Profilbild von Corsicana

Corsicana

Lesejury Star
offline

Corsicana ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Corsicana über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.05.2022

Eindringlicher und bewegender Roman über Heimat, Wurzeln & Familie

Auf der Straße heißen wir anders
0

Dieser Roman hat mich sehr positiv überrascht. Ein sehr gut geschriebener und durch seinen Stil sehr eindringlicher Roman über eine armenische Familie in Deutschland, die sich mit Fragen zu Identität, ...

Dieser Roman hat mich sehr positiv überrascht. Ein sehr gut geschriebener und durch seinen Stil sehr eindringlicher Roman über eine armenische Familie in Deutschland, die sich mit Fragen zu Identität, Wurzeln und Heimat auseinandersetzt. Gleichzeitig tragisch und hoffnungsvoll, leise und doch prägnant. Der Roman besticht für mich vor allem durch seine Auslassungen, durch die Dinge, die nicht direkt, sondern indirekt erzählt werden. Dadurch entfaltete das Buch für mich mehr Kraft, als wenn Genozid, Ausgrenzung und Heimatverlust direkt angeprangert werden. Ich hatte vorher von Fatma Aydemir "Dschinns" gelesen, was ich als eine einzige Anklage gegen Rassismus, fehlende Integration und fehlende Anerkennung in der deutschen Gesellschaft empfunden habe. Laura Cwiertnia geht literarisch einen komplett anderen Weg. Sie erzählt leise und ruhig von den Menschen und auch vom Genozid. Oft indirekt und sehr subtil und manches wird auch nur angedeutet, die Auswirkungen auf das Leben der Menschen werden dadurch aber umso deutlicher. Ein sehr gelungenes und literarisch sehr geschickt geschriebener Roman, der multiperspektivisch geschrieben weit in die Vergangenheit zurückgeht und die Lebenswege von Vater, Großeltern, und Urgroßeltern erzählt.

Zentrale Figur ist Klara, Tochter einer Deutschen und eines Armeniers, der in Istanbul aufgewachsen ist. Klara ist der tristen Siedlung in Bremen Nord entkommen, in der sie wiederum aufgewachsen ist. Durch Bildung. Zur Beerdigung ihrer Großmutter kehrt sie zurück und ist mehr als überrascht, dass es ein typisch armenisches Beerdigungsritual gibt. Und ein dezidiert aufgeschlüsseltes Vermächtnis. Dazu gehört ein goldener Armreif mit dem Namen einer Frau in Armenien. Klara überredet ihren Vater zu einer Reise nach Armenien. Und bei dieser Reise kommt Klara ihrem Vater viel näher als bisher. Und sie erfährt sehr viel über ihre Herkunftsfamilie, die zwar aus der Türkei als Gastarbeiter kamen, jedoch keine richtigen Türken, sondern Armenier waren. Und so merkt Klara auch, dass sie mit ihrer Entscheidung, sich Klara und nicht mehr Karlotta zu nennen unbewusst eine Familientradition fortgesetzt hat. Denn "Auf der Straße heißen wir anders". Der Roman erklärt. warum es so war.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 28.02.2022

Was für ein Buch! Wird wohl mein Jahreshighlight

Der Papierpalast
0

Was für ein Buch! Atmosphärisch dicht, sprachlich und stilistisch gelungen und unterhaltsam. Erzählt wird von einem Tag im Sommerhaus einer Familie auf Cape Cod. Wobei es sich um eine sehr einfache ...

Was für ein Buch! Atmosphärisch dicht, sprachlich und stilistisch gelungen und unterhaltsam. Erzählt wird von einem Tag im Sommerhaus einer Familie auf Cape Cod. Wobei es sich um eine sehr einfache Unterkunft handelt, daher der Name Papierpalast. Elle, die Protagonistin, hat dort jeden Sommer ihres Lebens verbracht. Aber diesmal ist etwas anders. Sie hat zum ersten Mal mit ihrem Jugendfreund geschlafen. Sie lieben sich seit ihrer Kindheit. Aber es gibt wohl ein Geheimnis, warum sie kein Paar geworden sind, sondern mit jeweils anderen Partnern verheiratet. Dieses Geheimnis und vieles mehr aus dem Leben von Elle wird in vielen Rückblenden erzählt, während der Tag unaufhaltsam fortschreitet und irgendwann eine Entscheidung ansteht.....

Geschickt konstruiert zwischen Jetzt und Gestern, werden tragische, schöne, verstörende und überraschende Erlebnisse erzählt. Das alles ist wesentlich tiefgründiger und auch dramatischer, als es sich am Anfang anfühlt. Eine leichte, sommerliche Unterhaltung ist das definitiv Buch nicht. Aber eine beeindruckende Erzählung darüber, wie unsere Herkunft uns prägt, wie sich einzelne Erlebnisse auf unser Leben auswirken und welche Rolle Familie spielt oder spielen kann.
Erzählt wird sehr viel von Frauen. Elle als moderne, inzwischen 50jährige Frau aus einem intellektuellen Haushalt, die doch so viele (auch finanzielle) Engpässe und Probleme aus ihrer Kindheit kennt und unbedingt Sicherheit sucht. Ihre Mutter und Großmutter, die noch auf (reiche) Männer angewiesen waren, um ihr Leben zu meistern - und doch so oft damit scheiterten. Was sich wiederum auf ihre Kinder auswirkte (was ihnen aber teilweise ziemlich egal zu sein schien - ich mag es, dass die Autorin die Frauencharaktere etwas gegen die Konventionen entwirft!). Die Handlung wird im Laufe der Erzählung immer komplexer und auch die Charaktere offenbaren sich immer mehr, wobei (fast) keiner nur eindimensional dargestellt wird.

Mich hat dieser Roman sehr gefesselt, ich habe oft über die Rolle der Frauen nachgedacht und mich oft gefragt, was ich in dieser oder jener Situation getan hätte. Darüber hinaus vermittelt das Buch eine einzigartige Stimmung und es wird nie langweilig. Denn irgendwie will man doch wissen, wie sich alles weiterentwickelt.
Von mir daher eine eindeutige Empfehlung für diesen Roman!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.02.2022

Sprachlich ungemein gelungene Erzählungen von den nicht so sonnigen Seiten Floridas

Milch Blut Hitze
0

Florida ist der Sunshine State der USA. Viele wohlhabende Amerikaner und Menschen aus aller Welt haben hier ihren (Neben-) Wohnsitz oder verbringen die Winter hier. Tolle Hotels, exklusive Golfclubs und ...

Florida ist der Sunshine State der USA. Viele wohlhabende Amerikaner und Menschen aus aller Welt haben hier ihren (Neben-) Wohnsitz oder verbringen die Winter hier. Tolle Hotels, exklusive Golfclubs und viele Villengegenden prägen nach außen hin den Staat. Aber es leben hier auch viele normale Menschen. Diese sind nicht reich, sondern gehören eher zu den "Working Poor" und müssen sich ihr Leben mit ganz normalen Jobs verdienen. Mehrheitlich wird von Frauen oder Mädchen erzählt, die meisten davon People of Color und damit oft in die niedrigeren Gesellschaftsschichten verbannt. Doch Rassismus ist ein Thema, das im Buch eher sehr subtil daherkommt. Meistens geht es um entscheidende, tragische Momente im Leben. Die erste, titelgebende Geschichte, schlägt hier direkt voll zu. Für die Leser:in ist danach sicherlich eine Pause zum Nachdenken und Verarbeiten notwendig. Ich selbst habe nicht kontinuierlich gelesen und nicht jede der Geschichten ist auf den ersten Blick so dramatisch wie die erste. Allerdings merkte ich immer mehr, wie viel Zeit ich brauchte, um die Erzählungen zu verarbeiten. Sie lesen sich zwar leicht - dringen aber in tiefe Gefühlsschichten ein. Auch dann, wenn die erzählte Lebenswirklichkeit weit weg ist von der eigenen.

Literarisch daher eine unbedingt empfehlenswerte Entdeckung. Sprachgewaltig, tiefgründig und doch so gefährlich leicht zu lesen. Die Wucht der Wirkung kommt später. Gewaltig und eindrucksvoll. Ich habe lange für die Lektüre gebraucht, da ich nicht mehr als 1-3 Geschichten pro Woche lesen konnte. Einige habe ich mir sogar noch aufgespart. Denn ich möchte mir noch ein paar Momente eines vollkommenen sprachlichen Debüts aufbewahren. So etwas wie dieses Buch gibt es nämlich selten.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 31.01.2022

Gefühlvoll & tiefgründig. Ein tolles Debüt!

In Richtung Stoppelfelder
0

Mit dem Roman "In Richtung Stoppelfelder" ist der Autorin Lene Jansen ein sehr beeindruckendes Debüt gelungen. Ich hatte etwas leichtes, unterhaltsames erwartet und meine Erwartungen wurden positiv übertroffen. ...

Mit dem Roman "In Richtung Stoppelfelder" ist der Autorin Lene Jansen ein sehr beeindruckendes Debüt gelungen. Ich hatte etwas leichtes, unterhaltsames erwartet und meine Erwartungen wurden positiv übertroffen. Denn unterhaltsam war es - aber auch überraschend tragisch und tiefgründig. Und dabei immer gut lesbar.

Dazu das Setting: Eine Fahrt im ICE von München nach Münster. Jule ist unterwegs zur Beerdigung ihrer allerbesten Freundin und entsprechend traurig. Da trifft sie im Abteil ausgerechnet auf ihren Ex-Freund Hannes, der sie vor 10 Jahren verlassen hat. Schlimmer kann es kaum sein. Werden die beiden sich endlich aussprechen? Oder sich anschweigen? Oder sich anschreien? Das werde ich jetzt nicht verraten. Nur soviel: Es werden viele Erinnerungen an eine vergangene Liebe aufkommen und es wird viele Überlegungen geben, was wann wie vielleicht schiefgelaufen ist. Und: Es wird immer wieder positive Elemente geben.

Eine rasante Fahrt im ICE, viele stimmungsvolle Erinnerungen und eine oft schonungslose Analyse, wie wenig perfekt das Leben manchmal sein kann. Das Buch regt also auch sehr zum nachdenken an.

Die Autorin kann schreiben und sie kann Timing. Traurige Passagen wechseln mit Aufheiterungen, negative Erinnerungen mit positiven Ausblicken. Sehr gekonnt. Etwas ähnliches habe ich bisher nur bei Jasmin Schreiber in "Marianengraben" erlebt. Und natürlich bei Benedict Wells... aber das ist jetzt doch noch etwas anderes.....

Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, trotz der eigentlich sehr traurigen Grundhandlung. Zum Glück habe ich mich von der Beerdigungsgeschichte nicht abhalten lassen. Denn dann hätte ich ein tolles Debüt verpasst.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.04.2021

Unsagbar traurig und unsagbar schön

Hard Land
0

"In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb". Mit diesem ersten Satz in seinem neuen Roman "Hard Land" steckt Benedict Wells den Rahmen für die Handlung. Das Buch erzählt genau ...

"In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb". Mit diesem ersten Satz in seinem neuen Roman "Hard Land" steckt Benedict Wells den Rahmen für die Handlung. Das Buch erzählt genau das, was in dem ersten Satz steht. Und noch vieles mehr. Und alles in einer sehr einfühlsamen, schönen Sprache, die ganz nah am Protagonisten ist. Der Erzähler ist Sam, fast 16 Jahre alt. Er wohnt im (fiktiven) Grady, einer Kleinstadt in Missouri in den 80er Jahren. Die Stadt ist im Niedergang, die Textilfabrik hat zugemacht, viele sind weggezogen und auch der Vater von Sam wurde arbeitslos. Aber das ist nicht das einzige Problem der Familie. Die Mutter ist nämlich unheilbar an Krebs erkrankt und es geht ihr zunehmend schlechter, der Krebs kommt immer wieder zurück. Schon seit Jahren liegt dieses Unheil auf der Familie - und Sam kann es manchmal kaum ertragen. Auf der anderen Seite hat er auch noch andere Probleme. Typische Probleme eines Heranwachsenden eben. Er ist zu klein, hat noch keinen Bartwuchs. Und - das Schlimmste - er ist ein Außenseiter und hat keine Freunde, seitdem sein einziger Freund weggezogen ist. Das Ganze ändert sich, als Sam einen Ferienjob im einzigen Kino der Stadt annimmt. Zunächst, um der Situation Zuhause zu entfliehen. Aber dann findet er nach und nach immer mehr Anschluss an die Clique, die auch im Kino jobbt. Da ist Kristie, die hübsche Tochter des Kinobesitzers (in die sich Sam natürlich verliebt), da ist Cameron, der schwule Filmliebhaber und Brand, der großgewachsene schwarze Baseballstar der Schule. Alle sind älter als Sam, sie werden nach den Ferien aufs College gehen, das Kino wird schließen - die vier haben also eigentlich nur diesen Sommer. Aber den werden sie ausnutzen. Mit kleinen Mutproben, Partys und Sommerabenden am See oder im Kino - was man eben so machen kann im Mittleren Westen - mitten auf dem platten Land. Es ist nicht viel - aber für Sam ist es ein ganz besonderer Sommer.
Es war schön zu lesen, wie dieser Sommer vorbeiging, die Erinnerungen an die 80er (damals war ich jung) kamen wieder und die Musik und und und... aber immer hing das drohende Unheil über der Geschichte. Die Mutter wird sterben. Und das hat mir als Leserin fast das Herz gebrochen und mich persönlich lange daran gehindert, überhaupt weiter zu lesen. Die Mutter wird - wie alle Personen im Buch - sehr gut beschrieben. Sie ist so eine herzensgute, lebendige, intelligente Frau. Es war kaum auszuhalten. Und zu seinem Vater hat Sam kaum einen Draht - wie soll das alles enden?
Irgendwann musste ich dann doch weiterlesen. Und wurde angenehm überrascht. Natürlich stirbt die Mutter - aber die Geschichte endet nicht damit. Und sie endet auch nicht mit dem Ende des Sommers. Auch der folgende Winter wird erzählt und es wird sehr realistisch und hoffnungsfroh geschildert, wie Sam und seine Familie versuchen, mit dem Verlust zu leben. Das alles wirkt sehr warmherzig, sehr realistisch und überhaupt ist es so nah an den Personen beschrieben, dass ich wieder ganz wehmütig wurde.....und das Ende ... einfach gut gelöst... da geht es nämlich wieder um das (fiktive) Gedicht "Hard Land" des (fiktiven) einzigen Dichters aus der Stadt....

Benedict Wells ist wieder ein Buch über Verlust und Trauer gelungen, das einzigartig ist und einen Wechsel aus Trauer und Schönheit für den Leser bereithält. Es gibt sogar eine Wortschöpfung dafür: Euphancholie - eine Mischung aus Euphorie und Melancholie. Passt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere