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Veröffentlicht am 04.02.2022

La vita agrodolce

Der letzte Sommer in der Stadt
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Ich: Wie zeitlos kann ein Buch sein?
Der letzte Sommer in der Stadt: Ja.

1973 ist Gianfranco Calligarichs Roman erschienen. Vor 49 Jahren. Zwei, fast drei Generationen junger Leute später wirkt „Der ...

Ich: Wie zeitlos kann ein Buch sein?
Der letzte Sommer in der Stadt: Ja.

1973 ist Gianfranco Calligarichs Roman erschienen. Vor 49 Jahren. Zwei, fast drei Generationen junger Leute später wirkt „Der letzte Sommer in der Stadt“ frisch wie am ersten Tag.

Ein junger Mann in einer großen Stadt, der ewigen Stadt, Rom, natürlich. Das sorglose Leben, wenn die Schulzeit hinter und noch so vor einem Menschen liegt. Die flüchtigen Bekannt- und besseren Freundschaften. Jobs, die noch keine Arbeit sind. Durchfeierte Nächte. Und die Liebe, ja, die Liebe, oder besser: Amore.

Die findet Leo Gazzarra, der (Anti-)Held dieser Geschichte, in Arianna. Schön ist sie, wankelmütig, undurchschaubar. Und trotz aller Nähe wahrt sie eine gewisse Distanz, die Leo schier um den Verstand bringt, aus Rom weg in die Mailänder Heimat treibt, die längst keine mehr ist.

Calligarich hat hier vor fast fünf Jahrzehnten einen Roman geschaffen, der mehr ist als nur eine Verbeugung vor amerikanischen Literaten wie Kerouac oder Hemingway. Es ist ein Werk, dass Beat-Literatur mit La Dolce Vita von Fellini verknüpft – nur dass es oft agrodolce ist. Bittersüß. Von Seite zu Seite bis zu seinem Ende nimmt die Süße ab, verschwindet die Wärme, das Wohltun des Sommers, hin zum großen Finale.

Ein wunderbares Buch, eine großartige Wiederentdeckung, eine tolle Übersetzung. Und kein Jahr gealtert. Amore!

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Veröffentlicht am 20.03.2024

Klassiker, halbgut gealtert

Per Anhalter durch die Galaxis
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Auch wenn ich Bücher in meinem Regal sammele, lese ich doch die wenigsten ein zweites Mal. Vermutlich ein Fehler, aber es gibt einfach so, so viele Bücher. Nach gut zwanzig Jahren habe ich trotzdem mal ...

Auch wenn ich Bücher in meinem Regal sammele, lese ich doch die wenigsten ein zweites Mal. Vermutlich ein Fehler, aber es gibt einfach so, so viele Bücher. Nach gut zwanzig Jahren habe ich trotzdem mal wieder einen Klassiker aus dem Regal gezogen - Per Anhalter durch die Galaxis.

Zum ersten Mal gelesen habe ich die Reihe um Arthur Dent 2001. Douglas Adams war gerade gestorben, mein Abi lag wenige Wochen hinter mir und ich im Garten nach einem weiteren Zivi-Tag im Krankenhaus. Und kicherte direkt vor mich hin.

Ähnlich war es kürzlich. Auch wenn der Plot noch in meinem Kopf war, zumindest so halbwegs, fand ich vieles amüsant, über das ich schon vor Jahren gelacht habe. Manches war vielleicht sogar klarer als damals, als ich noch nicht viele Behördengänge hinter mir hatte. Und ich sag's mal so - manches war in den letzten Jahren wirklich vogonesk.

Trotzdem gab's auch ein paar Stellen, die etwas aus der Zeit gefallen scheinen. Es ist doch ein sehr männlich geschriebenes Buch. Es gibt nur eine richtige Frauenfigur und die ist mehr love interest und sidekick als ein richtig starker Charakter, wie sie heute existieren würde.

Und: Ich hatte nicht auf dem Schirm, wie kurz das Buch doch ist. Auf der anderen Seite: perfekte Lektüre für ein Wochenende. Oder eben einen Nachmittag in der Sonne. Davon soll's ja bald wieder mehr geben. Und vier weitere Bücher gibt es ja sowieso noch zum erneut lesen.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Schattensommer

In diesen Sommern
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Eis und Schwimmbadpommes, abends wachbleiben, bis die Sonne untergeht, Ausflüge und Urlaube. Erinnerungen, die man an die Sommer seiner Kindheit haben sollte.

Über Erinnerungen, wie sie kein Kind, kein ...

Eis und Schwimmbadpommes, abends wachbleiben, bis die Sonne untergeht, Ausflüge und Urlaube. Erinnerungen, die man an die Sommer seiner Kindheit haben sollte.

Über Erinnerungen, wie sie kein Kind, kein Mensch haben sollte, schreibt Janina Hecht in ihrem Debüt „In diesen Sommern“. Ein, zwei, drei Gläser Alkohol zu viel. Ein Streit, ein Schlag, ein Tritt. Eine Familie, die erst innerlich, dann äußerlich daran zerbricht.

Nüchtern, klar, fast emotionslos und gleichzeitig nur schwer zu ertragen, erzählt die Hauptfigur Teresa in meist kurzen Kapiteln Episoden aus ihrer Kindheit und Jugend. Einige wenige schöne Momente. Viele, auf denen erst kleine, dann immer größere Schatten liegen.

Das Eingeständnis, die Erkenntnis, dass ihr Vater Alkoholiker ist. Der erst die Mutter, dann sie und ihren Bruder schlägt. Bis erst eine Sorge, dann eine Angst mit in das Haus zieht. Bis erst Teresa und dann auch der Rest ihrer Familie den Absprung schafft.

Zurück bleibt ein Vater, der keinen Ausweg findet. Der nicht von seiner Familie gerettet werden kann, vielleicht auch nicht gerettet werden möchte, der seine Sucht zu verbergen versucht und immer häufiger daran scheitert.

Alkoholismus ist ein Tabuthema in unserer Gesellschaft ist. Dieses zu brechen ist eine Aufgabe für uns alle. Nicht jede Familie, nicht jedes Leben kann dadurch gerettet werden. Aber jede und jedes ist es wert, dass wir es versuchen.

Eine intensive, eine tieftraurige Familiengeschichte von diesen Schattensommern, die es zu verhindern gilt. Damit alle Menschen mit freudigem Wehmut an die Sommer ihrer Kindheit zurückdenken.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Das Fenster zum Hof

So wie du mich kennst
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Irgendwann stutze ich. Ist das Buch noch eine emotionale Geschichte über Geschwister, über Freunde, über den Tod von geliebten Menschen? Oder ist es doch ein Thriller, in dem ein Unfalltod gar kein Unfall ...

Irgendwann stutze ich. Ist das Buch noch eine emotionale Geschichte über Geschwister, über Freunde, über den Tod von geliebten Menschen? Oder ist es doch ein Thriller, in dem ein Unfalltod gar kein Unfall war, sondern eine Verbindung zu häuslicher Gewalt hat?

Aber erst einmal zurück auf Anfang: Da steht Karla an der scheiß schönen Aussicht mit ihrem kaputten Auto und der Asche ihrer Schwester in der Hand. Sie kommt zurück aus New York wo Marie seit ihrer Scheidung lebte, zurück in ihren Heimatort im tiefsten Franken, zurück in ihr Elternhaus, in dem alles immer zu Viert passierte und nun zu Dritt passieren muss, wie auch immer, darauf ist niemand vorbereitet.

Ein Moment der Unaufmerksamkeit, eine rote Ampel, ein etwas zu schnelles Auto, ein Knall. Aber wie konnte das passieren? Die große Frage, die Karla keine Ruhe lässt. Also fliegt sie zurück nach New York, für zwei Monate. Zeit, die Wohnung ihrer Schwester aufzulösen, mit ihren Freunden zu sprechen, Abschied zu nehmen. Und dann wechselt die Perspektive.

Während Karlas Zeit in New York weitergeht, nähert sich Maries Zeit dem Unfall. Sie erinnert sich an ihre gescheiterte Ehe, an ersten Tage und Aufträge als Fotografin in New York, an ihre Nachbarn, die so glücklich wirkten – bis sie merkt, dass es nicht so ist. Und dass sie weiß, was ihre Nachbarin fühlt, erlebt, erfährt. Und dass es eigentlich nicht in Ordnung ist, dass sie Fotos davon macht, was da in der Wohnung gegenüber passiert.

