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Veröffentlicht am 10.07.2022

Prekarität, Armut und Chancenlosigkeit

Beifang
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Als das Haus seiner Eltern, in dem er aufgewachsen ist, verkauft werden soll, begibt sich der Erzähler zurück in seinen Heimatort am Rande des Ruhrgebiets: Selm-Beifang. Dort setzt er sich zum ersten Mal ...

Als das Haus seiner Eltern, in dem er aufgewachsen ist, verkauft werden soll, begibt sich der Erzähler zurück in seinen Heimatort am Rande des Ruhrgebiets: Selm-Beifang. Dort setzt er sich zum ersten Mal mit der Geschichte seiner Familie und besonders die seines Vaters und Großvaters auseinander. Es ist eine Geschichte, die geprägt ist von Prekarität, Armut und Chancenlosigkeit.

So wurde der Großvater nach dem Krieg zwar Bergmann, aber: „was er [...] überhaupt nicht gern war, war Bergmann. Und das blieb er sein Leben lang.“ Er wäre gerne gereist und hatte auch ein Talent für das Fotografieren, was er nie richtig ausleben konnte. Spätestens dann nicht mehr, als dem Vater des Protagonisten der Blinddarm durchbricht und der Großvater seine Kamera verkauft, um die Behandlung bezahlen zu können.

Auch beim Vater wird die Entscheidung über die Berufswahl durch die Umstände bestimmt. Um Fahrtkosten für Bus und Bahn zu sparen, muss er eine Ausbildung im Fernsehgeschäft machen. Dann ist da noch die Großmutter, die eigentlich Kinderärztin werden wollte und am Ende ihres Lebens sagt: „Ich wollte es doch ganz anders“.

Es sind die Umstände, der Ort, die Lotterie des Lebens, die diese Menschen gefangen halten und die den Vater behaupten lassen, als er vom Sohn das Buch „Die Asche meiner Mutter“ geschenkt kriegt: „Bei uns war es schlimmer“. Fatalismus und oft auch das Zerbrechen am eigenen Schicksal bestimmen über Generationen hinweg das Leben der einzelnen Familienmitglieder.

„Er machte nicht den verbreiteten Fehler, die grundsätzlichen Ungerechtigkeiten des Lebens als etwas Persönliches misszuverstehen.“

Die Lektüre hat mich an Didier Eribon erinnert, an Edouard Louis, an Christian Baron, die bekanntlich auch auf einem literarischen Weg ihre Beziehungen zum Vater reflektieren. Martin Simons Roman reiht sich ein in diese Gruppe von Werken, die sich mit der sozialen Herkunft der eigenen Familie auseinandersetzen und geht in ihr durchaus nicht unter, im Gegenteil.

Das Buch wird deshalb all diejenigen Leser überzeugen können, die das unbeschönigte, glaubhafte Erzählen über das Schicksal einer Arbeiterfamilie zu schätzen wissen und nicht zuletzt auch all diejenigen, die sich für literarische Darstellungen des Lebens im Ruhrgebiet interessieren. Mich jedenfalls hat es vollends überzeugt.

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Veröffentlicht am 23.06.2022

Ein außergewöhnlicher Science-Fiction-Roman

Der Mann, der vom Himmel fiel
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Was passiert mit einem Außerirdischen, der auf die Erde kommt, um Raumschiffe zu bauen und die Bewohner seines eigenen Planeten zu retten? Diese Frage bildet den Kern des von Walter Tevis bereits 1963 ...

Was passiert mit einem Außerirdischen, der auf die Erde kommt, um Raumschiffe zu bauen und die Bewohner seines eigenen Planeten zu retten? Diese Frage bildet den Kern des von Walter Tevis bereits 1963 verfassten Romans „Der Mann, der vom Himmel fiel“. Auf den ersten Blick mag die Geschichte an Science Fiction erinnern, doch im Laufe der Lektüre zeigt sich, dass es Tevis eigentlich um etwas anderes geht. Nämlich um die psychologische Entwicklung dieses Außerirdischen, der sich Newton nennt. Er gewöhnt sich zwar an das Leben als Mensch, doch zu den Menschen selbst bewahrt er stets eine Distanz. Einsamkeit und Melancholie plagen ihn. Er ist zerbrechlich, in physischer und psychischer Hinsicht. Bald kommen Alkoholismus, Verzweiflung und die Entfremdung von seiner Herkunft hinzu.

