Profilbild von bookishpoetry

bookishpoetry

aktives Lesejury-Mitglied
offline

bookishpoetry ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit bookishpoetry über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.03.2022

Jugendbuchhighlight

Shi Yu
0

Inhalt:
Die sechsjährige Waise Shi Yu muss ihren Lebensunterhalt bereits selber verdienen. Als Küchenhilfe, Putzfrau und Serviererin arbeitet sie im Gasthaus des brutalen Bai Bai, der keine Gelegenheit ...

Inhalt:
Die sechsjährige Waise Shi Yu muss ihren Lebensunterhalt bereits selber verdienen. Als Küchenhilfe, Putzfrau und Serviererin arbeitet sie im Gasthaus des brutalen Bai Bai, der keine Gelegenheit auslässt, das kleine Mädchen zu schikanieren und immer wieder auszupeitschen. Eines Tages begegnet sie dem etwas älteren Jungen Li Wei und seinem Grossvater Peng und erfährt, dass diese sich mit Kampfkunst auskennen. Von diesem Tag an ändert sich Shi Yus Leben. So oft wie möglich stiehlt sie sich nun aus der Gastwirtschaft fort und lässt sich von dem alten Meister Peng in der «Wushu»- Technik, der Beherrschung von Luft und Wasser, unterrichten. Drei Jahre später überfallen Piraten das Gasthaus und entführen Shi Yu auf das Schiff des Piraten «Goldener Drache». Fortan arbeitet sie als Küchenhilfe unter dem Schiffskoch Überfluss, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Heimlich trainiert Shi Yu weiter, und es gelingt ihr schliesslich, sich aus den Fängen der Piraten zu befreien und später sogar eine eigene Flotte zu befehligen. Ihre Kampftechnik bringt ihr den Namen «Fliegende Klinge» ein, da sie scheinbar mühelos viele Meter weit durch die Luft zu springen vermag. Sowohl Handelsschiffe als auch die kaiserliche Marine fürchten Shi Yu und ihre Piraten, niemand kann es mit ihnen aufnehmen. Doch dann begeht Fliegende Klinge einen Fehler und gerät in die Fänge eines Widersachers, der ihr an Raffinesse und vor allen Dingen an Grausamkeit weit überlegen zu sein scheint. Sein Ziel ist es, die Kampfkunst des «Wushu von Luft und Wasser» ein für alle Mal auszulöschen. Nur Shi Yu weiss, wo sich das geheimnisvolle Buch mit den Kampfanleitungen befindet...
Meine Meinung:
Ich habe «Shi Yu – Die Unbezwingbare» mit den über 500 Seiten in drei Tagen verschlungen. Ich las in der letzten Zeit viele wunderbare Jugendbücher, aber dieses hier gehört fortan definitiv zu meinen absoluten Highlights. Das liegt sicher zum einen daran, dass ich Romane, die im asiatischen Kulturkreis spielen, sehr gerne lese, aber hat ebenso damit zu tun, dass dieses Buch ein gut recherchierter, informativer historischer Roman ist. Und es liegt nicht zuletzt daran, dass ich die beschriebenen Martial-Arts-Elemente absolut faszinierend finde. «Shi Yu» hat alles, was ein gutes Jugendbuch auszeichnet: Es ist unglaublich spannend, die vorgestellten Figuren haben ein hohes Identifikationspotential, die Protagonistin und die Menschen um sie herum sind starke, liebenswerte Individuen, während die Gegenspieler den Leser mit Abscheu erfüllen. Es gibt lustige, schöne und berührende Szenen, gleichzeitig werden aber auch menschliches Leid, Elend und die Grausamkeiten, welche Menschen einander antun können, benannt. Wie jedes gute Buch geht auch «Shi Yu» der Frage nach, wie man sich angesichts widriger Umstände innere Stärke, den Glauben an das Gute und seine Menschlichkeit bewahrt.
Der Roman ist eingeteilt nach den Lebensjahren der Protagonistin. Er beginnt mit Shi Yu im Alter von sechs Jahren und endet 40 Jahre später. In jedem dieser «Alterskapitel» hat sich etwas Entscheidendes in Shi Yus Leben ereignet, so ist sie mit Sechs noch ganz das kleine Mädchen, wird als Neunjährige entführt, steigt mit 19 zu grosser Macht auf... Während Shi Yu sich zu der mächtigen und gefürchteten Piratin «Fliegende Klinge», einer starken und unerbittlichen Kämpferin, entwickelt, erkennen wir in ihr doch auch immer noch die kleine Sechsjährige, die sich vor Demütigungen und Schlägen fürchtet und sich nichts mehr als eine heile, liebevolle Familie wünscht. Nach Aussen hart und unbesiegbar, bleibt sie doch im Innern verletzlich und handelt oftmals in entscheidenden Momenten mitfühlend, auch wenn sie Kommandantin einer riesigen Flotte ist. Sie beweist auch immer wieder Mut, fordert das scheinbar Unmögliche, setzt sich mit Zähigkeit und Klugheit für ihre Ziele und für ihre Leute ein. So gesehen ist «Shi Yu» ein typischer Coming-of-Age-Roman mit der Botschaft: Gib’ niemals auf, lass’ dich nicht unterkriegen, kämpfe für Deine Träume und die Menschen, die du liebst. Er eignet sich aber auch für erwachsene Leser, denn Morosinotto erzählt nicht einfach nur eine spannende Geschichte, sondern bringt uns alle zum Nachdenken. Wofür setzen wir uns ein? Was sind unsere Werte? Wie gehen wir mit Schwierigkeiten um und bleiben angesichts von Leid und Grausamkeiten dennoch integer? Und sind wir bereit, Fehler einzusehen, aus ihnen zu lernen und dann unserem Leben noch einmal eine ganz neue Wendung zu geben? Shi Yu jedenfalls gelingt dies.
Auch äusserlich ist dieses Buch etwas ganz Besonderes. Das schöne Cover mit dem Bildnis Shi Yus wurde von Rebecca Dautremer gestaltet. Als ich das Buch in der Ankündigung des Thienemann Verlags gesehen habe, wusste ich, dass ich es lesen muss. Im Innern befinden sich fantastische Illustrationen des Künstlers Timo Kümmel, die uns ganz in die chinesische Welt der Seefahrt, der Piraten und der geheimen Chi-Kräfte eintauchen lassen.
Die deutsche Übersetzung aus dem Italienischen hat Cornelia Panzacchi besorgt. Ein hilfreiches Glossar mit Erklärungen zu chinesischen Begriffen, Masseinheiten und Zeitangaben runden das ansprechende Ganze ab.
Davide Morosinotto hat sich bei der Figur der Shin Yu übrigens von der chinesischen Piratin Ching Shi inspirieren lassen, die 1775 geboren wurde und im Südchinesischen Meer eine riesige Flotte als Kommandantin befehligte. Es gibt durchaus Parallelen zwischen Shi Yu und Ching Shi, doch hat der Autor mit seiner «Fliegenden Klinge» eine ganz eigene, unvergessliche Heldin geschaffen und ihr ausgesprochen sympathische Züge verliehen.
Fazit:
«Shi Yu – Die Unbezwingbare» ist ein faszinierender historischer Abenteuerroman mit einer starken Protagonistin, die auch zu ihren Schwächen und Fehlern stehen kann und an ihnen wächst. Von mir gibt es eine ganz klare Empfehlung für Leserinnen und Leser ab 13 Jahren aufwärts. Ganz besonders Freunde der fernöstlichen Kultur und Fans von «Mulan» werden hier auf ihre Kosten kommen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.01.2022

Im Tal der Könige

Das Geheimnis des blauen Skarabäus
0

Cleo (Cleopatra) Vanson wächst in Cornwall in einfachen Verhältnissen bei ihrer Tante Elsie auf, welche die Schwester von Cleos verstorbener Mutter ist. Cleos Vater ist Archäologe und hält sich die meiste ...

Cleo (Cleopatra) Vanson wächst in Cornwall in einfachen Verhältnissen bei ihrer Tante Elsie auf, welche die Schwester von Cleos verstorbener Mutter ist. Cleos Vater ist Archäologe und hält sich die meiste Zeit des Jahres zu Ausgrabungen in Ägypten auf. Seine seltenen Besuche in England und Berichte über seinen Beruf bilden die Höhepunkte im Leben seiner Tochter. Das seltene Geburtstagsgeschenk ihres Vaters, ein silberner Armreif mit einem blauen Skarabäus, ist Cleos grösster Schatz. Tante Elsie verdient sich ihren Lebensunterhalt durch Näharbeiten. Doch ihre Nichte träumt von nichts anderem, als Archäologie zu studieren und ihren Vater auf seinen Ausgrabungen zu begleiten. Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es noch kaum üblich, dass Frauen an die Universität gingen. Vor allen Dingen dann nicht, wenn sie über kein eigenes Vermögen verfügten. Tante Elsie nimmt Cleo deswegen zu ihren Kundinnen mit, damit sie den Beruf der Näherin kennenlernt. Als sie ihre Tante in das reiche Herrenhaus der Familie Tredennick begleitet, begegnet sie dort der etwas älteren, verwöhnten Miranda und deren Bruder Angwin, welcher sich ebenfalls für Archäologie interessiert. Trotz des Standesunterschieds freunden sich die beiden Mädchen an. Als Cleos Tante Elsie bei einem Unfall ums Leben kommt, drängt Miranda ihre Familie dazu, die mittellose Cleo bei sich aufzunehmen. Tatsächlich darf sie fortan im Anwesen der Tredennicks leben und wird dort als Näherin eingestellt. Mirandas unermütlichen Interventionen ist es zu verdanken, dass Cleo mit ihr zusammen eine höhere Mädchenschule besuchen und eine gute Schulbildung erhalten darf. Von ihrem Vater hat Cleo seit Jahren nichts gehört und macht sich grosse Sorgen um ihn. Durch grosses Glück und die Beharrlichkeit ihrer Freundin darf Cleo diese, deren Bruder Angwin und dessen Freund Victor auf eine Expedition nach Ägypten begleiten. Der Altertumsforscher Victor ist Cleos Vater offenbar in Ägypten begegnet und weiss, wo er zu finden sein könnte. Als das Quartett im Jahr 1921 Kairo und Luxor bereist, überschlagen sich die Ereignisse. Menschen verschwinden, ein jahrtausendealter Fluch scheint wahr zu werden, Freunde werden zu Feinden und Gegner zu Helfern. Ob Cleo ihren Vater wiederfinden kann oder dieses Abenteuer mit dem eigenen Leben bezahlen muss, wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten.

Meine Meinung:
Dieser Roman hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Da ich sehr gerne archäologische Abenteuerbücher lese, habe ich «Das Geheimnis des blauen Skarabäus» verschlungen. Die Hauptfiguren sind sehr lebendig und der Zeit gemäss beschrieben, gleiches gilt für die gesellschaftlichen und geschichtlichen Rahmenbedingungen. Das Buch spielt zu einer Zeit, als es viele wohlhabende Engländer nach Ägypten zog, um dort nach Kunstschätzen zu suchen. So ist es nicht verwunderlich, dass Cleo und ihre Freunde auch Howard Carter und seinem Gönner Lord Carnarvon begegnen, welche nach dem Grab des Tutenchamun suchten (und es schliesslich auch entdecken sollten). Die Arroganz vieler Engländer der ägyptischen Bevölkerung gegenüber wird ebenso treffend beschrieben wie das Bemühen einiger wirklicher Forscher, welche die entdeckten Kunstschätze bewahren und Museen zuführen möchten, anstatt sie auf Kunstmärkten für viel Geld zu verkaufen. Das vorliegende Buch ist eine Mischung aus spannendem Abenteuerroman, historischer Erzählung und Krimi, in dem auch Platz für romantische Gefühle und Nachdenkliches ist. Die Entwicklung, welche die sympathische Hauptfigur Cleo im Lauf der Jahre durchmacht, wird einfühlsam und interessant erzählt. Das Buch lebt von seinen bildgewaltigen Beschreibungen der ägyptischen Wüste und der Schätze, welche sich unter ihrem Sand verbergen. Fiktion und wahre Begebenheiten werden dabei glaubhaft miteinander verwoben, sodass sich ein stimmiges Ganzes ergibt.

