Bizarr und seltsam - aber auf eine ungute Art!
Wilder GirlsAuf "Wilder Girls" habe ich schon seit Wochen gespannt gewartet und sofort bei Ankunft meines Rezensionsexemplar mit dem Lesen angefangen. Mit vielen positiven Leserstimmen im Kopf, die die Geschichte ...
Auf "Wilder Girls" habe ich schon seit Wochen gespannt gewartet und sofort bei Ankunft meines Rezensionsexemplar mit dem Lesen angefangen. Mit vielen positiven Leserstimmen im Kopf, die die Geschichte als DIE feministische Dystopie schlechthin loben, hatte ich recht hohe Erwartungen an den Roman und bin nach dem Lesen nun leider mehr als ernüchtert. Zwar ist Rory Powers Erzählung durch die düstere Atmosphäre elektrisierend und hochspannend, ansonsten jedoch weder schön zu lesen noch emotional überzeugend oder inhaltlich überraschend. "Wilder Girls" ist bizarr und seltsam - jedoch nicht auf die gute Art, sondern auf diese abstoßende, gänsehaut-erzeugende Weise, die sich anfühlt wie kalte Würmer, die sich in einem Albtraum über deine Füße winden. Schade!
Trotz meines ernüchterten Fazits kann ich voller Inbrunst sagen, dass sich "Wilder Girls" allein wegen des Covers gelohnt hat. I mean... look at this beauty!!!! Auf schmutzig-türkisgrünem Grund mit braunen Streifen ist ein Mädchen in Großaufnahme zu sehen, welches verträumt in die Ferne blickt, während in ihrer in Streifen geschnittenen Visage zarte Pflanzen ranken. Nachdem ich das Buch gelesen habe, weiß ich, dass wir hier unsere Hauptprotagonistin Hetty sehen, welche von der sogenannten "Tox" befallen ist, die in den Mädchen wuchert und sie wild macht. Dementsprechend passend finde ich auch den Titel gewählt, welcher in krakeligen, schwarzen Großbuchstaben das ansonsten vergleichsweise harmonische und friedvolle Cover durchzieht. Auch wenn ich mir für eine Geschichte, deren Triggerwarnung länger ist als manch Klapptext ein düstereres Cover vorstellen könnte, bin ich einfach begeistert von der Gestaltung!
Erste Sätze: "Irgendetwas. Weit draußen im Weiß-Dunkel. Es bewegt sich zwischen den Bäumen, zwischen Schwärmen von Gebüsch."
"Wilder Girls" beginnt mitten im apokalyptischen Geschehen mit einer langsamen Einführung in das Leben der Mädchen im Paxter Internat, welches seit mehreren Monaten unter dem Befall der sogenannten "Tox" leidet. Um den Rest der Welt vor Ansteckung zu schützen, bevor ein Heilmittel gefunden wird, dürfen die Mädchen der vormaligen Schule die Insel und das Schulgebäude nicht verlassen und sind in der Versorgung mit Lebensmitteln und in der Verteidigung gegenüber der außer Kontrolle geratenen Wildnis in und um das Gebäude herum auf sich alleingestellt. Hunger, Tod, Krankheit, Attacken, Quarantäne, Abgeschiedenheit vom Rest der Welt, Entfremdung und Gewalt sind die Folgen, an echten Alltag und Normalität ist nicht mehr zu denken.
