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Veröffentlicht am 23.02.2022

Dror Mishani – Vertrauen

Vertrauen
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Zwei ungewöhnliche Fälle beschäftigen Avi Avraham und seine Kollegin Esthi Wahabe: ein Schweizer Tourist hat sein Hotel verlassen und ist seither verschwunden und eine Frau hat ein Baby in einem Einkaufszentrum ...

Zwei ungewöhnliche Fälle beschäftigen Avi Avraham und seine Kollegin Esthi Wahabe: ein Schweizer Tourist hat sein Hotel verlassen und ist seither verschwunden und eine Frau hat ein Baby in einem Einkaufszentrum bei einem Krankenhaus ausgesetzt. Während Avi schnell herausfindet, dass Jacques Bartoldi eigentlich Raphael Chouchani heißt und Franzose marokkanischer Abstammung ist, sieht sich Esthi mit Liora einer Frau gegenüber, deren Geschichte mit jedem Verhör abenteuerlicher und verworrener wird. Die beiden Ermittler stecken fest, nichts scheint zusammenzupassen in ihren Fällen und sie werden das Gefühl nicht los, dass sie nur Marionetten sind, wobei sie nicht wissen, wer im Hintergrund die Fäden zieht.

Auch im vierten Fall für Kommissar Avi Avraham hat Dror Mishani wieder eine komplexe Geschichte gestrickt, die sich nicht so leicht durchschauen lässt. „Vertrauen“ besticht dabei vor allem mit der permanenten Ungewissheit, in der sich die Protagonisten ebenso wie der Leser befindet. Man spürt, dass etwas nicht stimmt, kann das lose Gewirr an Fäden jedoch nicht zu einem stimmigen Zusammenhang bringen.

Äußert Avi Avraham schon zu Beginn Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Berufs, stürzt ihn die Ermittlung völlig in die Sinnkrise.

„Leben retten und Grausamkeit, Gewalt und das Böse bekämpfen.“

Das war es, was er seiner inzwischen verstorbenen Chefin als Grund nannte, weshalb er sich für den Polizeidienst beworben hat. Ihre Erfahrung und Weitsicht hatten sie infrage stellen lassen, ob das in ihrer Position wirklich möglich sei. Und nun erkennt Avi, dass er eigentlich immer erst dann kommt, wenn das Verbrechen schon geschehen ist, wenn die Opfer schon zu beklagen sind und er nur noch hinterherräumen kann, aber keine Tat je verhindert. In dieser Stimmung kommt er zu dem Hotel, wo ein Gast vermisst wird, dort gibt man ihm zu verstehen, dass schon alles wieder erledigt, das Gepäck von Verwandten abgeholt und alles geklärt sei. Doch der Kommissar merkt, dass etwas faul ist und beginnt zu hinterfragen. Jeder Stein indes, den er umdreht, befördert neue Fragen hervor und die potenziellen Antworten lassen irgendwann nur den Schluss zu, dass der Geheimdienst involviert sein muss.

„Ich bin faktisch ihr Affe, wie beim organisierten Verbrechen, verstehst du? Ich bin der, der für sie die Wahrheit vertuscht, ohne es zu wissen, und ich kann nichts dagegen tun“

Sein Verdacht erhärtet sich und der geschickte Ermittler wird mehr als deutlich darauf hingewiesen, dass er seine Nachforschungen einstellen solle, da es nichts mehr zu ermitteln gäbe. Wie zu erwarten, spornt ihn das nur noch mehr an.

Seine Kollegin hat es zwar nicht mit dem Mossad, dafür aber mit einer durchtriebenen und undurchsichtigen Frau zu tun. Lioras Motiv wie auch die Entwicklung ihrer Geschichte um das Frühchen lassen Esthi nicht los. Sie will verstehen, was geschehen ist, wird aber aus der Mutter und ihrer 16-jährigen Tochter nicht schlau. Auch hier ist die Frage nach der Schuld nicht einfach zu beantworten, denn alle involvierten sind zugleich Täter und Opfer.

Zwei Handlungsstränge, die sich immer wieder auch kreuzen und deren Entwicklung gänzlich unvorhersehbar ist. Weniger noch lässt sich jedoch voraussagen, was die Fälle mit den beiden Ermittlern machen, denn diese lässt das Grauen, mit dem sie sich befassen müssen, ebenfalls nicht kalt. Dror Mishani bleibt sich treu, einmal mehr ein Krimi, der sich, genau wie auch „Die schwere Hand“ oder „Drei“ durch eine interessante und vielschichtige Figurenzeichnung auszeichnet und damit restlos überzeugt.

