Eine neue Perspektive?
Wie kann die Zukunft eines Systems aussehen, das sich vehement vor Veränderungen scheut?
“Europäische Identität: Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums” ist ein Buch von Wolfgang Sander, ...
Wie kann die Zukunft eines Systems aussehen, das sich vehement vor Veränderungen scheut?
“Europäische Identität: Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums” ist ein Buch von Wolfgang Sander, welches 2022 durch die Evangelische Verlagsanstalt GmbH veröffentlicht wurde. Sanders widmet sich mit diesem Buch der Frage, auf welchem Grund die Zukunft der Europäischen Union gebaut werden soll.
Dabei gliedert sich das Buch in mehrere Abschnitte: Zunächst wird eine Bestandsaufnahme darüber gemacht, was denn überhaupt eine europäische Identität wäre und welchen Problemen sich die Europäische Union stellen muss, ehe Annahmen über das Christentum und geschichtliche Ereignisse geklärt werden und ein Bild für ein mögliches zukünftiges christliches Europa gezeichnet wird.
Sander bietet eine gut argumentierte Perspektive auf die Bedeutung des Christentums für Europa: Darunter gehört die geschichtliche Relevanz des Christentums für die Entstehung Europas, aber auch die Werte des Christentums, die aus der Bibel herausgelesen werden können (darunter die Akzeptanz des eigenen Ichs, da man ein Ebenbild Gottes ist und mit einer gewissen Absicht geschaffen wurde. Daraus soll auch die Akzeptanz von Vielfalt und alternativen Lebenswegen resultieren, da das Geschaffensein nach Gott und die bedingungslose Liebe Gottes die Menschen eint). Wenn die christlichen Werte als Konstrukt für die Europäische Union akzeptiert werden, kann nach Sander eine starke Wertegemeinschaft entstehen, die sich gegenseitig unterstützt und stabil bleibt. Wie wichtig diese Art von Einigung ist, zeigt sich durch Entwicklungen in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Russland und China, die die Menschenwürde ihrer Bürger immer aggressiver angreifen.
Durch diese Annahme werden aber auch die Probleme mit dieser Argumentation deutlich: Sie ist eben eine konservative Perspektive, welche sich auf eine vermeintliche Vergangenheit bezieht, ohne die momentane Entwicklungen zu beachten. Diese Perspektive unterscheidet sich stark von meiner und zunächst wusste ich nicht wieso.
Sanders Ideen bauen darauf auf, dass Glaube notwendig ist, damit Menschen Werte entwickeln und entsprechend handeln.
So schreibt Sander, dass eine humanistische Ethik und der gesunde Menschenverstand nicht Grundlage genug sind, um ein Zusammenleben zu ermöglichen, in dem die Würde des Menschen immer das oberste Ziel und nie ein Zweck ist. Das begründet Sander damit, dass es keinen Grund oder inhärenten Zwang gibt, ohne Gott ethisch zu handeln. Außerdem betont Sander, dass durch die historische Entwicklung Europas die Grundlage für ein christliches Europa gegeben sind - gerade weil die Werte und Symbole noch immer Teil unseres Alltags sind.
Diese Argumentation kann aus einer konservativen und gutbürgerlichen Perspektive zutreffen, aber sie übersieht, dass Christ sein und eine christliche Erziehung alleine niemanden zu einem solidarischen und an der Gemeinschaft interessierten Bürger machen und Werte sich mit neu aufkommenden Generationen verändern.
Gegen eben diesen Wertewandel positioniert sich Sander: Er sieht in der Moderne einen individualistischen Wertewandel, den er als eine Ursache für den mangelnden gesellschaftlichen Zusammenhalt und Identitätspolitik betrachtet.
Dieser aus dem Wertewandel entstehende Individualismus zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen sich fragen, wer sie sind und was sie sein wollen - unabhängig anerzogenen Normen, die unter anderem noch durch Nachkriegstrauma geprägt sind (darunter gehört der Wunsch nach materieller Absicherung und auch die Angst davor, nicht Teil der Norm zu sein). Diesen Wandel betrachtet Sander kritisch, da er davon ausgeht, dass diese gesellschaftlichen Veränderungen zu Egozentrismus führen und der gemeinschaftliche Zusammenhalt verloren geht. Dabei übersieht Sanders, dass gerade dieser Wertewandel und Individualismus die Grundlage für eine stabile europäische Gemeinschaft begründen kann.
Für Menschen, die nicht vom Wertewandel abgeholt worden sind, scheinen diese modernen Entwicklungen selbstsüchtig und wertelos zu wirken - sinkende Vereinsmitgliederzahlen, Kirchenmitgliederzahlen und sinkende Parteimitgliedschaften scheinen diese Annahmen auf den ersten Blick zu bestätigen. Was aber übersehen wird, ist gewaltig: Zum einen hat sich durch das Internet eine neue Ebene von Gemeinschaft gebildet, welche nicht an Orte oder einen Status gebunden ist, was dafür sorgt, dass immer mehr Kinder millieuübergreifend miteinander sozialisiert werden. Durch das Internet wachsen die Kinder auch in einem Umfeld auf, dass durch Empathie, Verständnis und Toleranz geprägt ist - unter anderem, weil so viele unterschiedlichen Lebensperspektiven und auch die eigenen Probleme und Schwierigkeiten öffentlich geteilt werden. Auch wird immer wieder öffentlich bekannt, wie toxisch gerade Vereins- und Kirchenstrukturen sein können.
Zum anderen wachsen die jungen Generationen in einer globalisierten Welt mit globalen Problemen auf, welche so zu einem anderen Selbstverständnis über die eigene Position führen - man wächst mit dem Bewusstsein auf, dass das eigene Dorf doch nicht der Nabel der Welt ist.
Dieser neue Individualismus, welcher dazu motiviert sich selbst und die Strukturen um einen herum zu hinterfragen, führt dazu, Gemeinschaften nicht durch anerzogenen Götterglaube und Selbstwert durch Götterliebe gefördert wird, sondern auf dem Verständniss, dass man einfach ein Mensch ist und man mit anderen mitfühlen kann. Und dass andere Lebenswege einen selbst nicht bedrohen oder ersetzen. Darauf aufbauend ist es möglich, entsprechend einer humanistischen Ethik zusammenzuleben und geteilte gemeinsame Erfahrungen oder zumindest Empathie für einander als ausschlaggebenden Grund nennen zu können.
Trotz allem ist Sanders Perspektive relevant: Die Ideale, die Sander vertritt sind grundlegend, um ein ethisches Zusammenleben sicherstellen können - diese Werte müssen aber eben nicht aus dem religiösen Glauben gezogen werden. Seine Perspektive macht er durch einen klaren Schreibstil und logisch aufeinander folgenden Argumenten klar - das führt auch dazu, dass man ohne viel Vorwissen nachvollziehen kann, was Sander beschreibt.