Profilbild von MarionHH

MarionHH

Lesejury Profi
offline

MarionHH ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit MarionHH über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 11.04.2022

Liebe und Drama im gar nicht so beschaulichen Tessin

Mord in Montagnola
0

Die Dolmetscherin Moira Rusconi kehrt in ihr heimatliches Dorf Montagnola im Tessin zurück, um ihren Vater nach dessen Schlaganfall zu unterstützen. Zum Glück ist dieser recht fidel, so dass sie Zeit hat, ...

Die Dolmetscherin Moira Rusconi kehrt in ihr heimatliches Dorf Montagnola im Tessin zurück, um ihren Vater nach dessen Schlaganfall zu unterstützen. Zum Glück ist dieser recht fidel, so dass sie Zeit hat, sich anderen Dingen zu widmen, zum Beispiel ihrer Jugendliebe Luca, der inzwischen Leiter der Rechtsmedizin ist und sie als Dolmetscherin in einem Mordfall einspannt. Moira findet zunehmend Gefallen an ihrer Aufgabe und auch an Luca…

Sehr kurzweilige und wunderbar erzählte Geschichte, die eine gelungene Mischung aus Lokal-Krimi, Liebesgeschichte und auch Selbstfindung ist und im – scheinbar – idyllischen Dörfchen Montagnola im schweizerischen Tessin angesiedelt ist. Die Autorin hat einen schönen, sehr eingängigen Schreibstil und ihre Beschreibungen von Land und Leuten sind bildhaft und authentisch, aber nie kitschig, so dass man sofort in der Geschichte drin ist und die Umgebung und Landschaft tatsächlich vor sich sieht, auch wenn man nie dort war. Auch ihre Figuren überzeugen mit ihrer Persönlichkeit, sie sind teilweise liebenswert-skurril und mit ihren Stärken und Schwächen sehr menschlich. Ich fand die Darstellung der Gefühle, Zwiespälte und Zweifel sehr überzeugend und lebte vor allem mit Moira, auf die sich als Hauptfigur alles recht stark fokussiert, sofort intensiv mit.

Von der Kriminalhandlung selbst sollte man nicht allzu viel erwarten. Der Einstieg im Prolog ist zwar thrillermäßig, aber die Geschichte lebt keinesfalls von einem gut konstruierten Kriminalfall oder detailreicher Ermittlungsarbeit. Dazu konzentriert sie sich im weiteren Verlauf doch zu stark auf Moiras Gefühlsleben, ihre Suche nach einem Heimathafen, ihrem Verarbeiten der Trennung, dem Verhältnis zu Vater, Jugendliebe und ihre Interaktion mit den Dorfbewohnern. Die Szenen und Dialoge mit ihnen sind intensiv, teils traurig, teils dramatisch, aber auch oftmals humorvoll. Ihr Leben und ihre Gefühlswelt gehen einem nahe und ich hätte über einige Menschen gern mehr erfahren. Sehr gut haben mir übrigens auch die fünf Katzen ihres Vaters gefallen – diese waren immer für einen Schmunzler gut. Auch wenn die Geschichte an vielen Stellen doch sehr vom Krimi-Genre wegdriftet, fand ich die Zusammenarbeit von Moira mit Chiara, der Ermittlerin, und der Versuch, den Fall aufzuklären, spannend und gut beschrieben. Moira selbst gelangt eher zufällig an ihre Informationen denn aufgrund von logischem Denken, sie verbeißt sich aber in den Fall, kann sich gut in andere hineinversetzen und trägt so viel zum Gelingen bei. Chiara als Polizistin, die sich und ihrer Umwelt beweisen muss, dass sie gut ist, war als Charakter vielschichtig und gut dargestellt. Die Lösung ist denn auch durchaus überzeugend, kam für mich aber recht schnell und das Abschließen damit, beziehungsweise den Übergang zur Normalität, fand ich denn doch etwas zu abrupt.

Fazit: Für Krimifans wahrscheinlich zu wenig Thrill, für Fans von Liebesgeschichten eventuell zu wenig Happy End und Romantik, dennoch ein gut geschriebenes und kurzweiliges Buch mit viel Lokalkolorit, liebenswerten Charakteren und einer starken Protagonistin, das sich gut lesen lässt, viele schöne Momente hat und einen insgesamt fesselt. Eine wunderbare Lektüre für Couch oder Liegestuhl, die den Leser abtauschen lässt und gute Unterhaltung bietet.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.02.2022

Krisen, Klimakterium und ein Kurztrip - Keine Schleuse hält sie auf!