Dementsprechend schwer ist es, trotz der ausführlichen Schilderungen des Lebens der Mädchen, in die Geschichte zu finden. Vorangetrieben wird man beim Lesen zunächst also primär durch die Neugier, was hinter all dem stecken soll. Wie ist die Tox ausgebrochen? Was passiert mit den Mädchen während ihrer Attacken und weshalb sterben manche während andere mutiert weiterleben? Sucht die Navy wirklich nach einem Heilmittel oder ist das Ganze eine Verschwörung? Stecken die Erwachsenen im Internat mit der Navy unter einer Decke? Weshalb bekommen die Mädchen viel zu wenig Lebensmittellieferungen? Was ist die Tox und weshalb tritt sie nur in Paxter auf? Und weshalb scheint es den Rest der Welt so wenig zu interessieren, was auf Paxter passiert...? Diese und viele weitere Fragen begann ich mir während dieser recht zäh zu lesenden, bizarr anmutenden Einführung zu stellen. Anstatt diese jedoch zu beantworten und hinter der wilden Handlung ein komplexes Konstrukt zu enthüllen, das diese Dystopie zu einem hintergründigen Spannungsroman machen würde, eskaliert die Handlung im letzten Drittel dann komplett und endet in einer chaotischen Mischung aus Kampf, Splatter, Krankenhaushorror und Survivalstory. Zu sagen, dass das Ende unbefriedigend ist, wäre die größte Untertreibung des Jahrhunderts. Mit wenigen knappen Sätzen wird grob eine Auflösung zusammengezimmert, die mehr neue Fragen aufwirft als sie löst, und obendrein endet die Erzählung mitten im Nichts in einer Situation, in der keine der Figuren in Sicherheit und keines der Probleme zufriedenstellend gelöst wäre. Was zum Teufel, Rory Power?
"So ist es bei uns allen hier. Krank, seltsam, und wir wissen nicht warum. Dinge brechen aus uns hervor, Teile fehlen, Stücke fallen ab. Und dann verhärten wir und die Wunden verheilen."
Versteht mich nicht falsch, ich bin ein großer Fan von Dystopien und diese können auch gerne sehr düster und abgründig sein und wirre Parts enthalten, die erst später stimmig erscheinen. Ein Buch, das diese Mischung aus schneidender Gesellschaftskritik, feministischem Befreiungskampf und heftigem Survival-Gore lesenswert meistert, ist beispielsweise "The Grace Year" von Kim Liggett, welches mit ähnlichen Zutaten 2020 für ein Jahreshighlight gesorgt hat. Der große Punkt, in dem sich die beiden Romane jedoch unterscheiden ist, dass man in "The Grace Year" zu jedem Zeitpunkt das Gefühl hat, die Geschichte würde auf ein Ziel zulaufen und am Ende ein Gefühl von Sinnhaftigkeit und Abgeschlossenheit zurückbleibt, während man sich nach "Wilder Girls" aufgrund der fehlenden Auflösung und dem löchrig zusammengestrickten Handlungskonzept fragt, was einem die Erzählung überhaupt sagen wollte. Dies ist Horror, um des Horrors Willen, nicht um eine gewiefte Botschaft zu vermitteln.
Ebenfalls im Vergleich zu "The Grace Year" ist mir eine weitere Schwäche von "Wilder Girls" bewusst geworden: dem Leid der Figuren und die Düsternis und Brutalität der Handlung steht hier nur wenig Positives gegenüber. Bis auf die Tatsache, dass hier alle wichtigen handelnden Figuren weiblich sind und der Roman den Bechdel-Test (Gibt es mindestens zwei weibliche Figuren mit Namen, die über etwas anderes sprechen als einen Mann?) mit Leichtigkeit erfüllt, sehe ich nur wenig Feministisches oder Aufbauendes in der Geschichte. Zwar gibt es immer wieder Szenen, in denen die Freundschaft und Solidarität zwischen den Mädchen durchscheint, diese Ansätze werden aber immer wieder im Keim dadurch erstickt, dass sie sich in der nächsten Sekunde um Essen prügeln, einander verstoßen oder ihre Rangplätze neiden. Auch die angedeutete Dreiecks-Liebesgeschichte zwischen den drei Hauptfiguren Reese, Hetty und Byatt empfand ich als nicht sonderlich glaubwürdig, da sie schlicht und einfach im Rest der Handlung untergeht.
"Haltet die Quarantäne ein, haben sie gesagt. Befolgt die Regeln, und wir werden euch helfen. Ein Messer in meinem Gürtel und eine Schrotflinte in meinen Händen. Anderthalb Jahre leerer Himmel und nicht genug Medikamente, Leichten, die hinter der Schule brennen. Wir müssen uns selbst helfen."