Fazit:
«Das Geheimnis des blauen Skarabäus» ist ein spannender Roman für Liebhaber von Filmen wie «Die Mumie» oder Agatha Christies «Tod auf dem Nil». Mich hat er sehr gut unterhalten und ich empfehle ihn daher sehr gerne weiter.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.01.2022

Jeder Mensch gehört sich selbst

Die Enkelin
0

In seinem neuesten Roman erzählt Bernhard Schlink das Schicksal von drei Frauen einer Familie. Verbunden werden Grossmutter, Mutter und Tochter dabei durch Kaspar, den Ehemann der Grossmutter, welcher ...

In seinem neuesten Roman erzählt Bernhard Schlink das Schicksal von drei Frauen einer Familie. Verbunden werden Grossmutter, Mutter und Tochter dabei durch Kaspar, den Ehemann der Grossmutter, welcher sich in diesem Buch auf die Suche nach den Lebensspuren jeder einzelnen Frau begibt und dabei in das Leben in der ehemaligen DDR und das gegenwärtige bei den völkischen Siedlern eintaucht.
Als der 70jährige Buchhändler Kaspar eines Abends aus seinem Geschäft nach Hause kommt, findet er seine alkoholkranke und depressive Frau Birgit tot in der Badewanne vor. Ob es Selbstmord oder ein Unfall war, lässt sich nicht klären. Nachdem Kaspar die ersten Phasen von Schock, Trauer und Wut überwunden hat, beginnt er damit, in Birgits kleinem Zimmer aufzuräumen, in welches sie sich zuvor immer mehr zurückgezogen hatte, um an einem Roman zu schreiben. Als er auf das unvollendete Manuskript stösst, muss Kaspar bei der Lektüre feststellen, dass seine Frau viele Geheimnisse vor ihm hatte, von denen er nie etwas geahnt hätte. Kaspar aus der BRD und Birgit aus der DDR hatten sich in Ostberlin kennengelernt und von einer gemeinsamen Zukunft geträumt. Dafür wäre der junge Student auch zu ihr in die DDR gezogen. Doch Birgit wollte dem Druck der Diktatur entkommen und mit Kaspar im Westen leben und lässt sich von ihm zur Flucht verhelfen. Dass sie zuvor ein Kind von einem verheirateten Parteifunktionär auf die Welt gebracht und ihrer Freundin Paula übergeben hatte, davon ahnte Kaspar nichts und sollte es auch nie erfahren. Bis zu dem Moment, an dem er es in Birgits Aufzeichnungen las. Aus ihnen sprechen tiefe Schuldgefühle dem zurückgelassenen Neugeborenen gegenüber und die Sehnsucht nach einem Kennenlernen des mittlerweile längst erwachsenen Mädchens. Kaspar begibt sich an Birgits Stelle auf die Suche nach Svenja und findet sie schliesslich im Mecklenburgischen, wo sie zusammen mit ihrem Mann Björn und ihrer 14jährigen Tochter Sigrun in einer völkisch nationalen Siedlung lebt. Im Verlauf des Romans setzt Kaspar alles daran, seiner Enkelin eine Welt abseits von Rassismus und Holocaustleugnung zu zeigen. In den Ferien, in welchen sie ihn besuchen darf, öffnet er ihr das Herz und die Sinne für die Musik und die Schönheit der Sprache, ermöglicht ihr das Klavierspiel und zeigt ihr Menschen und Welten, die sie eigentlich nicht kennen soll. Doch die Prägung und Erziehung, die Sigrun genossen hat, lässt sich so einfach nicht abschütteln...
Bernhard Schlink behandelt in seinen Romanen gerne Phasen der deutschen Geschichte und beleuchtet die politischen Umstände, welche Menschen prägen und zu dem machen, was sie sind. Das ist auch in «Die Enkelin» so. Der Autor ist ein ruhiger und sensibler Erzähler, dessen Figuren einen noch lange nach der Lektüre beschäftigen. Die Themen, die in diesem Buch behandelt werden, sind wichtig und aktuell und laden ein, sich eingehender mit der deutsch-deutschen Geschichte zu befassen und darüber, ruhig auch kontrovers, zu diskutieren. Dabei geht es um wichtige Fragen wie diese: Wohin führen die Unfähigkeit, für sich selbst einzustehen und der Drang, es allen rechtmachen zu wollen? Wie bewahrt man sich seine Menschlichkeit in unmenschlichen Systemen? Sei es innerhalb der eigenen Familie oder innerhalb eines politischen Gefüges. Wem ist damit gedient, wenn angesichts einer erkannten Wahrheit notwendige Auseinandersetzungen und Diskussionen vermieden werden, weil man fürchtet, dadurch einen anderen möglicherweise zu verlieren?
Mit «Die Enkelin» ist Schlink einmal mehr ein wichtiger, berührender und sehr tiefgründiger Roman gelungen, den ich sehr gerne weiterempfehle.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.12.2021

