Schatten der Nachkriegsjahre
„...Im Halbschlaf lösten sich Schatten aus der Dunkelheit. Meine Mutter winkte mir zu. Komm, schien sie zu sagen, ich nehme dich an die Hand und wir gehen noch einmal den Weg, den wir damals gegangen sind...“
Eine ...
„...Im Halbschlaf lösten sich Schatten aus der Dunkelheit. Meine Mutter winkte mir zu. Komm, schien sie zu sagen, ich nehme dich an die Hand und wir gehen noch einmal den Weg, den wir damals gegangen sind...“
Eine junge Frau reist 1972 beruflich nach Paris. Doch innerlich hofft sie, dort Hanno wiederzusehen, den Freund ihrer Jugend. Sie sieht ihn zwar, aber zu einer Begegnung kommt es nicht. Am Abend fallen die Sätze, die ich zu Beginn zitiert habe.
Dann wechselt die Geschichte ins Jahr 1945. Sophie ist drei Jahre und erlebt das Kriegsende in einem Dorf bei Görlitz. 1948 holt sie die Mutter an den Niederrhein, wo der Vater auf die Familie wartet. Dort verlebt sie ihre Kindheit. Dann aber zieht eine neue Familie in den Ort.
Die Autorin hat in ihrem Buch zwei unterschiedliche Lebensbilder miteinander verknüpft. Sie zeichnet gleichzeitig ein vielschichtiges Bild der Nachkriegszeit. Die Geschichte lässt sich gut lesen und regt zum Nachdenken an.
Das Geschehen wird von Sophie erzählt. Die Begegnung mit Hanno wird ihr ganzes Leben prägen. Sie will nicht ohne ihn sein. Aber die Gräben, die sie trennen, sind tief. Hanno ist Jude. Seine Eltern haben die Hölle von Auschwitz überlebt. Doch diese Zeit überschattet ihr zukünftiges Leben. Hanno selbst hat diese Jahre in England bei einer Tante verbracht.
Der Schriftstil des Buches ist ausgefeilt. Das braucht es bei dem Thema auch. In der Schule trifft Hanno auf eine Lehrerin, die noch nicht in der neuen Zeit angekommen ist. Anfangs verletzt sie den Jungen mit brutalen Worten, später sind es subtile Stiche, die Wunden hinterlassen. Für mich unverständlich war das lange Schweigen der Erwachsenen. Schuldgefühle werden verdrängt. Währenddessen wächst eine sanfte Zuneigung zwischen Sophie und Hanno. Aber die Vergangenheit stellt sich immer wieder zwischen sie. Einige Bewohner lassen Hannos Familie ihre Abneigung spüren, andererseits macht der Hass von Hannos Vater auch vor den Kindern nicht Halt. Einer der stilistischen und inhaltlichen Höhepunkte ist der Brief von Ursel. Sie war in Berlin die Freundin von Sophies Mutter – und Jüdin. Ihren Eltern war es gelungen, mit dem Kind nach Chile auszuwandern. Als Arzt konnte sich ihr Vater dort ein neues Leben aufbauen. Der Brief ist vielschichtig. Hier wird in wenigen Zeilen wiedergegeben, wie es sich anfühlt, wenn man die Heimat unfreiwillig verlassen muss und immer wieder Todesnachrichten von Angehörigen bekommt.
Hanno und Sophie kommen mir im Verlaufe der Geschichte immer mehr als Getriebene vor. In Hanno steckt eine Rastlosigkeit, die ihn keine Ruhe finden lässt. Selbst bei seiner Arbeit als Arzt fragt er sich, ob er die Entscheidungen, die er fällen muss, fällen kann. Das Bild des KZ-Arztes wird ihn sein Leben lang begleiten. Er kennt ihn aus den Gesprächen der Eltern, die eigentlich nicht für ihn bestimmt waren. Bei Sophie sieht die Situation anders aus. Sie hat in Berlin Arbeit und Heimat gefunden. Allerdings ist sie nicht bindungsfähig. Für sie gibt es nur Hanno. Sie kann sich nicht von ihm lösen, auch wenn sie tausende Kilometer trennen.
Was mich betroffen gemacht hat, sind die Widersprüche, die in der Nachkriegszeit offen zutage treten. Sophies Oma öffnet den Flüchtlingen aus dem Osten Haus und Keller. Am Niederrhein erlebt Sophie, dass die Hausbesitzerin mit kleinen Schikanen die Familie ihre Abneigung spüren lässt. Die offene Feindseligkeit der katholischen Bevölkerung gegenüber den evangelischen Ankömmlingen ist für mich nicht nachvollziehbar. Sie überschattet Sophies Kindheit, denn oft spürt sie, dass sie nicht dazu gehört. Das Kriegsende hat in den Köpfen nur wenig geändert. Man ist zwar entnazifiziert, doch in vielen regiert noch der alte Geist.
Das gelbe Cover mit der einzelnen Kastanienblüte weckt Interesse. Diese Kastanienblüte zieht sich an vielen Stellen als Bild der Beständigkeit, aber auch der Veränderung – je nach Sichtweise – durch die Handlung.
Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Die Autorin versteht es, darzustellen, wie sehr erlebte Verletzungen nicht nur das Leben des Verletzten, sondern unter Umständen auch das der folgenden Generation prägen.