Am gravierendsten ist jedoch, dass wir keine starke Identifikationsfigur erhalten, mit der wir all das Leid und Chaos mitfühlend durchstehen können. Sowohl Hetty als auch Byatt sind als Erzählerinnen recht blass und teilweise auch einfach unsympathisch, während ich nicht nachvollziehen konnte, weshalb die dritte im Bunde - Reese - nicht ebenfalls aus ihrer Sicht erzählen darf. Darüber hinaus fiel es mir gerade zu Beginn schwer, Hetty, Byatt und Reese auseinanderzuhalten, da die Persönlichkeiten der Individuen stark zu einem Kollektiv verschmolzen sind, was auch dadurch deutlich wird, dass trotz der Erzählung aus der Ich-Perspektive sehr oft von einem verallgemeinerten "uns" die Rede ist. Ebenso verhält es sich mit den Nebenfiguren, die in meinen Augen furchtbar schlecht gezeichnet sind und stark untereinander verschwimmen. Eine klare Trennung zwischen Antagonisten und Protagonisten gibt es kaum - die Figuren scheinen im einen Moment noch wie die Nettigkeit in Person und werden in der nächsten Sekunde schon zum Monster. Fein gezeichnete Entwicklungen, ein Spektrum an Differenzierungen oder gesunde Beziehungen findet man hier nicht. Wo andere LeserInnen eine berührende, feministische Botschaft sehen wollen, ist mir also völlig schleierhaft.
"Über uns recken sich die Kiefern dem Himmel entgegen, höher, als sie sein sollten, die Stämme breiter. Ihre Äste teilen sich tausendmal, verdecken die Sonne und machen das Licht trüb und klebrig. Es fühlt sich alles vergessen an, als wären wir seit hundert Jahren die Ersten hier. Leime Radspuren auf der Straße, keine Anzeichen, dass dies je irgendetwas anderes war als das, was es jetzt ist. Wir sollten hier nicht sein. Dieser Ort gehört uns nicht mehr."
Zusätzlich sehr erschwert, die Geschichte zu mögen hat mir der Schreibstil von Rory Power, welchen ich nur als gewöhnungsbedürftig betiteln kann. Auch wenn ich ihrer Erzählung eine Sogwirkung nicht absprechen kann, empfand ich die vielen ekelhaften Vergleiche, abstoßende Beschreibungen und abgehackte, syntaxlose Gedankenströme gepaart mit wenig Dialogen und sparsam eingesetzten Gefühlsbeschreibungen als sehr ermüdend. Durchgängig bricht ein Mädchen spastisch zuckend zusammen, würgt an schwarzem Schleim, blutet aus eitrigen Wunden, wird bei lebendigem Leib von einer Bestie aufgefressen oder alternativ auch festgeschnallt auf einer Liege vergast. Hier wird fröhlich getötet, verstümmelt, gefoltert, gehungert, geflüchtet und auf alle erdenklichen Arten gelitten. Auch das Setting mit den wild wuchernden Pflanzen und den wild gewordenen, von Würmern zerfressenen Tieren trägt nicht gerade dazu bei, ein freundlicheres Licht auf die Handlung zu werfen. Wer also schwache Nerven oder einen nervösen Magen hat und es also nicht mal eklig oder düster aushalten kann, sollte dringend eine andere Dystopie wählen. Deshalb ist der Roman auch eindeutig kein Jugendbuch, auch wenn die Protagonistinnen mit ihren 16 Jahren etwas jünger sind, als die Zielgruppe. Doch egal welche Zielgruppe - empfehlen kann ich die Geschichte aus meiner persönlichen Perspektive sowieso nicht!
Fazit:
"Wilder Girls" ist eine bizarre und seltsame Horrorgeschichte, welche zwar elektrisierend und hoch spannend zu lesen, ansonsten jedoch weder schön noch emotional überzeugend oder inhaltlich überraschend gestaltet ist. Unsympathischen Figuren, ein gewöhnungsbedürftiger Schreibstil und eine unbefriedigende Auflösung tun ihr Übriges und haben dafür gesorgt, dass ich trotz großer Hoffnungen schnell ernüchtert wurde. Schade!
PS: Die zwei Sterne gibt es für die wunderschöne Gestaltung und die spannende Grundstimmung