Helen Keller und ihre Lehrerin

Öffne mir das Tor zur Welt
0

Die bereits 1959 zum ersten Mal erschienene Biographie über die taubblinde Helen Keller und ihre ebenfalls sehbehinderte Lehrerin Anne Sullivan liegt auf Deutsch in der neunten Auflage im Verlag Freies ...

Die bereits 1959 zum ersten Mal erschienene Biographie über die taubblinde Helen Keller und ihre ebenfalls sehbehinderte Lehrerin Anne Sullivan liegt auf Deutsch in der neunten Auflage im Verlag Freies Geistesleben vor. Als solche ist sie 2021 herausgekommen. Das Buch beginnt zunächst mit der Geschichte der jungen Anne Sullivan. Aus ärmlichsten Verhältnissen stammend fand sie als Kind Aufnahme in einem Institut in Boston, welches sich um sehbehinderte Kinder kümmerte. Dort wurde Anne zum ersten Mal in ihrem Leben gefördert, konnte eine Schulbildung und so etwas wie ein Zuhause bekommen. Nach ihrem Schulabschluss weiss sie nicht, was aus ihr werden soll, bis sie durch Zufall von einem Elternpaar hört, welches eine Privatlehrerin für ihre sechsjährige Tochter Helen sucht. Helen erkrankte mit anderthalb Jahren schwer an Hirnhautentzündung oder Scharlach und war seitdem blind und taub. Als Anne auf sie trifft, begegnet sie einem zwar äusserlich behüteten und geliebten, aber innerlich verlorenen und despotischen kleinen Mädchen, das seine gesamte Umgebung tyrannisiert. Mit viel Geduld und Hingabe gelingt es der jungen Frau schliesslich, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. Sie bringt ihr auf spielerische Weise das Fingeralphabet bei, indem sie Buchstaben in ihre Hand malt, und merkt schon bald, wie wissenshungrig und lernbegierig die kleine Helen ist. Schon bald kann das Kind Worte und Dinge miteinander verbinden und lernt sogar, Buchstaben auf Papier und später sogar mit der Schreibmaschine zu schreiben. Da es Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts noch keine einheitliche Schrift für Blinde gab, lernte Helen schliesslich mehrere Schriften, um mit ihrer Umwelt kommunizieren zu können. Sie besucht die Blindenschule in Boston, lernt mehrere Fremdsprachen und studiert sogar. Das alles war nur möglich durch den unermüdlichen und selbstlosen Einsatz von Anne Sullivan, welche ihre Schülerin nie mehr verliess. Nach deren Tod nehmen noch zwei weitere Personen ihren Platz an Helens Seite ein, bis diese selbst 1969 stirbt.

