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Veröffentlicht am 02.02.2022

Gelungenes lyrisches Doppel

Wir haben keine andre Zeit als diese
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Früher habe ich Lyrik lieber gelesen - aber die audiobooks, die ich in jüngster Zeit kennengelernt habe, ermutigen mich, auch ganz ohne Buch den Text auf mich einwirken zu lassen - und nun habe ich mit ...

Früher habe ich Lyrik lieber gelesen - aber die audiobooks, die ich in jüngster Zeit kennengelernt habe, ermutigen mich, auch ganz ohne Buch den Text auf mich einwirken zu lassen - und nun habe ich mit "Wir haben keine andere Zeit als diese" ein besonders gelungenes Doppel anhören Können: Die Gedichte von Mascha Kaleko, gesprochen von Katharina Thalbach.

Liebe und Sehnsucht, Exil, Fremdheit und Heimweh, Aufbruch und Rebellion - Kalekos Gedichte mögen aus der Zeit der Weimarer Republik und dem Exil nach der Flucht vor den Nazis stammen, viele ihrer Texte sind zeitlos. Mal ironisch, mal sehnsüchtig, mal verträumt, mal aufbegehrend - das klingt nicht nur in den Texten durch, sondern auch in der Interpretation durch Katharina Thalbach. Ihre etwas rauhe, tiefe Stimme hat eine große Bandbreite. Mal kratzt sie, mal ist sie weich, ganz unterschiedliche Stimmungen lässt sie allein durch Ausdruck und Stimmlage entstehen.

Nur eine Stunde 42 Minuten ist dieses Hörbuch lang, man kann es also auch gut in einer abendlichen Session, gewissermaßen als Lyrikabend, genießen. Und bedauert am Ende, dass es schon vorbei ist.

Veröffentlicht am 29.01.2022

Fremdheit, Ankommen, Rückkehr

Der Erinnerungsfälscher
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Mit gerade mal 125 Seiten ist "Der Erinnerungsfälscher" von Abbas Khider ein schmaler Band, aber die Geschichte von Said Al-Wahid hat es in sich. Mitten im Alltag kommt die Nachricht des Bruders - die ...

Mit gerade mal 125 Seiten ist "Der Erinnerungsfälscher" von Abbas Khider ein schmaler Band, aber die Geschichte von Said Al-Wahid hat es in sich. Mitten im Alltag kommt die Nachricht des Bruders - die Mutter liegt im Sterben. Das würde vermutlich bei jedem eine ganze Achterbahn der Gefühle in Gang setzen, doch im Falle des Erzählers liegen die Dinge noch ein wenig komplizierter: Die Mutter ist in einem Krankenhaus in Bagdad, er selbst als mittlerweile deutscher Staatsangehöriger in Berlin. Dank einer Lesereise ist der Autor praktischerweise in der Nähe des Frankfurter Flughafens und seinen Pass hat er zum Glück immer dabei: Ein Überbleibsel der Zeit der Flucht und der langen Jahre als Asylbewerber, als er stets dokumentieren musste, wer er war und die Aufenthaltsgenehmigung ein zentrales Stück seiner Existenz war. Die Fremde, so heißt es in dem Buch, ist eine Fahrt auf einer verflixt langen Straße, die sich in Serpentinen schlängelt und ins Nichts führt.

Während Said Reisepläne umschmeißt, einen Flug bucht und sich auf die Reise macht in das Land, das er vor 20 Jahren verlassen hat, blickt er zurück in die Vergangenheit seiner Familie, ihrer Tragödien, seiner Flucht und das lange Ankommen in Deutschland, das auch nach so langer Zeit immer wieder in Frage gestellt wird, wenn ein Polizist nach seinem Ausweis fragt, wenn ihn misstrauische Blicke streifen, wenn es wieder einmal einen islamistischen Anschlag gab.

Wieviel Abbas Khider steckt in Said Al-Wahid? Die Beschreibung der Romanfigur ähnelt dem Bild des Autors auf dem Schutzumschlag des Buches, beide sind Schrifsteller, beide kommen aus dem Irak. Das Nervenflattern in Ausländerbehörden, die Auseinandersetzung mit einer Bürokratie, deren Sprache schon Muttersprachler vor Herausforderungen stellt, die Erfahrung von Fremdheit - das ist geradezu kollektives Gedeächtnis all derer, die entwurzelt wurden und in einem neuen Land einen Neuanfang machen müssen.

Der Titel des Buchs bezieht sich auf eine Besonderheit Saids: Er leidet unter einer Erinnerungsstörung. An vieles aus seiner Vergangenheit, an alte Freunde oder Nachbarn kann er sich nur vage Erinnern. Wenn er autobiografisch angehauchte Texte schreibt, muss er die Lücken seiner Erinnerung mit seiner Vorstellungskraft füllen. Ist es ein neurologisches Problem oder ist die Last der Vergangenheit so groß, dass die Tilgung von Erinnerungen eine Art Selbstschutz ist? Saids Vater ist als Staatsfeind hingerichtet worden, der soziale Tod traf die ganze Familie. Die Schwester und ihre Familie kamen bei einer Bombenexplosion ums Leben. Die Zahl seiner Toten übertrifft die Zahl seiner Lebenden.

Auf der Reise in den Irak erlebt Said die Unterschiede, die sein roter deutscher Reisepass macht, der ihm Türen öffnet, die ihm mit dem blauen Flüchtlingspass oder gar mit dem irakischen versperrt waren. Den Pass trägt er nicht nur immer und überall bei sich, er ließ ihn sogar vor den Bundestagswahlen erneuern, für alle Fälle: "Er hatte Angst, dass sein Pass nach den Wahlen nicht mehr verlängert werden könnte. Said wollte auf alles vorbereitet sein, mit einem Pass, der zehn Jahre lang gültig war."

Das Buch zeigt auch die wachsende Kluft zwischen denen, die gegangen sind und jenen, die geblieben sind. Saids Bruder ist zwar jünger, doch er erlebt ihn gealtert. Das Leben im Irak, die Erfahrung des Bürgerkriegs, der amerikanischen Besatzung, der letzten Jahre des Regimes von Saddam Hussein haben Spuren hinterlassen. Trotz aller Unsicherheiten und Probleme ist es Said, der nach den Jahren der Flucht das bequemere Leben hat. Diese Rückkehr ist keine Heimkehr.

Schnörkellos und eindringlich geht es in diesem Buch um die Erfahrung von Fremdheit, um das Ankommen im mehrfachen Sinn, um Wurzeln und Identität, um die Folgen von Gewalterfahrung und familiären Trauma, ganz ohne Betroffenheitslyrik und Sentimentalität.

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Veröffentlicht am 23.01.2022

Wenn der Feigenbaum erzählt

Das Flüstern der Feigenbäume
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Bildhafte Sprache, eine Geschichte zwischen Fabel und Realitä, Liebe, Trauma und Erinnerung - in Elif Shafaks "Das Flüstern der Feigenbäume" kommt viel zusammen. Ich wurde auf die Autorin erstmals aufmerksam, ...

Bildhafte Sprache, eine Geschichte zwischen Fabel und Realitä, Liebe, Trauma und Erinnerung - in Elif Shafaks "Das Flüstern der Feigenbäume" kommt viel zusammen. Ich wurde auf die Autorin erstmals aufmerksam, als ich ihren Roman "Unerhörte Stimmen" las, der mich begeisterte. Ihr neues Buch behandelt zwar ein ganz anderes Thema, hat aber ebenfalls eine metaphysische Ebene - nur dass diesmal keine Toten sprechen, sondern ein Feigenbaum, der in einem englischen Garten der Kälte trotzt.

Im Mittelpunkt steht die verbotene Liebe von Kosta und Defne, für die es in ihrer Heimat Zypern keinen Platz gibt: Kosta ist Grieche, Defne Türkin. Noch sind die Ethnien nicht durch Teilung und Vertreibung nicht getrennt in den Norden und den Süden, sondern leben neben- aber auch gegeneinander. Der sensible Kosta und die energische Defne können sich nur heimlich treffen. Ihre Zuflucht wird die Taverne "Zur glücklichen Feige", deren Wirte Jorgos und Yussuf, wie sich herausstellt, ebenfalls ein heimliches türkisch-griechisches Paar sind.

Doch als der Konflikt sich zuspitzt und der älteste Bruder Kostas von griechischen Nationalisten als Kommunist ermordet wird, während der jüngere sich dem nationalen Untergrund anschließt, schickt seine Mutter ihn zu ihrem Bruder nach England - wenigstens eines ihrer Kinder soll sicher vor dem Konflikt sein und leben. Der Kontakt zu Defne bricht ab und erst 20 Jahre später besucht Kosta wieder Zypern. Er ist inzwischen ein Wissenschaftler und Pflanzenexperte, während Defne als forensiche Archäologin die Massengräber des Bürgerkriegs sucht und dabei hilft, die Identität der Toten zu klären. Sie will nichts von ihm wissen - doch dann kommen sie erneut zusammen und gehen zusammen nach England. Im Gepäck: Ein Steckling des Feigenbaums der inzwischen zerstörten Taverne.

Ein Happy End, eine Liebe, die alle Grenzen und Widerstände überwindet? Nicht wirklich, denn die Liebesgeschichte wird als Retrospektive erzählt. Defne ist tot, Alkohol- und Tablettenmissbrauch spielten dabei eine Rolle und die 16jährige Tochter Ada steckt in einer schweren Krise, fühlt sich auch von ihrem Vater ernachlässigt, der mit dem Feigenbaum im Garten spricht, aber keine gemeinsame Sprache mit ihr zu finden scheint. Und dann ist da noch der gellende Schrei, den sie eines Tages im Unterricht ausgestoßen hat und der dank eines Handyvideos auf den sozialen Medien viral geht. Ada möchte sich am liebsten in ihrer Trauer vergraben, doch dann kommt ihre Tante zu Besuch, die energische, traditionsverhaftete, abergläubische Schwester ihrer Mutter.

Erst unwillig, geradezu feindselig, lässt sich das Mädchen nach und nach auf die redselige Tante ein, die ihr von der Liebesgeschichte ihrer Eltern erzählt. Und noch einer erzählt: Auch der Feigenbaum bekommt in diesem Buch eine Stimme, lässt sich aus über die Lebenswirklichkeit und die Philosophie der Bäume, seine Erinnerungen an die Taverne, an das junge Paar, an das Leben im Exil. Im Hörbuch gibt Eva Mattes dem Feigenbaum ihre Stimme, während Joachim Schönfeld die aus menschlicher Sichtweise geschriebenen Kapitel liest. Die ruhige Art der beiden Sprecher lässt das Gehörte nachschwingen und angesichts der bildhaften - manche Kritiker sagen auch blumigen - Sprache Shafaks fällt es leicht, sich beim Zuhören die Szenen vorzustellen.

Defne und Kosta wollten Ada unbelastet von der Vergangenheit aufwachsen lassen, sie sollte ein britisches Mädchen sein, nicht die Konflikte Zyperns und die Wunden ihrer Familie mit sich herumtragen. Eine falsche Entscheidung? Ada sucht jedenfalls Antworten, will die Geheimnisse der Vergangenheit ergründen. Manchmal klingt "Das Flüstern der Feigenbäume" wie ein esoterisch angehauchtes Märchen, dann wieder wie ein spannender Krimi: Was ist auf der Insel geschehen, nachdem Kosta Zypern verlassen hat? Welche Geheimnisse prägen die Geschichte der Familie? Und märchenhaft-poetisch ist auch das Ende, das hier nicht verraten soll. Wieder einmal hat Elif Shafak ein Buch geschrieben, dass bezaubert.

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Veröffentlicht am 15.01.2022

Queere Dystopie

Zum Paradies
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Was für eine Hammerschlag zum Auftakt des Bücherjahres! Mit Hanya Yanigharas "Zum Paradies" steht für mich jedenfalls fest, dass ich bereits ein Buchhighlight dieses Jahres gelesen habe und es schwer ...

Was für eine Hammerschlag zum Auftakt des Bücherjahres! Mit Hanya Yanigharas "Zum Paradies" steht für mich jedenfalls fest, dass ich bereits ein Buchhighlight dieses Jahres gelesen habe und es schwer ist, hier noch zu toppen. Trotz des Umfangs von mehr als 900 Seiten habe ich das Buch regelmäßig vershclungen - wobei hier eigentlich drei Romane in einem stecken, den ich als queere Dystopie bezeichnen würde, denn die meisten der Hauptfiguren sind schwul - und das ist im ersten, im Jahr 1893 handelnden Roman so normal und selbstverständlich, dass ich mich geradezu gewundert habe, als dann doch mal von heterosexuellen Beziehungen die Rede war.

Verbindendes Element der drei in sich abgeschlossenen Teile sind der Ort - ein Haus am Washington Square in New York - und die Namen der Hauptfiguren, die sich in wechselnden Konstellationen wiederholen. Ansonsten greift die Autorin durchaus zu unterschiedlichen Stilmitteln - erinnert der erste Teil in seinem Setting an einen Roman von Henry James, ist der letzte, im Jahr 2093 spielende Teil eine Schreckensutopie, die an Orwell und Huxley erinnern in ihrer Warnung vor den Möglichkeiten, die eine Gesellschaft zwischen Ängsten und Radikalisierung treffen können.

Yanagihara beschreibt Beziehungen, die Sehnsucht nach Nähe und die Einsamkeit und Entfremdung zwischen ehemals Liebenden,Abhängigkeiten und den Umgang mit Krankheit, die Suche, sich ein kleines irdisches Paradies als einen Kokon gegen die Schrecken der Außenwelt zu schaffen. Menschliches Verhalten zwischen Anpassung an Erwartungen und gesellschaftlichen Druck, die Verantwortung für andere und die Konsequenzen von Lebensentscheidungen werden gleichermaßen thematisiert, ebenso die Frage nach Identität.

Das Haus am Washington Square ist im ersten Teil des Buches Heim einer der reichsten Familien New Yorks. Nach dem frühen Tod der Eltern hat der dort lebende Großvater die drei verwaisten Enkel der Familie aufgezogen, der älteste lebt immer noch dort, aufgrund regelmäßig auftretender Krankheitsanfälle im Gegensatz zu seinen erfolgreichen Geschwistern ein Gentleman of leisure. Doch nun, so drängt der Großvater, sollte auch er sich nach einem Lebensgefährten umsehen, eine arrangierte Hochzeit wird angebahnt, als sich der reiche aber kunstbeflissene Müßiggänger in einen mittellosen Musiklehrer verliebt und vor der Entscheidung steht, ob er die vorgegebenen Bahnen verlässt oder aus den Erwartungen ausbricht und einer Liebe folgt, von der er nicht sicher sein kann, ob sie nicht nur einseitig ehrlich ist.

Hundert Jahre später im New York des Jahres 1993 ist es, klar, der große Schatten von AIDS, der das Leben der Protagonisten bestimmt. Ein junger Mann und sein deutlich älterer Partner leben nun in dem Haus am Washington Square. Es ist die Zeit, in der ein sterbender Freund schon fast dafür beneidet wird "nur" an Krebs und nicht an der "Seuche" zu sterben. Zugleich geht es um die Fragen von Herkunft und Identität, um kulturelle Aneignung, um die von den Eltern geerbten Traumata.

Konnten in den Jahren 1893 und 1993 die Probleme der Außenwelt in dem bequemen, von Dienstboten umsorgten Leben am Washington Square noch ausgeblendet werden, so ist die im Jahr 2093 beschriebene Welt eine völlig andere. Krankheiten und Viremutationen, der Klimawandel und seine Folgen haben das Leben und Überleben der Menschen schwer beeinflusst - und die Gesellschaft hat sich auf dramatische Weise verändert. Der Kampf um immer knapper werdende Ressourcen hat die nationalen Egoismen aufflammen lassen, schon aus Angst vor der Verbreitung von Krankheiten ist Reisen nicht mehr möglich. Peking dominiert die Welt, nur wenige Staaten im alten Europa haben noch innerhalb der Region offene Grenzen und bewahren einen Rest von Liberalität.

In New York, wo die junge Charlie mit ihrem Ehemann in einer der mittlerweile in acht Wohnungen aufgeteilten Haus am Washington Square lebt, bestimmen hingegen Überwachungsdrohnen, Lebensmittelrationierungen, und sogenannte Umsiedlungszentren für Infizierte das Bild. Wer infiziert ist, wird isoliert, mit der ganen Familie und dem Sterben überlassen. Sich draußen aufzuhalten, ist nur noch mit Schutzanzügen möglich. Homosexualität ist illegal und Charlies Großvater, der als Wissenschaftler Schuld und Verantwortung für den Umgang mit Kranken trägt, will wenigstens noch seine Enkelin retten. Es ist eine verstörende Zukunftsvision, die angesichts der Polemik eines Donald Trump in den vergangenen Jahren einerseits und der Debatten während der Corona-Pandemie andererseits nicht völlig abseitig klingt. Gerade weil bei aller Zuspitzung ein Hauch von Möglichkeit darin liegt, ist diese Dystopie so beeindruckend wie depremierend.

Sprachlich ud inhaltlich hat mich die Autorin mit diesem Mammutbuch völlig überzeugt. Für mich ist "zum Paradies" eine Wucht und ausgesprochen empfehlenswert.



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Veröffentlicht am 26.10.2021

Terror auf dem Weihnachtsmarkt

Winterland
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Spätestens seit den Millenium-Romanen von Stieg Larsson stehen skandinavische Kriminalromane und Thriller für eine Mischung aus Spannung und politischer beziehungsweise gesellschaftlicher Brrisanz. Ob ...

Spätestens seit den Millenium-Romanen von Stieg Larsson stehen skandinavische Kriminalromane und Thriller für eine Mischung aus Spannung und politischer beziehungsweise gesellschaftlicher Brrisanz. Ob es sich um Gewalt gegen Frauen, Fremdenhass und Rassismus oder die wachsende soziale Schere handelt - eine ganze Reihe von Autoren legen den Finger in offene Wunden. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die meisten Vertreter dieses Genres zuvor als Journalisten arbeiteten. So auch Kim Faber und Janni Pedersen, die sich mit ihrem Buch "Winterland" ganz wunderbar in diese skandinavische Tradition einbringen.

Ist der erste Band einer als Triologie angelegten Reihe ein Krimi oder ein Polit-Thriller? Am Ende werden die Grenzen verwischen, doch spannend, vielseitig und nachdenkenswert ist der Fall der Kopenhagener Polizistin Signe Kristiansen und ihres Kollegen Martin Junckersen, der als Kleinstadtpolizist in seinen Heimatort Sandstedt gewechselt ist, um seinen dementen Vater zu versorgen. Für den erfahrenen Mordermittler ein schwieriger Ortswechsel, zumal das Verhältnis zum Vater schon seit der Jugend schwierig war und seine Ehe in einer Krise steckt.

Bis weit in die Hälfte des Buches hinein verfolgen Signe und Juncker unterschiedliche Fälle. Signe muss sich kurz vor Heiligabend mit einem Terroranschlag auf dem Kopenhagener Weihnachtsmarkt auseinandersetzen. Zu dem Druck, schnell Ergebnisse und Tatverdächtige präsentieren zu müssen, kommt in den ersten Stunden des Einsatzes die große Sorge: Wollte nicht ihre jüngere Schwester mit Familie den Weihnachtsmarkt besuchen? Spielt die Tatsache, dass im nahen Gerichtsgebäude ein Prozess um Bandenkriminalität geplant war, eine Rolle, oder handelt es sich um einen islamistischen Terrorakt, auch wenn bislang kein Bekennerschreiben oder Video aufgetaucht ist?

Juncker wiederum, der in seinem Kleinstadtrevier nur einen Polizeischüler mit möglicher posttraumatischer Störung nach einem Afghanistan-Einsatz und eine aus einer Einwandererfamilie stammende Polizeiassistentin zur Unterstützung hat, muss sich mit einer Vergewaltigung auseinandersetzen, für die Bewohner eines Flüchtingsheims verantwortlich sein sollen. Dann wird die Leiche eines zurückgezogen lebenden Mannes mit rechtsextremen Verbindungen gefunden, seine Frau wird vermisst. . Als die Ermittlungen des Kopenhagener Anschlags auf eine Spur nach Sandstedt stoßen, arbeiten Signe und Juncker plötzlich wieder gemeinsam an einem Fall. Und sie stellen fest, dass in einer Allianz des Terrors ziemlich unvermutete Bündnisgenossen zusammen gefunden haben könnten.

Die Suche nach der Wahrheit fördert auch Dinge zutage, die unter den Tisch gekehrt werden sollen. Je mehr die Ermittler erfahren, desto mehr nehmen auch Versuche der Einflussnahme zu. Die Wahrheit, das wird schnell klar, könnte gefährlich sein.

Mit "Winterland" nehmen sich die Autoren ziemlich viel Zeit, Protagonisten und Nebenfiguren mit ihren Problemen und ihrem Privatleben ausführlich vorzustellen - ohne dass es dabei langweilig oder überladen wird. So wird schon einmal eine komplexes Beziehungsnetz angelegt, das in den Folgebänden sicherlich eine Rolle spielen wird. Doch auch ein Ende, das in seinen eher düster gezeichneten Tönen an die Romane von John le Carré erinnert, macht neugierig auf den Folgeband, denn vieles. was bisher nur angedeutet wurde, wartet darauf. aufgedeckt zu werden.

Komplex, spannend und gerade angesichts des Realismus nachdenklich machend, überzeugt "Winterland" mit Plot und Figuren, die vielschichtig und überzeugend gezeichnet sind. Juncker und Signe sind keine Superhelden, sondern Menschen, die einen schwierigen Job und ein nicht immer leichtes Privatleben unter einen Hut bringen müssen - und die Entscheidungen treffen, deren Konsequenzen noch nicht absehbar sind. Das macht neugierig, sehr neugierig auf den Folgeband, der zum Glück bereits im Dezember erscheinen soll.



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