Veröffentlicht am 22.02.2022

Ellen Dunne - Boom Town Blues

Boom Town Blues
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Eigentlich ist Patsy Logan für eine Auszeit nach Dublin gekommen, um sich dort bei ihrer Cousine zu erholen und nebenbei auch ein wenig in der Familiengeschichte nachzuforschen, denn dass beim Tod ihres ...

Eigentlich ist Patsy Logan für eine Auszeit nach Dublin gekommen, um sich dort bei ihrer Cousine zu erholen und nebenbei auch ein wenig in der Familiengeschichte nachzuforschen, denn dass beim Tod ihres Vaters alles so war, wie es die offiziellen Berichte darstellen, glaubt sie nicht wirklich. Doch dann wird bei einem Empfang in der österreichischen Botschaft eine junge Deutsche vergiftet und man bittet sie um Amtshilfe. Gemeinsam mit einem Mitarbeiter der Botschaft soll sie die irischen Kollegen bei den Ermittlungen unterstützen, was auf wenig Begeisterung stößt. So hatte sie sich ihren Aufenthalt nicht vorgestellt, doch die Kommissarin ist durch und durch Polizistin und überschreitet bald schon ihre Grenzen, um die Spuren zu verfolgen, die die Iren nicht sehen wollen.

Ellen Dunnes dritter Auftritt für die toughe Münchner Ermittlerin führt wieder die beiden Länder zusammen, die den Hintergrund der Protagonistin bilden. Auch wenn Patsy von privaten Sorgen geplagt wird, steht in „Boom Town Blues“ der Mord im Zentrum. Schnell schon zeigt sich, dass die Motive jedoch nicht in dem Opfer zu suchen sind, sondern in dem, was Irland in den letzten Jahren immer wieder in die Schlagzeilen gespült hat: der rasante Aufstieg vom einstigen europäischen Armenhaus zum boomenden Finanz- und Immobilienzentrum, das mit der Krise 2008 einen einzigartigen Absturz erlebt hat.

Das ungleiche Duo Patsy und Sam bringt die Untersuchungen recht flott voran, von den Unverschämtheiten ihrer Dubliner Kollegen lassen sie sich weder einschüchtern noch aufhalten und haben so bald schon richtigen Ansatz gefunden. Patsys Ausfälle aufgrund der Trennung von ihrem Mann motivieren ihr Verhalten und auch die Anwesenheit in der irischen Hauptstadt glaubwürdig. Sie ist als Figur interessant gezeichnet, ohne jedoch den Krimi zu sehr damit zu überlagern.

Sehr gut gelungen ist für mich die Verschmelzung von Mordfall und der gesellschaftlich wie politisch brisanten Finanzkrise. Immer wieder wird der zentrale Handlungsstrang durch Einschübe unterbrochen, die einfache Menschen zeigen und Einblick in das geben, wie es vielen Hausbesitzern ergangen ist. Es war keine Krise, die nur Banken betroffen hat, im Gegenteil, die kleinen Eigentümer, die während der Jahre des wirtschaftlichen Aufstiegs zu größeren Krediten verführt und gedrängt wurden, als sie bedienen konnten, sind diejenigen, die es wirklich schlimm getroffen hat und die die Folgen der Spekulationen zu tragen haben. Tragische Schicksale, die so manchen verzweifeln und zu grausamen Handlungen verleiten lassen.

Ein unterhaltsamer Krimi, dessen Ermittlungen zügig und stringent verfolgt werden, wobei der Fall überzeugend in die gegenwärtige Situation Irlands eingebettet ist und geschickt auch die Folgen der Krise verdeutlicht.

Veröffentlicht am 21.02.2022

Volker Kutscher – Goldstein

Goldstein
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Gereon Rath bekommt einen Auftrag, auf den er zunächst wenig Lust hat: das FBI hat die deutsche Polizei informiert, dass der New Yorker Untergrundboss Abraham „Abe“ Goldstein auf dem Weg nach Berlin ist. ...

Gereon Rath bekommt einen Auftrag, auf den er zunächst wenig Lust hat: das FBI hat die deutsche Polizei informiert, dass der New Yorker Untergrundboss Abraham „Abe“ Goldstein auf dem Weg nach Berlin ist. Den Grund für den Besuch der Heimat seiner Eltern kennt man nicht, aber es schwant ihnen nichts Gutes. Der Kommissar soll Goldstein bei seinem Aufenthalt überwachen und zwar in der Form, dass dieser das auch merkt. Unterdessen haben die beiden jungen Ausreißer Benny und Alex eine lukrative Methode gefunden zu Geld zu kommen: sie lassen sich abends in Kaufhäuser einschließen und räumen nachts Uhren und Schmuck ab. Doch ausgerechnet im schillernden KaDeWe geht etwas schief und sie werden von der Polizei überrascht. Alex kann flüchten, doch Benny bezahlt mit dem Leben. Gereons Verlobte wird auf die Suche des Mädchens angesetzt, beide ahnen noch nicht, dass sie ihre Aufträge bald schon wieder zusammenführen werden.

Der dritte Fall des Berliner Kommissars und seiner toughen Verlobten ist im Sommer 1931 angesiedelt, als sich die Situation in der Hauptstadt zwischen Nationalsozialisten, Kommunisten und dem Untergrund langsam zuspitzt. Volker Kutscher zeichnet in „Goldstein“ fast amerikanische Verhältnisse mit sich bekriegenden Banden und Straßenschlachten, die durch die Weltwirtschaftskrise und das Erstarken der Nationalsozialisten befördert werden. Im Zentrum jedoch die beiden Handlungsstränge um den amerikanischen Gast und das Diebespärchen, die clever miteinander verbunden werden und nach und nach ein komplexes Netz von Verstrickungen enthüllen.

Der dritte Roman der Reihe setzt in gewohnter Manier die Geschichte fort. Kutscher entwickelt einerseits die Handlung um Rath und Charly Ritter weiter, wobei letztere einmal mehr als frühe Feministin gleiche Rechte für Frauen einfordert und unbeirrt ihren Weg geht, obwohl man ihr nicht nur Steine, sondern geradezu Felsen in den Weg legt.

Goldstein wirkt fast sympathisch, man merkt schnell, dass er nicht umsonst eine New Yorker Unterweltgröße ist, denn so einfach lässt er sich von der deutschen Polizei nicht aufhalten – bei was auch immer er vorhat. Es bleibt mysteriös, ob die zunehmenden Gewaltausbrüche zwischen den rivalisierenden Ringvereinen mit ihm in Verbindung stehen oder plötzlich noch ein weiterer Player in der Stadt aufgetaucht ist. Auch Johann Marlow, seinerseits Berliner Unterweltboss, ist sichtlich beunruhigt und fordert von Rath nun die Gegenleistung für seine frühere Unterstützung ein – Rath muss sich einmal mehr auch zum Gehilfen der Gegenseite machen. Wobei sich Gut und Böse immer schwerer voneinander unterscheiden lässt und mit Hitlers Getreuen geradezu auf groteske Weise verschiebt.

Wie gewohnt überzeugend konstruiert mit interessanter Figurenzeichnung; vor allem die junge Alex hat mir gut gefallen, wie sie zwischen die Räder gerät. Auch die politische Lage, die im Hintergrund wirkt, spielt einmal mehr geschickt in die Geschichte hinein und befeuert diese.

Veröffentlicht am 20.02.2022

Claire Thomas - Die Feuer

Die Feuer
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Samuel Becketts Theaterstück „Glückliche Tage“ wird im Theater in Melbourne aufgeführt. Es ist nicht nur ein glühend heißer Sommertag, draußen wüten auch Buschfeuer, die alles zerfressen, was sich ihnen ...

Samuel Becketts Theaterstück „Glückliche Tage“ wird im Theater in Melbourne aufgeführt. Es ist nicht nur ein glühend heißer Sommertag, draußen wüten auch Buschfeuer, die alles zerfressen, was sich ihnen in den Weg stellt. Summer, Schauspielschülerin und an jenem Abend Platzanweiserin, hätte gerne eine bessere Position, um mehr von dem Stück mitzubekommen. Professorin Margot Pierce kann sich als Zuschauerin kaum auf das Geschehen auf der Bühne konzentrieren, zu sehr sind ihre Gedanken noch bei einem unangenehmen Gespräch mit ihren Vorgesetzten. Auch Ivy Parker ist abgelenkt, beobachtet ihre Freundin Hilary neben sich, die ganz in das Geschehen versunken zu sein scheint, während in ihrem Kopf die Gedanken rasen.

Der zweite Roman der australischen Autorin Claire Thomas ist eine Hommage an Samuel Beckett und an die Verbundenheit von Menschen und die verschiedenen Lebensstadien von Frauen. „Die Feuer“ spielt geschickt mit den Ebenen zwischen Bühne und Zuschauerraum, die sich spiegeln, Parallelen aufweisen und tragikomisch die womöglich letzten Tage der Menschheit beschwören – zumindest die letzten vorpandemischen, in denen man noch einfach so eine Aufführung besuchen konnte.