Meine Meinung:
«Öffne mir das Tor zur Welt» berichtet von der engen Beziehung zweier Menschen, die ohne einander nicht zurechtkommen wollen und darum ein Leben lang liebevoll miteinander verbunden waren. Es ist Anne Sullivans grosses Verdienst, dass sie durch ihren Einsatz einem anderen Menschen Lebenssinn und Lebensfreude schenken konnte. Es ist berührend zu lesen, wie die Lehrerin immer wieder nach Wegen sucht, das ihr anvertraute Mädchen in ihrer Welt zu erreichen. So gelingt es ihr zum Beispiel über den täglichen Aufenthalt in der freien Natur und durch den Kontakt mit Pflanzen und Tieren, zu Helen vorzudringen und dem, was diese erfühlt, Namen zu geben, welche diese sich merken kann. Das Fingeralphabet spielt dabei zunächst die entscheidende Rolle. Später möchte Helen sprechen können und lernt dies durch das Abtasten von Lippen und Kehlkopf ihrer Gesprächspartner. Sie hat schliesslich den Bachelor of arts erworben, führte Briefkorrespondenzen mit bedeutenden Zeitgenossen, war schriftstellerisch tätig und engagierte sich auch politisch und für die Anliegen blinder Menschen. Das Buch berichtet auch von äusseren Schwierigkeiten, von Misstrauen und Anfeindungen, denen Anne Sullivan und ihr Schützling ausgesetzt sind. Die tiefe Zuneigung und Freundschaft der beiden Frauen lässt sie diese jedoch überstehen und immer wieder neu gestärkt daraus hervorgehen. Diese enge Verbindung ist vor allem in den ersten gemeinsamen Jahren gewachsen, weswegen in der vorliegenden Biographie die Kindheit von Helen einen grossen Platz einnimmt. Dabei wird fast immer aus der Sicht Sullivans erzählt. Einige alte Fotoaufnahmen von Helen und Anne ergänzen dieses lesenswerte Buch.
Fazit:
Die vorliegende Biographie ist ein anrührendes und sehr lesenswertes Zeugnis dafür, wie echtes Interesse, Zuneigung und Phantasie es einer lehrenden und erziehenden Person ermöglichen können, das Potential und die Begabung eines Kindes zu entdecken und diese zu fördern, egal wie widrig die äusseren Umstände auch erscheinen mögen. So ist «Öffne mir das Tor zur Welt» ein Buch, welches gleichermassen Hoffnung und Freude schenkt und junge Menschen dazu inspirieren kann, sich für die eigenen Träume und das Wohl anderer einzusetzen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.11.2021

Ein fantastisches Finale

Die Chroniken von Mistle End 3: Der Untergang droht
0

Der von vielen lang ersehnte dritte Band der «Chroniken von Mistle End» von Benedict Mirow ist soeben erschienen. «Der Untergang droht» bildet einen würdigen und fantastischen Abschluss der Erzählung um ...

Der von vielen lang ersehnte dritte Band der «Chroniken von Mistle End» von Benedict Mirow ist soeben erschienen. «Der Untergang droht» bildet einen würdigen und fantastischen Abschluss der Erzählung um die beiden rivalisierenden jungen Druiden Cedrik und Crutch.
Inhalt:
Am Ende des vorangehenden Bandes 2 hatte Cedrik eine beängstigende Vision: Seine Heimat Mistle End steht in Flammen, dunkle Schattenarmeen kämpfen gegen die guten Bewohner der magischen Welt, und mitten in diesem Inferno fliegt ein Drachenreiter, welcher die unbändige Macht eines uralten Drachen entfesselt hat.
Für Cedrik und seine beiden Freunde Emily und Elliot Golden steht fest, dass es sich dabei um Cedriks erbitterten Gegenspieler Crutch handeln muss, der bereits Dornhexen und Vampire im Kampf gegen Mistle End vereint hat. Deren Ziel ist es, die Herrschaft über die Menschenwelt zu erringen und diese gegebenenfalls auch zu vernichten. Den Kindern bleibt nur wenig Zeit, weitere Verbündete zu finden, um einerseits ihr Zuhause in den schottischen Highlands zu retten und andererseits den Traum von einem friedlichen Zusammenleben von magischen und nichtmagischen Geschöpfen wahrwerden zu lassen. Gemeinsam machen sie sich darum auf in den Norden, um die Nymphen um Hilfe zu bitten. Cedrik muss zudem seine druidischen Kräfte verbessern und erhofft sich Hilfe von einem alten Druiden, welcher am Steinkreis von Callanish leben soll.
Auf ihrer beschwerlichen Reise begegnen die drei einmal mehr den fantastischsten, liebenswertesten und ebenso auch unglaublich bösartigen magischen Wesen. Sie erhalten Hilfe von kleinen Klabautermännern, freundlichen Brownelbs, Steinriesen, Werwölfen und Zauberinnen und treffen das geheimnisvolle Mädchen Babette, welche in ihren Träumen die Zukunft vorhersehen kann und gegen Ende des Buchs eine sehr endscheidende Rolle bei der Schlacht um Mistle End spielt. Wer den Kampf am Schluss für sich entscheiden kann, möchte ich nicht verraten, doch so viel sei gesagt: Es treten zwei überraschende Wendungen ein, mit denen die Lesenden bestimmt nicht rechnen werden.
Meine Meinung:
«Die Chroniken von Mistle End» gehören für mich zum Schönsten, das ich in diesem Jahr im Bereich fantastisches Kinder- und Jugendbuch gelesen habe. Das liegt zum einen daran, dass alle drei Bände unglaublich spannend und auch lustig geschrieben sind und man nicht aufhören kann, immer weiter zu lesen. Der Hauptgrund ist aber, dass in der Geschichte um Cedrik und seine Freunde so viel Gemüt, Liebe und Sorgfalt stecken, die das Herz erwärmen und einen beim Lesen einfach anrühren und glücklich machen. Der Autor Benedict Mirow sprüht nur so vor Ideen, alle Figuren in dieser Erzählung sind mit viel Phantasie, Originalität und Liebe zum Detail erdacht und beschrieben. Dass der Verfasser durch seine Tätigkeit Autor als Ethnologe und Regisseur über einen weiten Horizont verfügt, ist dem Buch durchaus anzumerken.

Gerne möchte man allen magischen Wesen auch begegnen dürfen, in der Bäckerei der Goldens von den Leckereien naschen, wie Cedrik mit den Tieren und der Natur eins sein und ihre Kräfte zum Guten einsetzen. Vielleicht ist ein wenig davon sogar möglich, denn Mirow zeigt uns, dass Magie überall zu finden ist. In unserer Menschenwelt haben sich die magischen Wesen bloss getarnt, und so könnten wir uns durchaus fragen, ob sich hinter dem riesenhaften, grossen Mann mit Hut und Aktentasche in der Strassenbahn nicht in Wahrheit ein gutmütiger Troll verbirgt. «Die Chroniken von Mistle End» sind zudem ein Plädoyer für den Wert von Freundschaft und für ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichsten Geschöpfe. Der Weg dorthin führt nicht über die Vernichtung des vermeintlich Fremden, sondern über Toleranz und Verständnis. Auch das Böse existiert und soll benannt werden, aber man muss sich davor hüten, selber bösartig zu werden. Das erfordert Mut und Menschen, die an die gleichen Werte glauben und einander unterstützen. Oder um es mit den Worten von Cedriks Vater aus dem Buch zu sagen: «Das Leben hilft denen, die sich für das Leben einsetzen. Vor allem, wenn sie es nicht für sich, sondern für andere tun. Du wirst es schaffen, mein Sohn!» Das ist eine starke Botschaft für Kinder (und Erwachsene).
Ich hoffe sehr, dass Benedict Mirow uns irgendwann noch mit einem weiteren Band beschenken wird, auch wenn Band 3 jetzt der Abschluss der «Chroniken von Mistle End» ist.
Erwähnen möchte ich – natürlich – noch das Buchcover. Die Hardcoverausgabe hat (wie alle Bände der Reihe) einen wunderschönen Schutzumschlag mit einem kreisrunden Ausschnitt in der Mitte. Wenn man diesen entfernt, kommt darunter ein weiteres Gesamtkunstwerk zum Vorschein. Beide sind gestaltet von Max Meinzold, einem der besten Illustratoren, welchen es zurzeit gibt.
Fazit:
Band 3 «Der Untergang droht» ist ein grossartiger Abschluss der «Chroniken von Mistle End». Einmal mehr sind Lesegenuss und Spannung bis zu einem Ende garantiert, welches noch einige Überraschungen bereithält. Ich empfehle die Reihe allen neugierigen und mutigen Kindern ab 10 Jahren, die Freude an Magie und gehaltvoller Fantasyliteratur haben.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere