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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 25.05.2017

sachlich, fachlich, informativ

Das übertherapierte Geschlecht
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Ich fand es zunächst sehr interessant, dass die beiden Autorinnen, die Kapitel unter einander aufgeteilt haben und das auch so in ihrem Vorwort offenlegen. Luitgard Marschall ist Wissenschaftshistorikerin, ...

Ich fand es zunächst sehr interessant, dass die beiden Autorinnen, die Kapitel unter einander aufgeteilt haben und das auch so in ihrem Vorwort offenlegen. Luitgard Marschall ist Wissenschaftshistorikerin, die sich mit Medizin, Nachhaltigkeit und Umwelt beschäftigt. Christine Wolfrum dagegen arbeitet als Wissenschaftsjournalistin und Autorin, maßgeblich für Bücher über Frauengesundheit, Psychologie und Sexualität. Ahnung haben sie also beide auf einer professionellen Ebene. Das merkt man dem Buch auch an. Trotz dem Wort „kritischer“ im Untertitel, bleiben die Argumente sachlich.
Teilweise aber auch so sachlich, dass ich das Gefühl hatte, hier wird gesagt: Diese Untersuchungen sind sinnvoll, diese nicht. Das war mir zu pauschalisierend. Sehr gut ist, dass echte Zahlen genannt werden. Oft gehen die beim Arzt unter. Nun sind Menschen mehr als Zahlen. Natürlich ist es schwer, da einen Mittelweg zu finden. Das Buch versucht das mit Fallbeispielen, Zitaten, echten Menschen zu unterstützen. Natürlich verzerrt es etwas, wenn gerade die Beispiele gezeigt werden, in denen das ein oder andere nicht funktioniert hat. Aber im Grunde geht es doch genau darum. Was funktioniert da nicht in unserem Gesundheitssystem?
Den Aufbau des Buches fand ich etwas seltsam gewählt. Nach einem eher allgemeinen Überblick, wie Frauen und Gesundheit gesellschaftlich verknüpft werden, springt Das übertherapierte Geschlecht direkt zu Schwangerschaft und den damit verbundenen IGeL – Leistungen, die die Patientin aus eigener Tasche bezahlt. Später erst kommt dann ein Kapitel zur Pille, zu Depressionen oder Schönheitsoperationen. Nun ist die Versorgung einer Schwangeren natürlich ein Fall für sich und es gibt einfach kein Äquivalent bei der männlichen medizinischen Versorgung. Dennoch gewinnt es natürlich an Bedeutung, gerade diesen Punkt an den Anfang zu stellen.
Und auch wenn das Buch explizit Frauenmedizin betrachtet, hätte ich es interessant gefunden, ob diese „Überversorgung“ erst mit Einsetzen der Geschlechtsreife und der Verordnung der Pille beginnt. Soviel ich weiß, sind im Kleinkind- und Kindesalter Jungs eher anfällig, öfter krank und dementsprechend auch öfter therapiert. Auch die „jungenhafte“ Wildheit wird doch gerne als Aufmerksamkeitsstörung dahingestellt. Dass das Buch so kontaktlos zu den anderen Bereichen medizinischer Versorgung da steht, fand ich sehr schade. Denn so wirkt es wir „Nur die Frauen sind überversorgt, oh weh, oh weh“ und das liefert ein falsches Bild.