„Er war menschlich, aber nicht wirklich ein Mensch.“

Beschäftigt man sich näher mit Walter Tevis, so fällt auf, dass Newtons Schicksal auf der Erde einige Parallelen zum Leben des Autors aufweist. Genau wie Newton verfiel Tevis dem Alkohol. Er war als Kind außerdem krank und schwächlich, musste Medikamente nehmen. Schließlich verbindet auch Kentucky als Ort den Autor mit seiner Figur.

Das Außerirdischsein steht, wenn man diese Parallelen weiterdenkt, im übertragenen Sinne dafür, wie schnell es passieren kann, dass man unverstanden bleibt, dass man keinen Platz in der Gesellschaft findet.

Und diese biographische Lesart erklärt vielleicht auch, warum sich das Buch so introspektiv anfühlt, warum seine Melancholie nie aufgesetzt oder zwanghaft herbeigeschrieben wirkt. Es ist kein durchweg schweres Buch, aber auch keine leichte, unterhaltende Aliengeschichte. Und gerade das fasziniert.

Wenn man Tevis schon gelesen hat, dann weiß man, dass er erzählen kann. Und auch mit dem “Mann, der vom Himmel fiel” vermag er seinen Leser zu überzeugen. Es ist ein bemerkenswerter, nachdenklicher Roman.

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Veröffentlicht am 20.03.2022

„Ein Querkopf, ein Bergler, ein Wilderer“

Tell
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Mit seiner Neuerzählung der Tell-Sage entführt Joachim B. Schmidt den Leser in eine archaische und raue Welt. Wilhelm Tell lebt in ärmlichen Verhältnissen mit seiner Familie auf einem Bergbauernhof. Um ...

Mit seiner Neuerzählung der Tell-Sage entführt Joachim B. Schmidt den Leser in eine archaische und raue Welt. Wilhelm Tell lebt in ärmlichen Verhältnissen mit seiner Familie auf einem Bergbauernhof. Um zu überleben muss er wildern, doch das Wild gehört per Gesetz dem Landvogt Gessler. Dessen Soldaten und besonders deren Anführer Harras scheuen keine Konfrontation und so kann ein Blutvergießen zwischen ihnen und Tell nur knapp verhindert werden. Als Tell schließlich eine Kuh verkaufen möchte, weigert er sich auf dem Viehmarkt, den Hut des Landvogts zu grüßen. Was als Bestrafung folgt, ist der berühmte Apfelschuss.

Schmidts Roman ist lebendig. Er besticht durch eine moderne Sprache, die die Legende um Wilhelm Tell zugänglich macht, die zeitliche Distanz zu ihr überbrückt und sie dadurch nah wirken lässt. Die verschiedenen Figuren aus Tells Umfeld, die in den kurzen Kapiteln sprechen und denken, tragen außerdem dazu bei, dass die Geschichte schnell eine Vielschichtigkeit, Tiefe und Dynamik entwickelt. Schmidt porträtiert Tell durch Fremdperspektiven und lässt ihn so als einen wortkargen, grimmigen, aber auch furchtlosen, entschlossenen und unnachgiebigen Mann in Erscheinung treten. Er bleibt für den Leser interessant, das Sagenhafte scheint ihm schon anzuhaften.

“Tell” ist eine gelungene Neuerzählung, die die Legende des Schweizer Nationalhelden einer heutigen Leserschaft auf unterhaltsame Weise nahebringt. Unter Schmidts Feder nimmt die Geschichte eine aktualisierte Form an, die lesenswert ist und es nicht nötig hat, dass man sie mit filmischen Vergleichen bewirbt, wie der Verlag dies im Klappentext tut. Schmidts “Tell” muss sich nicht hinter “The Revenant” oder “Braveheart” verstecken. Ganz im Gegenteil!

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Veröffentlicht am 30.01.2022

Selbstbewusst, mutig, radikal

Zusammenkunft
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“Es ist eine Geschichte. Sie handelt von Herausforderungen. Von harter Arbeit. Sich am Riemen reißen. Hochgerollten Hemdsärmeln. Sie handelt davon, wie man sich zwingt. Hoch. Bewältigung. Überwindung, ...

“Es ist eine Geschichte. Sie handelt von Herausforderungen. Von harter Arbeit. Sich am Riemen reißen. Hochgerollten Hemdsärmeln. Sie handelt davon, wie man sich zwingt. Hoch. Bewältigung. Überwindung, et cetera.”

So beginnt dieser auf den ersten Blick unscheinbar dünne Roman “Zusammenkunft” von Natasha Brown. Doch schon nach den ersten Seiten wird klar, dass er alles andere als unscheinbar ist, dass er ganz im Gegenteil politisch und radikal ist, Gesellschaftskritik übt und dass er sich mit Themen wie sozialem Aufstieg, institutionalisiertem und alltäglichem Rassismus sowie Kolonialismus auseinandersetzt.

Die Protagonistin lebt als Tochter von jamaikanischen Einwanderern in London, arbeitet im Finanzsektor, hat sich bis zum Besitz eines gregorianischen Townhouses mit Kunst an den Wänden hochgearbeitet, zu einer privaten Krankenversicherung und einem Vermögensberater. Doch das ist nur die eine Seite ihres Lebens, der schöne Schein. Denn gleichzeitig sind da die Abendessen mit den Kollegen, die Aufdringlichkeiten und Annäherungsversuche, die Erniedrigungen, der ständige Kampf oben zu bleiben, nicht abzustürzen und die Angst, nicht wirklich oben anzukommen und diejenigen, zu denen sie dazugehören muss, nicht richtig nachahmen zu können.

Dann ist da noch der Freund der Protagonistin, der aus reichem Hause kommt und in der Politik arbeitet. Seine liberalen Eltern tolerieren sie, geben ihr aber gleichzeitig zu verstehen, dass sie sie nur als eine Phase des Sohnes betrachten, als einen Übergang. Denn eine Heirat würde den guten Namen und das Stammbuch der Familie beschmutzen: “Es ging um die Reinheit der Abstammung, der Geschichte; geteilter kultureller Sitten und Empfindungen. Die Fortführung eines Lebensstils, einer Klasse, des notwendigen höheren gesellschaftlichen Rangs.” Die Durchlässigkeit der Klassen, der soziale Aufstieg durch harte Arbeit: das alles entlarvt Brown als Farce.

An die Stelle dieses Narrativs von Aufstieg und Erfolg durch Arbeit rückt Brown die Angst vor dem Abstieg, die allgegenwärtig ist, die Fragilität, die Kompromisse und die Fiktionalisierung des Ichs. Denn dass die Protagonistin eine Rolle spielt, kommt immer wieder zum Ausdruck. Sie muss sich einen Habitus aneignen, der nicht der ihrige ist, wird zu einer Parodie ihrer selbst: “Hier geboren, Eltern hier geboren, immer hier gelebt - trotzdem, nie von hier. Ihre Kultur wird auf meinem Körper zur Parodie”. Sie “spaltet sich ab”, um dazuzugehören, verzichtet auf ihr Glück, um das, was noch ihren Eltern und Großeltern verwehrt wurden, erreichen zu können, nämlich ein Stück oberen Mittelklassekomforts.

Natasha Brown reduziert ihren Roman auf das Wichtigste, auf den Kern und verzichtet auf Ausschweifungen. Ihre Worte treffen dabei ins Mark. Auf den ersten Blick mag der Erzählstil mit seinen kurzen Sätzen und Abschnitten fragmentarisch anmuten, doch die Zusammenhänge sind allzu klar, als dass man sie nicht erkennen würde. “Zusammenkunft” ist ein wütendes Buch und ein lautes, weil es kein Blatt vor den Mund nimmt, weil es sich nicht scheut, das zu sagen, was gesagt werden muss. Weil es von der Ausbeutung der kolonialisierten Länder spricht, die bis heute andauert, von einer Gesellschaft, die sich sträubt, die Verbrechen des Kolonialismus überhaupt anzuerkennen und stattdessen ein märchenhaftes, wohlwollendes Empire verherrlicht.

Zu Recht hat dieser Roman im englischsprachigen Raum für Furore gesorgt. Denn er spricht über das, was oft ungesagt bleibt, hält der (britischen) Gesellschaft einen Spiegel vor und ist deshalb eine Bereicherung für die Gegenwartsliteratur.

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Veröffentlicht am 28.09.2021

Sterne, Karten, Ungeheuer und ein mutiges Mädchen

Die Sternenleserin und das Geheimnis der Insel
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Isabelle wächst als Tochter eines Kartographen auf der abgelegenen Insel Joya auf. Einst eine durch die Weltmeere frei schwimmende Insel, wird Joya heutzutage von einem Gouverneur mit harter Hand regiert. ...

Isabelle wächst als Tochter eines Kartographen auf der abgelegenen Insel Joya auf. Einst eine durch die Weltmeere frei schwimmende Insel, wird Joya heutzutage von einem Gouverneur mit harter Hand regiert. Regeln und Ungerechtigkeiten bestimmen das Leben und den Alltag. Die Bewohner dürfen weder ins Meer noch in den Wald gehen und dürfen sich nur in einem bestimmten Teil der Insel aufhalten. Denn dahinter liegen die Vergessenen Gebiete, in denen der Legende nach Dämonen ihr Unwesen treiben.

Als Cata, ein junges Mädchen, ermordet aufgefunden wird, ändert sich das Leben auf der Insel von einem Tag auf den anderen. Lupe, die Tochter des Gouverneurs und Isas Freundin, macht sich alleine auf die Suche nach dem Mörder. Eine Expedition des Gouverneurs folgt ihr nur kurze Zeit später. Verkleidet als Junge und ausgestattet mit einer Karte des Gebiets, reist Isa mit und leitet die Expedition durch die dunklen Gebiete, in denen überall Gefahren lauern.

“Die Sternenleserin und das Geheimnis der Insel” ist der Debütroman von Kiran Millwood Hargrove, der nun auch endlich auf Deutsch und in einer sehr schönen Aufmachung im Inselverlag erscheint. In England hat der Roman bereits zahlreiche Preise gewinnen können, so unter anderem den Waterstones Children’s Book Prize und den British Book Award’s Children’s Book of the Year. Und das zurecht! Denn Hargrave erzählt eine Geschichte, die von der ersten Seite an durch ihre besondere Welt, ihre Atmosphäre und durch ihre Figuren besticht.

Es ist eine magische Welt, in die die Autorin den Leser entführt, eine, in der Ungeheuer, Bosheit und das Dunkle sich auszubreiten drohen. Aber gleichzeitig ist es auch eine Welt, in der mutige Figuren dazu bereit sind, sich dem Bösen zu stellen und es zu bekämpfen. Besonders Isa wächst dem Leser mit ihrer Abenteuerlust, ihrem Mut und ihrer Unerschrockenheit im Laufe der Geschichte ans Herz. Da, wo Erwachsene und die Mächtigen versagen, setzt Isa an. Sie scheut sich nicht davor, den schwierigsten Weg zu gehen, weiß, was Verantwortung bedeutet und hält stets zu ihren Freunden.

Millwood Hargrave hat einen zauberhaften Roman geschrieben, der es verdient hat, auch in Deutschland viele Leser zu finden. Wenn ihr also erfahren wollt, ob Lupe ihren Alleinritt in die Vergessenen Gebiete überlebt, ob Catas Mörder gefunden wird und was für ein Schicksal der Insel bevorsteht, dann müsst ihr diesen Jugendroman lesen!

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