So viel Leben
„Jeder von uns hat diese Menschen, an die man ab und an denkt und bei denen wir uns fragen, wie ihre Geschichte weiterging.“
Wie viele Leute haben wir in unserem Leben getroffen und wieder aus den Augen ...
„Jeder von uns hat diese Menschen, an die man ab und an denkt und bei denen wir uns fragen, wie ihre Geschichte weiterging.“
Wie viele Leute haben wir in unserem Leben getroffen und wieder aus den Augen verloren, mal schnell, mal schleichend? Kurze Festivalbekanntschaften, die Leute aus der Parallelklasse. Das Mädchen von der Kinokasse, der ältere Herr aus Zimmer 102 während des Zivildiensts. Der beste Freund aus Jugendtagen, die erste große Liebe. Wie viele Geschichten wurden nie zu Ende erzählt?
Es ist der 31. August 1999. Der letzte Tag des Sommers. Der letzte Sommer des Millenniums. Vielleicht der letzte Sommer überhaupt, wenn wahr ist, was Esoteriker und Verschwörungswissenschaftler schwurbeln. Krüger ist das egal. Er ist froh, wenn der Sommer vorbei ist. Dieser eine Tag muss noch geschafft werden. Doch der läuft so ganz anders als gedacht. So anders, dass er noch Jahrzehnte später tief in seinem Kopf eingebrannt ist.
Nur kurz seinem Kumpel Viktor helfen, die Zeitung auszutragen, dann im Müller das neue Tony Hawk zocken, dann mal sehen. Das ist der Plan. Doch schnell wird Krüger auf den Boden der Tatsachen geholt. Oder besser: über den Haufen gerannt und zu Boden gerissen, von einem rothaarigen Mädchen, das mit einem neuen Nokia 3210 in der Hand auf der Flucht vor dem Nazi-Chef der örtlichen Müller-Filiale ist. Und die sich direkt auch noch Krügers Eastpak schnappt, in dem sein größter Schatz steckt. Sein Notizbuch. Sein Geheimnis. Seine Vergangenheit. Sein Grund, warum er den Sommer so hasst.
„Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ ist einer dieser Romane über die Sommer der Jugend, die wie geschrieben sind für die Thirty- oder Fourty-somethings. Bei denen die eigene Coming-of-Age-Zeit irgendwo zwischen den Zeilen aufflackert. Der legitime Nachfolger von Ewald Arenz‘ „Der große Sommer“ oder Benedict Wells‘ „Hard Land“. Nur eben: späte 90er statt 80er.
Endlich, denken alle, die zu dieser Zeit in der Pubertät, der Führerscheinprüfung oder der Abi-Zeit steckten. Als das Internet noch nicht wirklich existierte, Snake die einzige App war, die wir brauchten (und hatten), wenn wir überhaupt schon ein Handy besaßen. Als Eastpaks unsere Schuluniform waren, die Red Hot Chili Peppers über Californication sangen und Freundeskreis über A-N-N-A. Auch so eine nicht zu Ende erzählte Geschichte. Bus weg, Regen fällt, was bleibt?
Doch die Geschichte von Krüger fängt gerade an und endet erst 400 Seiten später am nächsten Morgen, so wie einer dieser perfekten Filme aus genau dieser Zeit: „Go“ mit dem komischen deutschen Zusatz „Das Leben beginnt erst um 3 Uhr morgens“ oder „11:14“ oder natürlich „Schule“, diesem fantastischen Film über eine Clique, die ihr Abi feiert im unausgesprochenen Wissen, bald auseinander zu brechen, die gemeinsame Geschichte zu beenden, um neue zu schreiben.
Gemeinsam mit Viktor macht sich Krüger auf die Suche nach dem Mädchen mit dem Nokia und seinem Eastpak und findet sie im Zirkus, der morgen schon weiterreisen wird. Sie lädt ihn ein zur letzten Vorstellung im fränkischen Kaff Bodenstein, bevor sie gemeinsam in den Abend ziehen, auf die Suche nach der Hanfplantage der örtlichen Dealer, auf die große Hausparty der neureichen Zwillinge, deren Eltern übers Wochenende verreist sind, zur Enthüllung von Krügers Geheimnis. Und zu einem Ende, das alles verändern wird – das Leben, die Freundschaft, die Liebe.
Christian Huber hat einen Roman geschrieben, der einen fantastischen, dramatischen, aber niemals kitschigen Sog entwickelt, der Leser:innen mit in den Rausch dieses letzten Sommertages 1999 nimmt und erst am nächsten Morgen ausspuckt, völlig geschafft, völlig überwältigt, voller 90s-Flashbacks. Oder wie es die Figur Jacky wundervoll in Worte fasst:
„Ein Tag wie ein Leben. Und so viele Tage liegen noch vor uns. So viel Leben.“