Einatmen, ausrasten
0

Eliza Finch, verheiratete Hollander, hat es nicht leicht. Ihre Ehe kriselt, ihre Kinder entfernen sich von ihr, als Schauspielerin ist sie sowieso gescheitert und finanziell steht es auch nicht zum Besten. ...

Eliza Finch, verheiratete Hollander, hat es nicht leicht. Ihre Ehe kriselt, ihre Kinder entfernen sich von ihr, als Schauspielerin ist sie sowieso gescheitert und finanziell steht es auch nicht zum Besten. Nun wird sie auch noch ein halbes Jahrhundert, steckt mitten in der Menopause und fragt sich, wozu diese Pause eigentlich gut sein soll, wenn man sie fast ausschließlich mit Hitzewallungen verbringt. Als sie auf eine Wette mit ihrem Bruder Miles eingeht, bei der es um den Verkauf des von ihrem Ehemann Paddy so heißgeliebten Kanalbootes geht, beginnt ein wahnwitziger Boattrip über die Kanäle und Flüsse rundum Stratford-upon-Avon, bei der Eliza nicht nur einen neuen Hund, sondern auch sich selbst findet.

Eliza Finch ist herrlich!! Emotional, weinerlich, launenhaft, chaotisch, dabei immer empathisch, hilfsbereit und britisch-höflich. Sie liebt ihre Kinder, ihre Eltern und grundsätzlich auch ihren Mann, wäre da nicht dieser vermaledeite Verlust ihrer Libido und die entsetzlichen Selbstzweifel. Mit Eliza hat die Autorin eine Heldin erschaffen, die stellvertretend für alle Frauen den Kampf gegen Hitzewallungen, Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen aufnimmt und sich dem Wandel ihres Körpers und ihrer Bedürfnisse stellt. Das Buch, in der Ich-Form geschrieben, erzählt von einer langjährigen, vielleicht etwas eingefahrenen Ehe, von verlorener Jugend und vergebenen Chancen, gibt aber auch Ausblicke und Hoffnung auf die Zukunft, auf einen Wandel, der oftmals gerade in der Mitte des Lebens einsetzt. In diesem Sinne ist die Geschichte eine einzige Selbstreflektion Elizas, eine stete Aneinanderreihung ihrer Erlebnisse, Erfahrungen, Ängste und Wünsche. Schön fand ich, dass auch die anderen Figuren eine vielschichtige Persönlichkeit haben und sehr liebenswert sind. Besonders gefallen hat mir der Gegensatz der intellektuellen, kulturell und akademisch sehr gebildeten Familie Elizas – und damit Elizas eigener Hintergrund – und der gemütlichen, wortkargen und anpackenden Bodenständigkeit Paddys. Da sich alles doch sehr auf Eliza konzentriert, werden die Persönlichkeiten der anderen Protagonisten recht oberflächlich behandelt – Eliza selbst ist zu sehr auf sich konzentriert, als dass sie wirklich merken würde, was bei ihren Kindern und Geschwistern und nicht zuletzt bei ihrem Ehemann los ist - und demensprechend erfährt auch der Leser nur wenige Details. Dies wird aber durch den Wandel und die Selbstironie Elizas kompensiert. Sie schliddert durch diverse Fettnäpfchen und Katastrophen, wird jedoch zur kreativen Problemlöserin und gewinnt so deutlich an Selbstbewusstsein. Dadurch, dass sie sich wieder selbst lieben lernt, kann sie auch auf Paddy wieder richtig eingehen. Ihr Selbstfindungstrip wird wunderbar durch die äußerst treffsicher gewählten Überschriften wieder gespiegelt, die alle etwas mit Zeit zu tun haben – Zeit, die vergangen ist, die für uns ist, die uns noch bleibt. Alles in allem also eine sehr schöne Geschichte, in der sich sicherlich die eine oder andere Altersgenossin Elizas wiederfinden wird.

Fazit: Elizas vergnügliche Reise zu sich selbst ist in meinen Augen sehr gut gelungen. Sie lässt sich flüssig herunterlesen, hat wunderbare Figuren, ist unterhaltsam und mit einer gehörigen Prise zumeist britischen Humors. Manchmal waren es mir ein paar Hitzewallungen und Anspielungen auf britische Dramen und Serien zu viel, dennoch konnte man Elizas Weg doch gut nachvollziehen. Meines Erachtens gehört aber durchaus ein Schuss Selbstironie dazu, um die Geschichte gut zu finden, dann werden es Frauen in den mittleren Jahren lieben, die jüngeren sollten sich nicht abschrecken lassen – es gibt Hoffnung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.02.2022

Mord in Marlow – Mrs Potts und ihr Mordclub ermitteln in ihrem ersten Fall

Mrs Potts' Mordclub und der tote Nachbar
0

Die 77jährige Judith Potts lebt ein zurückgezogenes, ruhiges Leben im malerischen Marlow mit abendlichem Nacktschwimmen in der Themse. Dieses Idyll wird empfindlich gestört, als sie bei einem ihrer Schwimmausflüge ...

Die 77jährige Judith Potts lebt ein zurückgezogenes, ruhiges Leben im malerischen Marlow mit abendlichem Nacktschwimmen in der Themse. Dieses Idyll wird empfindlich gestört, als sie bei einem ihrer Schwimmausflüge auf dem Nachbargrundstück einen Schuss hört und die Polizei ihr nicht glaubt, denn es gibt schließlich auch keine Leiche. Kurz entschlossen beginnt Judith selbst Nachforschungen anzustellen. Tatkräftig unterstützt wird sie dabei von der spießigen Pastorengattin Becks und der Hundesitterin Suzie. Die sehr ungleichen Frauen graben sich tief in die intimen Geheimnisse ihrer Mitbürger hinein und fördern Erstaunliches zutage. Dann geschieht ein zweiter Mord....

Das ist ein wunderbarer, typisch englischer Krimi mit geballter Frauenpower und einer gehörigen Prise Exzentrik und Humor. Die Hauptprotagonisten sind Frauen, allen voran natürlich unser Ermittlertrio, das herrlich ergänzt wird durch DS Tanika Malik. Die Männer stehen entweder unter dem Pantoffel, sind verdächtig oder ansonsten eher nichtsnutzig. Der Autor, bekannt durch die herrlichen Death in Paradise-Krimis, hat auch hier wieder skurril-liebenswerte Figuren erschaffen und sie ins reale Marlow versetzt - das Bilderbuch-Klischee einer englischen Kleinstadt, hinter dessen hübscher Fassade es ordentlich brodelt. Der super eingängige und ironisch-witzige Schreibstil macht es dem Leser leicht, in die Geschichte hineinzufinden, und der Fall selbst ist spannend genug, um am Ball zu bleiben. Die Tiefe der Geschichte wird einerseits durch die exzentrisch-neurotischen, aber doch sehr liebenswerten drei Frauen und deren Zusammenfinden und Interagieren hervorgerufen, andererseits aber auch durch deren eigene Schrullen und die Entwicklung, die sie in ihrer Persönlichkeit durchmachen. Die brillante Judith, Typ harmlose ältere Dame, die ihr Alleinsein genießt und ihre Exzentrik kultiviert hat, lernt, sich auf andere einzulassen und sich anzuvertrauen. Die zwanghafte Becks, Typ angepasstes Hausmütterchen, wirft ihre Prinzipien über Bord und wundert sich, wie leicht ihr Lügen über die Lippen kommen. Und die Hundesitterin Suzie, die nach außen hin wie eine fröhliche, kernige Landfrau wirkt, gesteht sich ihre Einsamkeit ein und entdeckt, dass man nicht nur tierische Kontakte im Leben braucht. Dies alles tritt nach und nach ans Licht in dem Maße, wie auch die Abgründe in Marlow und ihrer Bewohner offen gelegt werden. Judith ist dabei die treibende Kraft, denn sie will mit allen Mitteln herausfinden, was geschehen ist. Sie bringt Intelligenz und Kombinationsgabe mit, Suzie Mut und ihre Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten, und Becks nutzt ihre Kontakte und ihre – scheinbare – Harmlosigkeit, und zusammen ergänzen sie sich perfekt und werden zu dicken Freundinnen. Ich fand sehr schön, dass auch DS Malik hervorragend mit den Frauen interagiert hat, schließlich ihre Arbeit anerkennt und sie einbindet und dass man als Leser auch Einblicke in ihr Seelenleben erhalten hat. Bei einigen Figuren hätte ich mir ebenso tiefere Einblicke in ihr jeweiliges Umfeld gewünscht, einige, besonders die männlichen, kamen ein wenig zu kurz, wie auch die Lösung letztendlich zwar sehr schlüssig und spannend, die Persönlichkeit und Motive aber eher oberflächlich herausgearbeitet wurden.

Fazit: Alles im allem eine sehr gelungene Mixtur aus Lokalkolorit, exzentrischen Charakteren und spannendem Kriminalfall und ein guter Auftakt einer neuen Reihe, der Lust auf Mehr macht. Das Trio ist mir sehr ans Herz gewachsen, und ich sehe in Marlow noch weitaus tiefere Abgründe schlummern, die aufgedeckt werden wollen! Ich freue mich schon auf den nächsten Fall der wundervollen Mrs Potts und ihrem Mordclub!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.08.2021

Aus dem Armenviertel in die glanzvolle Welt der Reichen und Schönen

Das Auktionshaus (Die Auktionshausserie 1)
0

Die junge Sarah Rosewell wächst im Armenviertel von Soho auf. Wie ihre Mutter und ihre Schwestern arbeitet sie als Näherin. Die ganze Familie leidet unter dem spielsüchtigen, trinkenden und gewalttätigen ...

Die junge Sarah Rosewell wächst im Armenviertel von Soho auf. Wie ihre Mutter und ihre Schwestern arbeitet sie als Näherin. Die ganze Familie leidet unter dem spielsüchtigen, trinkenden und gewalttätigen Vater, und es gibt keine Aussicht auf Besserung. Doch als Sarah auf die reiche und schöne Lady Sudbury trifft, wendet sich das Blatt: Die Lady wird zu Sarahs Gönnerin und Mentorin, sie nimmt sie bei sich auf, verhilft ihr zu einer Stellung und zu Bildung und führt sie in die besseren Kreise der Gesellschaft ein. Sarah findet im Auktionshaus Varnham’s ihren Beruf und ihre Berufung und bringt es – auch aufgrund des Ausbruchs des 1. Weltkrieges - bis zur Expertin für Kunst und Schmuck. Doch auch sie ist trotz ihres Ehrgeizes und ihrer Klugheit nicht gegen Fehler und vor allem nicht gegen die Liebe gefeit….

Bildhafter, versierter und spannender Roman um Sarah Rosewell und der erste Band der Auktionshaus-Saga Anfang der 1900er-Jahre. Der Autorin ist eine super sympathische Heldin gelungen, mit der man von der ersten Zeile an mit lebt und die unser Herz gewinnt. Dabei bleibt sie immer menschlich, macht Fehler, ist mal himmelhochjauchzend und manchmal voller Verzweiflung, aber gerade das macht sie unglaublich authentisch. Obwohl eindeutig ein Kind ihrer Zeit, wächst sie doch in eine Phase des Umbruchs hinein, der erste Weltkrieg bringt bei allem Schrecken gerade für Frauen große Chancen, in Berufen Fuß zu fassen, die ihnen sonst verschlossen gewesen wären. Großartig dargestellt fand ich die Umstände, in denen besonders die sozial schwachen Schichten leben, die Diskrepanz zwischen den Gesellschaftsschichten, zwischen arm und reich, aber auch die Tatsache, dass auch bei den Aristokraten nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Autorin versteht es meisterhaft, sich in ihre Figuren hinzuversetzen, in ihre Ängste und Träume und ihren Standesdünkel und macht dadurch die Motive sicht- und nachvollziehbar. Außerdem beweist sie großes Wissen um die Arbeitsweise in einem Auktionshaus und gibt interessante Einblicke in eine Welt, die dem Laien doch eher geheimnisvoll erscheint und verschlossen bleibt. Sie lässt uns hinter die Kulissen schauen und offenbart sowohl in der Welt der Reichen und Schönen als auch in der Welt der Auktionshäuser intime Kenntnisse der Verhältnisse.

Der Fokus der Geschichte liegt klar auf der Figur der Sarah, aus ihrer Perspektive wird ausschließlich erzählt, ihre Persönlichkeit ist am detailliertesten herausgearbeitet. In drei Teilen mit darin eingebetteten einzelnen Kapiteln beginnt die Erzählung ab Sarahs 18. Lebensjahr im Jahr 1910 und wird chronologisch bis ins Jahr 1919 fortgeführt. Dabei springt die Autorin ein paar Mal mehrere Jahre voraus, was mich mitunter zunächst etwas verwirrt hat. Zum Glück geben die Jahreszahlen Klarheit und die Geschichte umreißt zumindest die Ereignisse der fehlenden Zeitspanne. Sarah selbst macht eine immense Entwicklung durch. Zunächst einmal erweist sie sich als sehr mutig, ihr vertrautes Umfeld, sei es noch so elend, zu verlassen und sich in eine für sie ungewisse Zukunft zu begeben. Im Haus der Lady Sudbury muss sie sich ebenso behaupten wie später als Frau in einem Männerberuf und als alleinstehende junge Frau in der Gesellschaft. Dabei – und das fand ich einen weiteren interessanten Aspekt – vergisst sie nie ihre Herkunft und wird auch oft genug im Zusammenhang mit ihrer Familie oder ihrem Jugendfreund Charlie mit ihr konfrontiert. Mit wachsender Erfahrung wird sie nicht nur selbstbewusster, sondern auch härter, sie muss nicht Everybody´s Darling sein und geht für die Erfüllung ihrer Träume sprichwörtlich über Leichen. Da wunderte es mich phasenweise, wie naiv sie in manchen Dingen ist (was glaubt sie denn, was Charlie von ihr will?) und manche Entscheidungen waren bei allem Wohlwollen nicht nachvollziehbar. Als kleinen Kritikpunkt will ich noch anmerken, dass ich mir zu manchen Themen ein paar Sätze mehr gewünscht hätte, viele Dinge und Ereignisse werden doch recht oberflächlich angerissen, zum Beispiel der Einfluss der Suffragetten, der Antisemitismus, die Frauenfeindlichkeit, der Zerfall der Gesellschaft, die Ächtung einer alleinstehenden Frau, die ihren Ruf zu wahren hat und die Verzweiflung, die manche Situationen in Sarah auslösen. In vielem hat sie sehr viel Glück und einiges ist dann doch ein bisschen weichgespült. Auch wünschte ich mir eine bessere Ausarbeitung einiger Nebenfiguren, so war ich ein schwerer Fan von Charlie, der für mich ein zwar zwiespältiger, aber gerade deshalb ein sehr interessanter Charakter war und dem ich viel näherkam als dem Fotografen und Aristokraten Philip Maynard. Diese zwei Gegenspieler um Sarahs Gunst hätten durchaus mehr Raum einnehmen können, aber das birgt dann auch noch genug Stoff für den Folgeband.

Fazit: Alles in allem ein sehr gelungener Mix aus Frauen- und Liebesgeschichte, sehr gut in einem historischen Kontext eingebettet und mit fundiertem Wissen und in großartiger, bildhafter Sprache erzählt. Dass die Autorin schreiben kann, hat sie als Constanze Wilken hinlänglich bewiesen, und auch hier offenbart ihr Können und ihre Liebe zu ihren Figuren. Man ist sofort in der Geschichte drin und fiebert mit Protagonistin Sarah mit. Das offene Ende und die überraschende Entscheidung birgt genug Potential für den Folgeband, der dann nächstes Jahr im Februar erscheinen soll.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.08.2020

Hochemotionaler dritter Fall für Helle Jespers

Helle und der falsche Prophet
0

Kriminalkommissarin Helle Jespers kann selbst im Urlaub im milden Südfrankreich nicht richtig abschalten. Als sie der Anruf ihres Kollegen erreicht, der eine Tote meldet, ist sie beinahe froh, dass etwas ...

Kriminalkommissarin Helle Jespers kann selbst im Urlaub im milden Südfrankreich nicht richtig abschalten. Als sie der Anruf ihres Kollegen erreicht, der eine Tote meldet, ist sie beinahe froh, dass etwas passiert, doch dann ist sie mehr als geschockt, denn die Tote ist Merle, eine alte Schulfreundin ihres Sohnes Leif. Angeblich hat sie Selbstmord begangen. Daran glaubt Helle keine Sekunde und startet deshalb zu ihren berüchtigten Alleingängen. Wo ist Merles Handy, und was hat sie mit einem jungen Pärchen in einem nicht gemeldeten, roten Pickup zu tun? Helles Vorgesetzte pfeifen sie zurück, doch dann wird in Kopenhagen in einer Jugendherberge ein junger Mann tot aufgefunden, und wieder ist das Pärchen involviert…

Dritter Fall für die eigenwillige Kommissarin Helle Jespers aus dem abgelegenen norddänischen Städtchen Skagen. Auch wenn man die Vorgänger-Bände der Kommissarin nicht kennt, kommt man sehr gut in die Geschichte hinein, was vor allem am sehr eingängigen und unprätentiösen Schreibstil der Autorin und ihrer hervorragenden Beschreibung der Charaktere liegt. Die Geschichte lebt meines Erachtens vor allem von der extrem menschlichen und sympathischen Hauptfigur und den generell sehr tiefgründig gezeichneten anderen Figuren. Es gibt eine zwar eine recht klare gut-böse-Aufteilung, dennoch sind die Persönlichkeiten der Figuren vielschichtig und die Autorin versteht es sehr gut, Emotionen zu beschreiben und den Leser diese miterleben zu lassen. Der Fall selbst ist nicht besonders komplex, Helle kommt oft durch Geistesblitze auf die Hintergründe und geht dann diesen nach. Sie hat einfach ein herausragendes Gespür für Menschen und handelt oft intuitiv. Es geht weniger darum, der schrittweisen Aufdeckung, sprich den Ermittlungen der Polizei, zu folgen, oder um ein Psychoduell als vielmehr darum, eine emotionale Verbundenheit mit den Protagonisten herzustellen. Der Leser gewinnt durch die verschiedenen Perspektiven der Leser tiefe Einblicke ins Geschehen und in die Gefühlswelt der Protagonisten und weiß immer mehr als die Kommissarin. Dennoch wird eine gewisse Spannungskurve gehalten, man fiebert vor allem mit den Figuren mit, die persönlich betroffen sind.

Formal ist die Geschichte in drei Teile eingeteilt, die die Geschichte ziemlich genau in drei gleiche Teile gliedert, deren Übergänge wichtige, für den Fortgang der Handlung einschneidende Ereignisse markieren. Die drei Hauptperspektiven Helle/Polizei, das Pärchen beziehungsweise Nick und Jemi sowie der Polizist Willem sind jede für sich spannend und der Leser weiß dadurch immer mehr als die Kommissarin, was ebenfalls einen Teil der Spannung ausmacht. Sehr gut sind die Zerrissenheit und die Zweifel der Personen dargestellt, die Grundstimmung ist zwar nicht düster, aber dennoch spürt man oftmals die Verzweiflung und den Kampf, den die Protagonisten ausfechten. Mir hat hier besonders Polizist Willem gefallen, der das Bindeglied zwischen beiden Welten darstellt und sich als äußerst mutig erweist. Bei ihm war man sich manchmal nicht sicher, wie er sich entscheiden wird, und es war spannend zu beobachten wie er sich behauptet. Mitunter hätte ich mir bei einigen anderen Figuren wie beispielswiese Jemi oder Hiob noch tiefere Einblicke gewünscht. Einiges an Motivationen und Hintergründen bleibt offen, und so bietet der Schluss zwar eine gute Auflösung, die Entwicklung der Figuren hätte aber meines Erachtens umfassender sein können.

Fazit: Gelungener dritter Band um die supersympathische Kommissarin mit den oftmals eigenwilligen Methoden. Für Fans natürlich ein Muss, doch auch Einsteiger können die Geschichte gut lesen. Wer einen komplexen Kriminalfall mit ausgeklügelten Ermittlungsmethoden erwartet, wird eher enttäuscht sein. Wer jedoch emotionale Verstrickungen und lebendige Charaktere mag, wird diesen Band verschlingen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere