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Veröffentlicht am 23.02.2022

Im Land der Lügen

Die Jagd
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Der belarussische Autor Sasha Filipenko hat bereits in seinen vergangenen Romanen eindrücklich die Verbindung eines kritischen Blicks auf die Verhältnisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die Abrechnung ...

Der belarussische Autor Sasha Filipenko hat bereits in seinen vergangenen Romanen eindrücklich die Verbindung eines kritischen Blicks auf die Verhältnisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die Abrechnung mit den dortigen Missständen und eine gewisse literarische Verfremdung der gesellschaftlichen Realität gezeigt. Sein neues Buch, "Die Jagd" bildet da keine Ausnahme. Diesmal stellt er die abgehobene Welt machtnaher Oligarchen und ihrer Helfershelfer der kleinen Blase von Aufklärung bewegter Intellektueller gegenüber.

Eine Jagd findet hier auf gleich mehreren Ebenen statt: als Dystopie des Schriftstellers und Journalisten Anton, der sich mit seinen Recherchen mit den Reichen und Mächtigen anlegt, als Jagd nach Geld und Reichtum des ehemaligen Sportredakteurs Lew, der als Kind den Niedergang der Familie von Einfluss, Geld und Privilegien in bittere Armut miterlebte und nie wieder arm sein will, die Jagd des Oligarchen Wassili Slawin auf jeden, der seine Position bedroht, wie Anton zu spüren bekommt.

Lüge und Verrat in vielerlei Formen, Korruption und Anpassung, Ehrgeiz und Heuchelei, das alles verwebt zu einem Text, der gewissermaßen auf musikalischen Formaten in Form von Passagen, Zwischennoten und verschiedenen Tempi aufgeteilt ist. Das kommt nicht von ungefähr, da sich dem Leser ein Teil der Geschichte aus dem Gespräch Lews mit seinem jüngeren Bruder, einem mäßig erfolgreichen Cellisten, erschließt.

Nichr nur im Krieg, auch in der von Filipenko geschilderten russischen Gesellschaft ist die Wahrheit das erste Opfer. Um Anton zum Schweigen zu bringen, muss eine neue Realität geschaffen werden, eine, die ihn charakterlich unterminiert, ihm finstere Motive unterstellt, seinen Patriotismus anzweifelt. Ob Trolle im Internet oder Psychoterror aus der Nachbarwohnung - wenn eine Lüge nur oft genug wiederholt wird, gibt es genügend Menschen, die sie glauben.

"Wir leben im Land der Andeutungen. Die Dinge,die verschwiegen werden, sind hier die eindeutigsten und treffsichersten Hinweise."

heißt es an einer Stelle. Stiernackige Schläger, die mit Prügel und Scheinhinrichtungen drohen, sind gar nicht nötig, wären vielleicht auch überflüssig. Die Daumenschrauben, die Anton angelegt werden, sind subtiler.

"In Russland leben heißt, sich immer alles vorzustellen. In Russland leben heißt, fähig zu sein, die Augen zu verschließen. Die Angliederung von Halbinseln, die Erfindung von Feinden."

"Die Jagd" zeigt den Aufstieg der Skrupellosen zu unglaublicher Macht und den Niedergang der Anständigen gleichermaßen. Dabei zeigt Filipenko die enormen Kontraste der postsowjetischen Gesellschaft, in der viele in einem täglichen Überlebenskampf stecken, während einige wenige in einer Parallelwelt von Luxus und Lebenslügen leben. Einmal mehr klagt er Missbrauch von Macht und angeblichem Patriotismus an, zeigt die Schattenseiten des Lebens der Ohnmächtigen und steigert die Jagd zu einem dramatischen Crescendo. Diese Komposition überzeugt in Inhalt, Form und Ausführung.

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Veröffentlicht am 23.02.2022

High Noon in denAlpen

Tell
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Wilhelm Tell, als Freiheitsdrama Schillers zu Freiheitskampf und Tyrannenmord früher einmal Teil des bildungsbürgerlichen Pflichtunterrichts, sagt den meisten jüngeren Lesern unserer Zeit wohl eher wenig ...