Und auch Karla stößt irgendwann auf Maries Laptop. Und auf die Bilder. Und auf das Pärchen, das nach außen scheint und schimmert und nach innen streitet und wimmert. Und ein irgendwann später ist da die Polizei, ist da ein Leichensack. Und die Frage: Was wusste ihre Schwester?

Anika Landsteiners Roman ist unfassbar vielschichtig. Emotional genauso wie genreübergreifend. Er liest sich gut, schnell, erstaunlich beschwingt für eine Geschichte mit dieser Traurigkeit, mit dieser Unfassbarkeit. Und sie thematisiert die oft lieber totgeschwiegene Gewalt in Beziehungen, in Ehen, die viele Menschen innerlich zerbrechen lässt und die immer noch ein Tabuthema in unserer Gesellschaft ist. Allein deswegen schon ein Buch, das wichtig ist und das gelesen werden sollte – und zurecht mit einem Spiegel Beststeller-Sticker ausgezeichnet ist.

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Veröffentlicht am 30.01.2024

Schlachthof Boys

Essex Dogs
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Historische Romane sind ja eigentlich nicht meins. Zu langatmig oder zu kitschig oder im schlimmsten Fall beides. „Essex Dogs“ ist da anders. Rasant, brachial, stellenweise witzig – und nah an der Historie. ...

Historische Romane sind ja eigentlich nicht meins. Zu langatmig oder zu kitschig oder im schlimmsten Fall beides. „Essex Dogs“ ist da anders. Rasant, brachial, stellenweise witzig – und nah an der Historie. Das ist der Verdienst des Autors – Dan Jones. Nebenberuf Autor, Hauptberuf Historiker. Hohe Fallhöhe – aber es geht nicht schief. Zum Glück.

Die „Essex Dogs“ sind ein Haufen Söldner, der 1346 mit englischen Heeren nach Frankreich zieht. Eigentlich haben sie sich nur für 40 Tage verpflichtet, danach soll es wieder zurückgehen in die Grafschaft nordöstlich von London, zurück zu Pints und Pubs. Dass dies erst der Auftakt des Hundertjährigen Krieges sein wird, ahnt vermutlich keiner. Auch nicht, dass nicht alle Essex Dogs den französischen Boden verlassen werden.

Dan Jones Roman ist wahrlich kein Buch für Leser:innen von cozy history. Er ist eine klassische Kriegsgeschichte. Dörfer werden erobert und zerstört, Frauen vergewaltigt, Kinder getötet. Nicht explizit, da die Dogs aus Essex sich an letzteren Taten nicht beteiligen, dennoch harte, wenn leider auch wahre Kost.

Jones mixt für seine Geschichte historische Figuren von King Edward III, dessen Sohn und britischen Feldherren sowie ihren französischen Pendants mit den fiktiven Essex Dogs um ihren leicht mysteriösen Anführer Loveday. Letzterer kämpft mit den Schatten seiner Vergangenheit – dem Tod seiner Familie, dem Verlust des früheren Dogs-Chefs Captain – und dem Auf- und Abtauchen einer nebulösen Frau in einer eroberten Stadt, die ihm keine Ruhe lässt. Und natürlich damit, seine Gruppe heil aus England zu bekommen. Ein hoffnungsloses Unterfangen.

Viel Geschichtswissen müssen Leser:innen nicht mitbringen. Es gibt eine Karte, die den Schlachtzug von der Landung in der Normandie hin zur Schlacht von Crécy nachzeichnet. Jedes Kapitel startet mit einem kurzen Auszug aus historischen Dokumenten. Den Rest erzählt Jones, basierend auf historischen Dokumenten, Liedern und Erzählungen und mit einer großen Portion eigener Story. Ob alle historischen Figuren charakterlich korrekt getroffen sind – von den harten Feldherren bis zum weichen, unsicheren Königssohn – sei dahingestellt, aber „Essex Dogs“ ist ja weniger Geschichtsbuch als Abenteuerroman.

Und natürlich dauert die Reise der Dogs länger als 40 Tage im Schlachthaus Frankreich. Sie ist nach der letzten Seite nicht einmal zu Ende. Denn so ein hundertjähriger Krieg dauert länger als ein paar Monate – und am Schluss wartet noch der ein oder andere Cliffhanger. Und damit ändern sich auch für mich zwei Dinge: Vielleicht werde ich doch noch Fan historischer Romane – und vielleicht sogar der von Roman-Reihen. Danke, Dan Jones. Vermutlich.

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