Sehr gut war dagegen die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema in den einzelnen Kapiteln. Gerade durch die Fakten, Statistiken, gepaart mit Fallbeispielen wurde ein rundes Bild erzeugt. Unterteilt in große Kapitel wie „Hormone“, „Wechseljahre“ „Depression“ oder auch „Gebärmutterentfernung“ geht das Buch die großen Themen an, die zwangsläufig im Leben einer Frau stattfinden. Auch hier aber finde ich keine Ordnung, an der sich die Themen entlanghangeln. Da hat mir etwas gefehlt. Inhaltlich aber finde ich es erstaunlich, ausgezeichnet recherchiert und geradezu grotesk. Interviews und Gesprächsaufzeichnungen werden mitgeliefert und zeigen sehr gut: Die Medizin ist ein Wirtschaftsbetrieb. Und wenn die Nachfrage nicht von selbst kommt, werden eben Strategien aufgefahren, sie zu erzeugen.
Dabei kommt aber leicht das Gefühl auf, Frauen hätten gar keine andere Wahl, der Arzt wird zum nicht informierenden Arbeiter. Es geht auch anders.
In anderen Fällen, wie der Mammografie, war ich noch völlig naiv – einfach auch, weil ich mich mit dem Thema noch nie ausführlich befasst habe. Und da war Das übertherapierte Geschlecht wirklich sehr spannend aus meiner Perspektive.
Kritisieren muss ich aber noch, dass auf nicht ärztlich verordnete Medikamente nur sehr gering eingegangen wurde. Wie ist es mit Nahrungsergänzungsmitteln, die teilweise schon von Schülerinnen wegen irgendwelcher seidigen Haare oder fester Nägel genommen werden? Mit dem Markt an Abnehmhelfern? Ich hätte es interessant gefunden, wenn das Buch auch da auf Werbestrategien eingeht, die Doktor Liebling anpreisen oder sagen, das Mütter nicht krank werden (dürfen). Gerade hier läuft sehr viel innerhalb der Wahrnehmung von Medizin oder „Ergänzungen“ für Frauen, was ich als wichtiges Thema erachte und das fehlt einfach.
Und weil das alles so nach Meckerei anhört: Ich finde Das übertherapierte Geschlecht sehr lesenswert, weil es aufklärt und wenig meckert. Es empfiehlt weder einen Weg, noch rät es von medizinischer Versorgung ab, sondern liefert vor allem Fakten, gepaart mit Einzelberichten, die ein sehr rundes Bild liefern und das bewirken, was sie sollen: Frauen zum Nachdenken anregen, ob diese oder jene Untersuchung, Operation, Medikation wirklich nötig ist. Sehr gefreut hat mich auch, dass in den entsprechenden Kategorien wie beispielsweise bei der Depression auch auf das Problem eingegangen wird, dass Männer ihre Depression anders ausleben „müssen“, da ihnen das von der Gesellschaft regelrecht diktiert wird. Depressionen bei Männern sind genauso häufig, werden aber seltener diagnostiziert und wahrgenommen. Ein großes Problem, denn die Selbstmordrate aufgrund von Depression ist bei diesen untherapierten Männern umso größer. Dieser Ausgleich in einem Buch über Frauenmedizin fand ich hier angebracht, sehr gelungen und wichtig.

Veröffentlicht am 15.05.2017

Currywurst und Therapie, sehr unterschiedliche Wege aus der Krise

Der kleine Krisenkiller
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Jens Förster ist selbst Psychologe und hat bereits einige Krisen hinter sich gelassen. Dass er selbst weiß, wie wichtig und simpel manche Strategien sind, um kritische Lebenssituationen zu überwinden, ...

Jens Förster ist selbst Psychologe und hat bereits einige Krisen hinter sich gelassen. Dass er selbst weiß, wie wichtig und simpel manche Strategien sind, um kritische Lebenssituationen zu überwinden, macht das Buch authentisch. Dennoch dreht sich bei Förster nicht alles um sich. Dieses Buch wird nicht als autobiografische Krisenbewältigung genutzt, sondern bleibt professionell.
Angesichts der Krise reagiert jeder Mensch unterschiedlich. Viele Reaktionen sind bereits Strategien, mit der Situation umzugehen. Sport, Unternehmungen mit Freunden, aber auch künstlerisches Schaffen und das Wahrnehmen von Kulturangeboten.
Schon hier wird sichtbar, dass manche der Wege, die Förster hier präsentiert so häufig ablaufen, dass sie schon an der Grenze zur Verkitschung stehen. Die Schokolade oder der Eisbecher, das Gläschen Wein, eine Zigarette, eine Auszeit. Und genauso wird hier auch klar, dass nicht alle diese „automatischen“ Reaktionen gleich gut funktionieren. Wie schnell wird das Gläschen zur Flasche, die Auszeit zur Ausgrenzung. Wer nicht erkennt, dass die Krise bereits zu groß ist, rutscht in Depressionen, Abhängigkeiten, Folgeprobleme.
Darum zeigt auch Förster die Gefahren auf. Er selbst gönne sich auch mal eine Currywurst, aber eben nur in der akuten Situation der Krise, nicht ständig. Denn wo die Probleme sich nicht mit kleinen Veränderungen beseitigen lassen, müssen große her. Konkrete Umsetzungen von Plänen, Coaching, Therapie. Was in der Öffentlichkeit leider noch immer als unverzeihliche Schwäche gewertet wird, ist für den Einzelnen essentiell. Das Besinnen auf sich selbst, das Erkennen der eigentlichen Krise, das Überwinden dieser.
Jens Förster nutzt einen Stil, der schnell auf Augenhöhe ansetzt. Nicht von oben herab als klassischer Ratgeber mit dem „ihr müsst das so machen“ Prinzip, sondern mit dem Verständnis, dass jedem andere Wege helfen können. Eingängig ist das und sorgt auch dafür, dass auch die fremden Wege erkennbar werden. Die Gründe, warum gerade dieses oder jenes helfen kann, werden aufgezeigt. So stehen die Behauptungen nicht einfach im Raum, sondern lassen sich nachvollziehen. Hin und wieder nimmt es der Autor dabei sehr genau. Nicht nur Kunst als Oberthema wird beispielsweise aufgegriffen, sondern darunter auch die Abzweigungen zur Rezeption von Musik, Malerei, Literatur – um danach zum Schaffen dergleichen zu kommen.
Gut lesbar wird das Buch auch durch kleinere Anekdoten, die immer wieder die einzelnen Wege und Argumentationen unterstreichen. Auch andere Psychologen und Fachkräfte werden genannt. Authentisch und fachlich gut ausgearbeitet ist Der kleine Krisenkiller ein sehr interessantes Buch. Als kleinen Einblick in das, was uns helfen kann, Krisen zu bewältigen, ist das Buch ideal. Gerade zur Vorbeugung oder in kleineren Krisenfällen lohnt es sich, einen Blick hinein zu werfen.

Veröffentlicht am 30.04.2017

Hier wird jeder zum Künstler

Blütenpracht und Schmetterlingszauber
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Ich male unheimlich gern aus. Das beruhigt und ich kann zwischendurch Pausen machen, ohne den Rahmen zu verlieren. Auch meine Kinder sind unheimlich gern mit Buntstiften unterwegs. Umso besser, wenn ich ...

Ich male unheimlich gern aus. Das beruhigt und ich kann zwischendurch Pausen machen, ohne den Rahmen zu verlieren. Auch meine Kinder sind unheimlich gern mit Buntstiften unterwegs. Umso besser, wenn ich ihnen eine Alternative zur weißen Wand bieten kann.
Die Flächen zum Ausfüllen sind teilweise sehr klein und filigran. Gerade die einzelnen Karten ermüden teilweise schnell. Jedenfalls mich. Meine Tochter malt munter weiter. Eine gute Übung also, den eigenen Perfektionismus an seine Grenzen zu bringen. Dabei hat mich teilweise gestört, wenn die Flügel eines Schmetterlings nicht symmetrisch waren. Da ist aber auch mein innerer Nerd schuld.
Das Ausmalen hat uns großen Spaß gemacht. Eine tolle Idee, einen stressigen Nachmittag zu entspannen. Sogar mein Mann hat zu den Stiften gegriffen und losgelegt und auch der Kleinste hat es sich nicht nehmen lassen, mit zu kritzeln.
Sehr schön fand ich auch, dass nicht nur Karten, sondern auch Umschläge ausgemalt, gefaltet und anschließend benutzt werden können. Ein komplettes selbst gemaltes Grußkartenset kommt zusammen, über das sich nicht nur Oma und Opa freuen, denn die Feinheiten der Vorzeichnungen lassen auch das fertige Bild detailreich und durchdacht werden.
Ein tolles Ausmalbuch für Große und Kleine, Viellmaler und Buntstiftneulinge.

Veröffentlicht am 28.04.2017

Sehnsucht nach dem Selbst in Zeiten der Passivität

Rechts blinken, links abbiegen
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Sonja will endlich das Autofahren lernen. Mit über vierzig, getrennt, unglücklich mit Job, Wohnort, Beziehungen, spürt sie Sehnsucht. Sie will zurück an den Ort ihrer Kindheit, aber auch in die Einfachheit. ...

Sonja will endlich das Autofahren lernen. Mit über vierzig, getrennt, unglücklich mit Job, Wohnort, Beziehungen, spürt sie Sehnsucht. Sie will zurück an den Ort ihrer Kindheit, aber auch in die Einfachheit. Hin zu Momenten, die vergangen sind. Und das ist es auch schon. Im Grunde will Sonja einfach nur Auto fahren lernen. Mehr nicht.
Ich fand es sehr interessant, Sonja in diesem Buch zu begegnen. Sie befindet sich im Stillstand und will so unbedingt heraus, dass es mich immer wieder verwundert. Als eine zutiefst passive Gestalt macht es ihr schon Bauchschmerzen die dominante Fahrlehrerin gegen einen Fahrlehrer einzutauschen. Sonja kann nicht Nein sagen und ihre Meinung ausdrücken traut sie sich schon gar nicht. Das Übersetzten der blutrünstigen Bücher, sie alle so gerne lesen, macht ihr Angst.
Zur Metapher ihrer Sehnsucht nach zu Hause wird einmal die trostlose Landschaft. Sie sehnt sich nach der Weite, den Bergen, den goldenen Feldern, in denen sie sich als Kind versteckt hat. Und ihr wird eine Ebene präsentiert. Sie schwankt zwischen Extremen. Und irgendwie wird klar, sie ist eigentlich ein brodelnder Vulkan. Doch statt auszubrechen, beugt sie sich immer wieder, nimmt Abzweigungen, die es ihr erlauben, weiterhin passiv zu bleiben.
Als ihre Masseurin sie zu einem spirituellen Ausflug überredet, bleibt Sonja nur der Ausweg, sich auf ein Klos zu flüchten und zu warten, bis „die anderen“ ohne sie weiter gehen. „Die anderen“ wird zum kollektiven Übel. Alle, die ihr Zuschreibungen geben, sie mit sich ziehen wollen, um in ihr eine Verbündete zu finden. Der Fahrlehrer, der nicht die erhoffte Wendung bringt, sondern eine ganz andere will. Die beste Freundin, die Sonja von ihrem Liebesleben berichtet. Doch das alles ist Sonja nicht.
Es war herrlich erfrischend, dass dieser Roman so zentriert auf seine Protagonistin ist. Sonjas Passivität wird dadurch zur Möglichkeit, ihre Innensicht, ihre Gedanken bedeutungsschwer werden zu lassen. Es gibt keinen Kerl, in dem Sonja sich verlieren will. Ihr geht es gerade um das Gegenteil. Das Ankommen – das Zurückkommen. Ich bin ehrlich nicht ganz glücklich mit diesem starren Blick in die eigene Kindheit, die kindliche Heimat als räumlicher Ort der Zufriedenheit. Denn natürlich romantisiert Sonja hier. Sie überzeichnet ihre Erinnerungen als Wunschvorstellungen. Ich glaube nicht, dass sie dort glücklich werden kann.
Aber neu anfangen könnte sie. „Back to the roots“ ganz wörtlich. Zurück zu ihren Wurzeln. Und die werden hier großartig mit einem Gegenkonzept aufgezeigt. Mit der Schwester, die Sonja nie sprechen will. Mit dem Lebensweg, den sie nie gegangen ist. Sonja sucht verzweifelt die Nähe zur Schwester. Zu dem Ich, das sie hätte sein können. Diese Metapher wird hier schön gestaltet. Weniger schön ist, dass Sonjas Schwester Klischeecharakter hat. Sie ist verheiratet, Mutter, im Heimatdorf geblieben. Das andere Extrem und ich glaube, dass Sonja das auch nicht glücklich gemacht hätte. Dafür ist sie viel zu zufrieden mit sich selbst – nur ihre Umgebung stört sie.
Sehr schön finde ich auch den Rahmen des Autofahrens. Sonja sucht Anleitung. Jemanden, der ihr erklärt, wie sie ihr Leben zu leben hat. Sie will an die Hand genommen werden. Doch das geht immer wieder schief. Einmal prallt sie mit Figuren zusammen, die sich selbst zu stark einbringen und Sonja damit dominieren wollen. Und auf der anderen Seite kann nur Sonja selbst die entscheidenden Schritte gehen.

Veröffentlicht am 26.04.2017

vielfältiges Buch, was "Frau" alles heißen kann

Lieben muss man unfrisiert
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Lieben muss man unfrisiert gibt Berichte von Frauen wieder. Wie sie ihr Leben rückblickend und aktuell bewerten. Was sie erlebt haben, aber auch wie ihre Stellung als Frau ist. Ein sehr wichtiges Thema ...

Lieben muss man unfrisiert gibt Berichte von Frauen wieder. Wie sie ihr Leben rückblickend und aktuell bewerten. Was sie erlebt haben, aber auch wie ihre Stellung als Frau ist. Ein sehr wichtiges Thema also und ich wünsche mir, dass mehr Menschen – egal welchen Geschlechts – sich damit befassen.
Die Aufzeichnungen, die Nadine Kegele hier liefert, unterliegen keiner höheren Ordnung. Sie sind weder alphabetisch noch zeitlich geordnet. Und das ist auch gut so. Eine zeitliche Einteilung käme einer Chronik gleich und keiner Bestandsaufnahme. Der Eindruck entstünde, hier würde eine Entwicklung aufgezeigt. So war das Frauenbild – so ist es heute. Doch – und das zeigt dieses Buch wunderbar – es gibt nicht DAS Frauenbild. Es gibt Elemente und Zuschreibungen, Vorurteile und Umstände, die Faktoren für die Vorstellung der Frau sind. Und doch gibt es in diesem Buch lediglich parallelen zwischen den einzelnen befragten Frauen – keine Überschneidungen.
Außerdem, und auch diesen Umstand liebe ich hier, sind die Gesprächsteilnehmerinnen so großartig divers. Migrantinnen und Emigrantinnen, Traditionelle und Konservative, Junge und Alte, Weiße und Schwarze, Mütter, Großmütter, Alleinstehende, Lesbische, Transgender, Queer. Statt nur zu fragen, wie Frauen heute leben, fragt das Buch hier auch was eigentlich eine Frau ausmacht. Auch zieht Nadine Kegele dabei durch die verschiedenen sozialen Schichten. Von der Anwältin zur Putzfrau, von der Tänzerin zur Wissenschaftlerin, von der Schülerin zur Architektin. Das öffnet die Augen und zeigt die eigene Begrenztheit der Erfahrungen auf.
Geradezu erschütternd ist, wenn die einen vom Kampf gegen das Patriachat reden, vom Wunsch nach Gleichberechtigung, der freien Entfaltung des eigenen Seins – und die anderen gerade diese Regeln als Gottgegeben aufzeigen. Auch hier arbeitet das Buch fesselnd. Indem es diese Meinungen lediglich präsentiert, aber nicht gegeneinander aufwiegt, schafft es einen Vergleich zu ermöglichen, ohne selbst zu werden. Generell nimmt die Fragestellerin sich in den Aufzeichnungen so gut es geht heraus. Lediglich das von den Befragen Gesagte ist abgetippt. Zu behaupten, dadurch wäre ein objektiver Blick gewährleistet ist aber fatal. Nur weil sie „herausgeschnitten“ ist, heißt das nicht, dass sie keine Fragen gestellt hat. Das zeigt sich in den Antworten, wenn direkt auf Nachfragen zu Berufsaussichten, Ungerechtigkeiten, Erfahrungen eingegangen wird.
Hier zeigt sich, dass die Intention des Buches doch klar ist, Missstände aufzuzeigen. Gehaltsunterschiede zwischen Männer und Frauen werden genauso angesprochen wie Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bildung, Aussehen, Diskriminierungen kommen zu Sprache. Aber eben aus so vielen Perspektiven und teilweise auch mit Kritik an dem Konzept des Buches selbst, dass ich wirklich erstaunt, beeindruckt, erschreckt und begeistert zugleich war. Gerade durch diesen vielseitigen Blick wird für mich jedenfalls die Zuschreibung „Frau“ offener und weiter. Gleichzeitig bin ich geradezu entsetzt, wie viele Belästigungen hier zur Sprache kommen, Übergriffe, Gewalt, Anfeindungen.
Wie prägend die Einteilung in Frau und Mann ist – in all ihren Einzelheiten – ist kaum fassbar. Aber dieses Buch bietet zumindest auf der einen Seite und in sehr vielen Facetten einen guten Ansatz, um es herauszufinden.