Wilhelm Tell, als Freiheitsdrama Schillers zu Freiheitskampf und Tyrannenmord früher einmal Teil des bildungsbürgerlichen Pflichtunterrichts, sagt den meisten jüngeren Lesern unserer Zeit wohl eher wenig - und wenn, klingt die Sprache des Klassikers ein wenig angestaubt. Doch jetzt gibt es wieder einen Tell, kompakt, knackig, gewissermaßen die schnell geschnittene Videoclip Alternative zur mehrstündigen Bühnenfassung. Und mit Joachim B. Schmidt hat dieser nun bei Diogenes erschiene Tell nicht nur einen Svhweizer Verlag, sondern auch einen Schweizer Autor.

Erstmals habe ich Schmidt durch seinen formidablen Island-Roman "Kalman" kennengelernt. Wie der naive Robbenfänger Kalman ist auch sein Tell ein Außenseiter, ein Eigenbrötler, der auf seinem entlegenen Bergbauernhof nach seinen eigenen Regeln lebt. Und wie bei Kalman spielt die Natur, in diesem Fall die Alpen, eine beeindruckende (Neben-)Rolle mit eindrücklicher Beschreibung.

Als "Blockbuster in Buchform" bewirbt der Verlag das Buch, spricht von "Baveheart in Altdorf" und ähnlich wie in einem Film sind ständige Szenen- und Perspektivwechsel Teil der Erzähldramaturgie. Schmidt zeigt die Ereignisse aus der Sicht von Bauern und Soldaten, der Kinder Tells und des Dorfpfarrers, aus der Perspektive Tells und Vogt Gesslers.

Schmidts Tell ist kein klassischer Held voller Pathos, sondern ein Mann, dessen Leben von gleich mehreren Tragödien überschattet wird - manches davon enthüllt sich erst gegen Ende des Buches. Gessler ist nicht der tyrannische Schurke der klassischen Literatur, sondern ein eigentlich feinsinniger Familienmensch, ein Zauderer, der mit der Rolle des harten Mannes hadert. Um so schlimmer ist sein Handlanger, der Mann fürs Grobe, der mit seiner Soldateska die bäuerliche Bevölkerung schikaniert, der plündert und vergewaltigt.

Dieser Tell verdeutlicht auch - hier eine andere Entscheidung, dort eine andere Möglichkeit und die Geschichte hätte ganz anders verlaufen können. Heldenpathos ist diesem Tell fern, ohnehin macht Bergbauer Tell nicht viele Worte. Ähnlich wie schon bei "Kalman" richtet Schmidt die Aufmerksamkeit auf die "kleinen Leute", die übersehen, überhört, missachtet werden.

Mit 288 Seiten und 100 Erzählsequenzen ist sein Tell schlamk und schnell lesbar, nachdenklich und voll spröder Poesie. Am Ende ist es die Kraft der Schwachen, die sich durchsetzt und überdauert. Doch ja, der Braveheart-Vergleich ist gar nicht so schlecht. Aber erfreulicherweise ohne schwülstiges Hollywood-Pathos.

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Veröffentlicht am 23.02.2022

Hartnäckiger Ermittler in Tel Aviv

Vertrauen
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Auch wenn viele Israelis in dem Ruf stehen, besonders forsch, ja geradezu ruppig aufzutreten - der Polizist Avi Avraham ist eher ein Vertreter der leisen Töne, einer, der genau hinschaut, auch eigene ...

Auch wenn viele Israelis in dem Ruf stehen, besonders forsch, ja geradezu ruppig aufzutreten - der Polizist Avi Avraham ist eher ein Vertreter der leisen Töne, einer, der genau hinschaut, auch eigene Unsicherheiten zulässt und dessen ruhige Art leicht übersehen lässt, dass er ausgesprochen hartnäckig ist und sich nicht mit einfachen Lösungen zufrieden gibt. In Dror Mishanis Roman "Vertrauen" ist das bei einer scheinbaren Bagatellermittlung der Fall: Ein Tourist ist aus seinem Hotel verschwunden, ohne zu bezahlen. Angebliche Verwandte haben sein Gepäck abgeholt. Doch es gibt Ungereimtheiten, die Avraham stutzig machen - und dann behauptet die Tochter des angeblichen Touristen obendrein, ihr Vater arbeite für den Mossad, also den israelischen Geheimdienst.

Liegt es an dem Thema, der schattenhaften Welt der Spione? Ein wenig erinnert mich Avi Avraham an George Smilley und Dror Mishani an die subtilen Hinweise und die literarische Spannung eines John LeCarré - nur eben am Mittelmeer, zwischen Tel Aviv und seinen Vororten wie Bat Yam und Cholon, wo die Bauhausmetropole nicht ganz so hell scheint.

Hier ist denn auch ein zweiter Fall anhängig, mit dem sich Avraham und seine Kollegin Esthi Wahabe befassen - ein in einer Klinik ausgesetztes Neugeborenes, das in besorgniserregendem Zustand gefunden wurde und offenbar deutlich zu früh geboren wurde. Eine verdächtige ist dank der Aufnbahmen der Überwachungskameras schnell ermittelt, eine Kindergartenhelferin, die in eher prekären Verhältnissen lebt und die Polizei offenbar an der Nase herumzuführen versucht.

In beiden Fällen gestaltet sich die Wahrheitssuche schwierig, Schicht um Schicht müssen die Ermittler freilegen, was Tatsache und was Behauptung ist, müssen toxische Beziehungen und Altlasten der Vergangenheit entwirren. Manches ist ganz anders, als es zunächst scheint und kleine Details können die Perspektive gründlich verändern.

Ruhig erzählt und mit viel Aufmerksamkeit für Details, besticht "Vertrauen" als eine Art Kammerspiel, wenn sich Wahabe und die Kindergartenhelferin im Verhörraum in eine Art Duell von Willenskraft und Manipulation begeben. Neue Entwicklungen im Fall des verschwundenen Touristen zwingen wiederum Avraham zu Entscheidungen: Wie weit will er sich vorwagen in eine Schattenwelt, in der er mit seiner Suche nach der Wahrheit wenig zu gewinnen und viel zu verlieren hat? Wem kann er überhaupt vertrauen in einem Klima, das von versteckten Andeutungen und verschleierten Wahrheiten geprägt ist? Daneben sind es die szenischen Skizzen eines Israels abseits der Touristenpfade, die beim Lesen den Geschmack von Hummus und Sabich aufkommen lassen.

Mishani hat bereits mehrere Romane um den Polizisten Avi Avraham geschrieben - dies war der erste, den ich gelesen habe. Auch wenn es manche Andeutung gibt, die Leser, die mit der Serie vertraut sind, sicher besser einordnen können, erschwert das nicht das Lesen von "Vertrauen". Auf jeden Fall aber hat mich das Buch neugierig auf seine Vorgänger gemacht. Nicht zuletzt bereitet es mir ein besonderes Lesevergnügen, dank des Buches wieder durch die Straßen von Tel Aviv zu ziehen und vertraute Orte auf den Buchseiten zu erleben. Dieses Buch ist so vielschichtig, kompliziert und spannend wie die israelische Gesellschaft.

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Veröffentlicht am 13.02.2022

Sucht. Doping. Rache.

Ein Grab für zwei
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Per Aspera ad Astra? Ob es für Selma Falck, Ex-Spitzensportlerin, Ex-Spitzenanwältin, wieder hinauf zu den Sternen geht, muss sich erst noch zeigen. Im Rauen, ganz unten, ist sie zu Beginn von Anne Holts ...

Per Aspera ad Astra? Ob es für Selma Falck, Ex-Spitzensportlerin, Ex-Spitzenanwältin, wieder hinauf zu den Sternen geht, muss sich erst noch zeigen. Im Rauen, ganz unten, ist sie zu Beginn von Anne Holts "Ein Grab für zwei" auf jeden Fall angekommen: In einer heruntergekommenen Wohnung in einem heruntergekommenen Stadtteil von Oslo, die Ehe kaputt, die Beziehung zu ihren Kindern zerrüttet, ihre Spielsucht hat sie nicht nur finanziell an den Abgrund, sondern auch zur Veruntreuung von Klientengeldern geführt. Beruflich und privat könnte es gar nicht mehr schlimmer kommen, als ihr einer besagter Klienten, der Unternehmensberater Jan Morell, ein Angebot macht, dass sie nicht ablehnen kann.

Gegen Morells Tochter, die Spitzendsportlerin Hege, werden Doping-Vorwürfe erhoben. Die junge Ski-Langläuferin beteuert ihre Unschuld, doch ihr Olympia-Start steht plötzlich in Frage. Sollte Selma herausfinden, wie das passieren konnte und die Heges Unschuld beweisen, verzichtet Morell auf Anzeige und zahlt ihr einen Betrag, der sie aus dem Schuldenloch befreien könnte. Trotzdem - eine zuemliche Herausforderung für die Anwältin, die aus der verwahrlosten Wohnung hinaus, ohne die Infrastruktur eines Anwaltbüros, die Wahrheit herausfinden muss. Ihr einziger Verbündeter dabei ist ihr bester Freund, der obdachlose und psychisch labile Einers.

Dann werden auch noch Dopingvorwürfe gegen einen anderen Ski-Langläufer laut, der unter mysteriösen Umständen tot aufgefunden wird. Für Selma auch eine persönliche Angelegenheit: Der junge Sportler war ihr Patensohn und der Sohn ihrer besten Freundin.

All das könnte eigentlich schon für einen kniffeligen Sportthriller ausreichen, doch Holt sattelt noch darauf auf: In einem zweiten Erzählstrang erlebt ein Mann seinen persönlichen Alptraum, eingesperrt in einem Kerker, in dem die Wände buchstäblich näher rücken. Er hat keine Ahnung wer ihn gefangen hält und warum, doch die Situation treibt ihn nahezu um den Verstand.

In der von Katja Bürkle gesprochenen Hörbuchfassung sind diese Szenenwechsel, die ja nicht etwa durch ein verändertes Schriftbild oder Kapitel abgegrenzt werden, zunächst ein bißchen plötzlich, und die Zusammenhänge ergeben sich nicht sofort Zumal es noch eine weitere Ebene gibt, nämlich das sogenannte Drehbuch, das akkustisch immerhin durch Papierrascheln und Tastaturgeräusche abgesetzt ist.

Es ist deshalb schon von Vorteil, "Ein Grab für zwei" in längeren Abschnitten zu hören, um diese verschiedenen Ebenen und den Gesamtzusammenhang zu durchschauen. Das fällt aber nicht nur wegen der angenehmen Erzählstimme leicht, sondern auch wegen der von ihren eigenen Dämonen geplagten Hauptfigur. Dass Selma aufgrund eines Sportunfalls nicht mehr in der Lage zu weinen ist, scheint orgendwie passend für diesen komplizierten Charakter.

Ein sauberer Sport, der sich als Zerrbild seiner selbst entlarvt, subtiler Rassismus in der norwegischsten aller Sportarten, Intrigen, Sucht, und Doping: Auch für Nicht-Wintersportler wird es hier spannend. Der dunkle skandinavische Winter und die Schneeglätte, auf der sich die Protagonisten bewegen, scheint da geradezu symbolisch für ihr Innenleben. Vielschichtig und mit wuchtigen Sprachbildern überzeugt "Ein Grab für zwei" und weckt große Erwartungen auf die nächsten Ermittlungen von Selma Falck. Angesichts der vielen unterschiedlichen Facetten ihrer Hauptfigur hat die Autorin nach dem vielversprechenden Serienauftakt jedenfalls viel Raum für weitere Entwicklungen gelassen.

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Veröffentlicht am 11.02.2022

Held wider Willen

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
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Michael Hartung, Ossi, Ex-Eisenbahner, Ex-Braunkohlenmalocher, erfolgloser Videothekenbetreiber mit dem Hang zu ein paar Bieren zu viel, ist eine eher unwahrscheinliche Heldenfigur. Bis er eines abends ...

Michael Hartung, Ossi, Ex-Eisenbahner, Ex-Braunkohlenmalocher, erfolgloser Videothekenbetreiber mit dem Hang zu ein paar Bieren zu viel, ist eine eher unwahrscheinliche Heldenfigur. Bis er eines abends Besuch von einem ehrgeizigen Journalisten erhält, der die Story seines Lebens wittert, passend zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Hartung sei es doch gewesen, der eine Massenflucht der Passagiere eines S-Bahn-Zuges ermöglichte, indem er eine ganz bestimmte Weiche gen Westen stellte. Ein Held, Stasi-Verhör und Untersuchungshaft inklusive.

Hartung hört sich zu Beginn von Maxim Leos "Der Held von Bahnhof Friedrichstraße" diese Schilderung schon fast vergessener Ereignisse verblüfft an. Klar, da war was mit einer Weiche gewesen, Blöde Verwechslung, ziemlich peinlich. Er hatte mal wieder ein bißchen zuviel getrunken und obendrein verpennt. Und dann war da auch noch ein Bolzen abgebrochen und irgendwie war eine S-Bahn in den Westen gelangt. Aber scharfes Stasi-Verhör? Er hat nur nebelhafte Erinnerungen, doch der Journalist sieht nur die große Schlagzeile und die Chance auf einen Journalistenpreis, der die bislang eher stockende Karriere beflügeln könnte. Dort, wo er hellhörig werden sollte, hört er weg. Und Hartung, dessen Einwände mit jedem über den Tisch geschobenen Geldschein leiser werden, weiß am Ende gar nicht mehr, wie das eigentlich war. Seine Einwände werden leiser. Darauf noch ein Bier.

Es kommt, wie es kommen muss: Die Reportage über den Helden vom Bahnhof Friedrichstraße macht Wellen in der Medien- und Politikwelt. Hartung wird zum Held wider Willen. Talkshows, Interviews, ein Gespräch mit dem Bundespräsidenten und sogar eine Ansprache im Bundestag soll er halten. Er kann nicht mehr zurück. Und auch der Journalist beruhigt sein Gewissen: Vielleicht sei nicht alles hundertprozentig wahr, ein bißchen ausgeschmückt halt, aber Hartung hat nun mal diese Weiche gestellt. Und wenn er jetzt mit Gewissensbissen und Korrekturen rausrückt, dann war´s das. Es gibt keine größere Todsünde im Journalismus als eine gefälschte Geschichte, auch wenn sie einen Journalistenpreis einbrachte. Von diesem Sündenfall gibt es kein Zurück.

"Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße" spart nicht mit ironischen Seitenhieben auf die Welt der Medien, der Politik und all jener, die von dem Geflecht dieser Welten mit Stiftungen, hauptberuflich Betroffenen und der Daueraufgeregtjeit der modernen Gesellschaft leben. Hartung, bei all seinen Schwächen eigentlich eine ehrliche Haut, ist hier ein Fremdkörper, der gerade deshalb als so wunderbar authentisch vereinbart wird. Der Kontrast zwischen den Freunden aus Hartungs Kiez und der neuen Welt, in der er sich plötzlich wiederfindet, könnte gar nicht größer sein. Wie findet er aus all diesen Verwirrungen wieder hinaus?

Ein bißchen ist es eine Wendezeit-Köpenickiade, die hier geschildert wird mit einem Helden wider Willen. Auch die anhaltenden Unterschiede zwischen West und Ost, die Mauer in den Köpfen beim Blick auf den jeweils anderen, die Sieger- und Verlierergeschichten, bringen ungeachtet allen Humors auch ernstere Themen zur Sprache. Höchst unterhaltsam, eingängig geschrieben und bei aller Leichtigkeit durchaus bissig und zum Nachdenken anregend.

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