahmen der Schule fokussiert und alle äußeren Einflüsse außer Acht lässt. Das tut er aber leider auch nicht und während er sich in zusammenhangslosen Diskussionen über Prepping oder die veraltete Playstation 7 verläuft, wird uns Lesern klar, dass das miserable Worldbuilding nicht das Ergebnis einer wohlüberlegten Entscheidung, sondern vielmehr einer seltsamen Schwerpunktsetzung ist, die beim Lesen fast ein wenig willkürlich wirkt. Was genau die Rebellen in Spreewald tun und gegen was sie rebellieren bleibt ein Geheimnis, aber dass Dwayne "the Rock" Johnson nun Präsident der USA ist, scheint dem Autor eine wichtige Information zu sein? Da würde ich gerne nochmal eine Diskussion über Prioritäten führen... Die vielen random eingestreuten Anspielungen wirken also insgesamt wie der misslungene, verzweifelte Versuch, irgendwas einfließen zu lassen, was man als Gesellschaftskritik deuten könnte, wenn man dem Buch wohlgesonnen wäre. Bin ich aber nicht. Und deshalb kann ich nur anmerken, dass sich der Autor lieber auf die Grundidee mit der Überwachung und den Chips konsequent hätte fokussieren sollen.
"Der Mensch hat den Hammer erfunden, weil seine Hand nicht stark genug war. Der Mensch hat das Fernglas erfunden, weil seine Augen nicht weit genug sehen konnten. Der Mensch hat die Schrift erfunden, weil er sich nicht alles merken konnte. Und jetzt haben wir die KI, wir haben Brain, die alles weiß, wie wir alles wissen. Wir sind Brain."
Und dieser fehlende Fokus, diese Inkonsequenz der Handlung ist leider ein Problem, das sich durch den gesamten Roman zieht. Ich habe noch nie ein Buch gelesen, in dem so viele Aspekte während der Handlung einfach kommentarlos fallen gelassen und nie wieder aufgegriffen werden. Eines der etlichen Motive ist zum Beispiel das des Skarabäus Käfers, der in verschiedenen Formen und Gestalten an unterschiedlichen Stellen des Buches vorkommt, sodass ich fest davon ausgegangen bin, dass dieser irgendwann nochmal wichtig wird, oder zumindest dessen ständiges Auftauchen zu einem Zeitpunkt erklärt werden würde. Das passiert aber einfach nie, sodass natürlich die Frage aufkam, wozu das Ganze überhaupt erwähnt wurde. In diesem Stil gab es noch einige weitere Szenen, die sich als komplett irrelevant für den Plot erwiesen haben und deren Sinn ich in diesem nur 224seitigen Roman ich demnach angezweifelt habe. Dazu kommen viele offensichtliche Logikprobleme wie, dass "Brain" durch Kameras im Gebäude omnipräsent und scheinbar allwissend zu sein scheint, es aber nicht auffällt, wenn Kim mit selbstgebautem Glasschneider in andere Zimmer einbricht, sie stundenlang ihr Datenband nicht trägt, mit dem die KI Informationen über sie sammelt und sie sich trotz lückenloser medizinischer Überwachung in jeder zweiten Szene mit vorgetäuschter Übelkeit aus der Affäre ziehen kann.
Zu diesem inkonsistenten, unvollständigen Eindruck tragen auch die Zeitsprünge bei. Anstatt in Kapitel hat der Autor seine Geschichte in sehr große Textteile eingeteilt, die von insgesamt fünf Zeitpunkten erzählen: dem 8. Mai und dann vom 16. bis zum 19. Mai. 2032. Während das Erzähltempo während der letzten Abschnitte zunimmt und sich die Handlung liest, wie eine fortlaufende Szene, vergeht zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt eine ganze Woche, ohne dass jemals aufgeholt wird, was in der Zwischenzeit passiert ist. Es scheint, als hätte der Autor einen groben ersten Entwurf geschrieben, aus dem im Lektorat dann genau die falschen Szenen herausgestrichen worden wären. Um den Plot, die Hintergründe der Welt oder auch die Protagonisten wirklich auf Romanniveau auszuarbeiten, hätte der Autor mindestens noch 100-200 Seiten mehr schreiben müssen (wobei ich im Nachhinein echt froh bin, dass er das nicht getan hat, da ich schon mit den 224 Seiten echt zu kämpfen hatte).
"Eine neue Phase der Geschichte ist angebrochen. Bis jetzt haben wir den Egoismus gepflegt, das Individuum war heilig. Aber das ist jetzt vorbei. Wer nicht WIR sein will, der muss gehen!"
So, und das waren jetzt erst meine Kritikpunkte zum Plot... Ich könnte mich noch stundenlang Absatz um Absatz weiter beschweren und neue Beispiele finden, warum "Der Chip" echt schlecht ist. Der lückenhafte Plot wird nämlich auch von einem Schreibstil begleitet, der sich liest, als wäre er von einem unerfahrenen Selfpublisher verfasst worden. Selbst wenn man im Kopf behält, dass ich persönlich ein Freund von eher gefühlsbetonten Schreibstilen bin, kann man den unpersönlichen, wenig packenden Eindruck nicht nur auf meinen eigenen Geschmack schieben. Denn auch die Sprache ist voll von gedanklichen Sprüngen und irrelevanten Einschiebungen, von denen oft nicht klar ist, weshalb sie überhaupt dastehen (Stichwort: Karies bei Werwölfen?!?). Manfred Theisen schreibt sehr assoziationsbasiert, was sich ab und zu so liest, als würde man den leicht unzusammenhängenden, verworrenen Gedanken eines Erstklässlers folgen. Dazu gesellen sich gelegentlich abrupte Übergänge in der Erzählperspektive, die neben dem personalen Er-Erzähler aus Kims Sicht auch einige auktoriale Passagen beinhaltet, die beim Lesen zusätzlich verwirren.
Damit Ihr nachvollziehen könnte, wie irritierend die einzelnen Szenen dadurch wirken, habe ich ein kurzer Beispielabschnitt von Seite 12 herausgesucht. Diese Szene steht ohne Witz genauso im Buch, ohne dass ich etwas zusammenkopiert oder weggelassen hätte: "Sie lief über den Flur. Der alte Google Spruch "Don´t be evil" prangte auf dem Sperrbildschirm ihres Handys. Julian hatte noch nicht geschrieben. Der Boden war grau und glatt, Kim dachte an den grauen Strich, auf dem sie eben im Kreis gelaufen war. Es war gut, dass Brain sie jetzt überall identifizieren konnte. Falls etwas schieflief, könnte ihr Brain sofort helfen. Sicherheit und Glück waren zwei Seiten einer Medaille. Rechts und links gingen knallrote Türen ab. Vielleicht hatte sich Kim deshalb eben rote Fingernägel geträumt. Denn sie durfte sich die Nägel nicht lackieren. Ihre Mutter hatte es verboten."
Eine weitere irritierende Beobachtung, die Sofia und ich beim Lesen gemacht haben, ist dass es überproportional viele Szenen gibt, in denen Kim grundlos nackt ist. Einige dieser Szenen lassen sich darauf zurückführen, dass Kim wahnsinnig häufig duscht. Oftmals sind Dusch- und Toilettengänge in Romanen ja ausgespart. Manfred Theisen beschreibt diese aber in jedem Kapitel mindestens einmal. Im ersten Abschnitt duscht Kim sogar ganze dreimal an einem einzigen Tag: 1x nach ihrer Gangprobe für Brain, dann bevor sie sich mit ihrem derzeitigen Freund zum Trainieren trifft und dann nochmal nach dem Training - und wenn das nicht schon irrsinnig genug wäre, sind alle drei Szenen im Buch enthalten. Das sind natürlich nur kleine Details, die mir wahrscheinlich nicht aufgefallen wären, wenn die extrem körperbetonte Beschreibung aller Figuren und einige aufgrund des jungen Alters der Protagonistin extrem unpassender Kommentare zu Sexualität, Schwangerschaft und Beziehungen nicht ohnehin schon ein seltsames Gefühl bei mir hinterlassen hätten.
"Sie stand auf und fühlte sich schlecht, so schlecht wie noch nie in ihrem Leben. "Gemeinsam und nicht einsam!", skandierte sie mit den anderen - sie war so einsam wie noch nie zuvor."
Und wenn wir schon gerade bei der unpassenden Darstellung von 15jährigen sind: Allgemein ist festzustellen, dass der Autor leider völlig an seiner Zielgruppe vorbei schreibt. Ich hatte einfach nicht das Gefühl, dass er Jugendliche besonders ernst nimmt oder als rationale, vollwertige Menschen ansieht (was irgendwie problematisch ist, da Jugendliche wohl seine Hauptzielgruppe sind). Seine jugendlichen Figuren werden ausnahmslos rückgrat- und meinungslos dargestellt, sind leicht zu manipulieren, noch leichter auszutauschen und bieten den LeserInnen somit weder Identifikations- noch Vorbildpotenzial. Am meisten hat mich aber die Darstellung des Innenlebens der Hauptfigur Kim gestört. Das was Manfred Theisen Kim da immer an Emotionen angedichtet hat, funktioniert einfach nicht. Hm, außer vielleicht man ist bipolar oder leidet unter einer extremen Form der Borderline Persönlichkeitsstörung. In diesem Falle wäre es wohl möglich, innerhalb von drei Minuten dreimal seine Meinung zu ändern und sich von jetzt auf gleich unsterblich zu verlieben und wieder zu entlieben.
Auch abgesehen von ihren urplötzlichen Meinungsänderungen, die mit keinen Hormonschwankungen der Welt erklärbar wären, ist Kims Charakterisierung ein Witz. Nur weil sie sich wundert, wo denn einer ihrer Mitschüler hin verschwunden ist und vielleicht zwei Sekunden darüber nachdenkt, bevor sie sich autonome Nanochips spritzen lässt, die ihre Individualität auslöschen, wird die hirnlose Mitläuferin von einer Sekunde auf die andere zur Rebellin deklariert. Ihre nur menschlichen Handlungen (das was sie getan hat war nicht besonders mutig, sondern nur das absolute Minimum von dem, was man von einer gesunden, mündigen Bürgerin in einer solchen Situation erwarten würde) werden dabei so glorifiziert, dass man fast übersieht, dass sie gar keine große Widerstandskämpferin ist, sondern die anderen einfach noch viel dümmer sind als sie. Frustrierend ist gar kein Ausdruck, sage ich Euch!
Auch die Beziehungen zwischen den Figuren konnte ich einfach nicht ernstnehmen. Das bezieht sich nicht nur auf die "Freundschaften" und "Liebesbeziehungen" (ich traue mich fast nicht, diese fünfminutigen Gefühlsschwankungen so zu bezeichnen), sondern auch auf die Verhältnisse von Kim zu ihrer Mutter und ihrem Großvater. Beide hätten das Potenzial gehabt, eine neue Perspektive in die Handlung miteinzubringen und das Verhalten der Teenies ist einen etwas vernünftigeren Rahmen zu stecken. Stattdessen tauchen die beiden nur am Rande auf und werden von Kim in die Kategorie "nervige Erwachsene" gesteckt, bevor der Großvater sich dann am Ende aus dem Nichts als großer Retter inszeniert und alle Probleme sich in Luft auflösen.
Fazit:
Die 0,5 Sterne bekommt "Der Chip" ausschließlich für die interessanten Gedankenansätze. Die Umsetzung dieser in einer inkonsequenten, unlogischen Handlung mit rückgratlosen lebendigen Klischees als Figuren und einem sprunghaften Schreibstil konnte mich nämlich absolut nicht überzeugen. Schade, aber das war Mist!