Im Laufe der Geschichte wechselt immer wieder die Perspektive. Margot, Summer und Ivy erlauben nacheinander Einblicke in ihre Gedankenwelt, wobei sie letztlich auch eine einzige Frau sein könnten zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Lebens. Zum einen die junge Studentin, die unsicher ist in sozialen Interaktionen und sich in ihrer Bildung als defizitär empfindet. Ivy steht mit knapp über 40 voll im Leben, ist erfolgreiche Managerin und wird als solche geschätzt und anerkannt. Der Weg dahin war jedoch steinig und hart und die Dramen ihres Privatlebens bleiben der Öffentlichkeit verborgen. Margot muss niemandem mehr etwas beweisen, als angesehene Professorin steht sie am Ende des Berufslebens und beginnt gerade damit, sich von Konventionen zu lösen, die sie Jahrzehnte lang eingeschränkt haben.

In Becketts Stück befinden sich die letzten beiden Menschen bereits auf einem Grabhügel, von Winnie ist kaum mehr zu sehen als nur der Kopf, sie kann nicht mehr weg, sondern steckt fest und ist ausgeliefert. Ihr Mann Willie kann sie auch nicht retten, spricht mehr aus dem Off als dass er zu sehen wäre. All dies unter der Hitze der gleißenden Sonne. Hilflos sind sie dem Schicksal ausgeliefert, ähnlich wie die drei Frauen, die mit ihren ganz individuellen großen Fragen alleingelassen sind: wie soll Margot mit der fortschreitenden Erkrankung ihres Mannes umgehen? wird Summer je erfahren, wer ihr Vater ist? kann Ivy den Tod ihres ersten Kindes endlich überwinden?

Es könnten die letzten glücklichen Tage sein, bevor die Buschfeuer sie ganz unmittelbar bedrohen. Der Planet und damit die Existenz der Menschheit ist bereits im letzten Stadium angekommen, Zeit also die Frage nach dem Sinn zu stellen, wenn das Ende naht. Es muss etwas getan werden, aber die Ängste, die alle drei Frauen in sich tragen, führen zu einer Starre – ähnlich wie Winnie auf der Bühne, die zusehends bewegungsloser wird – die nur noch das Gedankenkreisen erlaubt.

Ein Roman vollgepackt mit Denkanstößen ganz unterschiedlicher Art, die literarisch clever umgesetzt zu einem großartigen Gesamtwerk werden.

Veröffentlicht am 14.02.2022

Asako Yuzuki – Butter

Butter
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Manako Kajii ist das Sensationsthema in ganz Japan: hat die unattraktive junge Frau reihenweise Männer verführt und dann in den Tod getrieben? Man kann ihr keine unmittelbare Täterschaft nachweisen, doch ...

Manako Kajii ist das Sensationsthema in ganz Japan: hat die unattraktive junge Frau reihenweise Männer verführt und dann in den Tod getrieben? Man kann ihr keine unmittelbare Täterschaft nachweisen, doch die Indizien sind erdrückend. Sie weigert sich mit Journalisten über das zu sprechen, was geschehen ist, einzig Rika findet den richtigen Weg, um sie zu öffnen: es sind die Kochkünste, der leidenschaftliche Genuss des Essens und vor allem der Gebrauch von Butter, über den sie mit der Verdächtigen in eine ungewöhnliche Beziehung tritt. Bis zu ihrem ersten Kontakt hat Rika das asketische japanische Ideal gelebt und dem, was sie zu sich genommen hat, nur wenig Bedeutung beigemessen, wichtig war nur, dass sie ihre zierliche Figur behält. Doch nun gewinnt sie einen anderen Blick und verfällt immer mehr dem Einfluss der mörderischen Geliebten.

Asako Yuzuki ist in ihrer japanischen Heimat vielfach für ihre literarischen Werke ausgezeichnet worden, daneben schreibt sie auch für das Fernsehen und Radio. Immer wieder greift sie in ihren Werken aktuelle gesellschaftspolitische Themen auf, die sie kritisch hinterfragt. In „Butter“ gelingt es ihr, einen Kriminalhandlungsstrang mit ausgereift plastischen Beschreibungen des Genusses mit der Frage nach der Rolle der Frau in der japanischen Gesellschaft zu verbinden. Der Titel wie auch das Cover wecken leider nicht unmittelbar Interesse, was bedauerlich ist, denn für mich ist der Roman ein wahrlich herausragendes Meisterwerk in vielerlei Hinsicht.

„zuzunehmen ist nicht gut. Ich habe keine Idealvorstellung vom Körper einer Frau, aber es könnte so aussehen, als würdest du dich gehen lassen. Das wirkt nicht vertrauenswürdig.“

Manako Kajii polarisiert die Öffentlichkeit, nicht nur wegen der womöglich unglaublichen Mordserie, sondern vor allem wegen ihres Aussehens. Sie ist nicht hübsch, sie ist nicht schlank und doch gelingt es ihr offenbar, reihenweise Männer zu verführen und auszunutzen. Beides in inakzeptabel: das gängige Schönheitsideal schlichtweg missachten und die Oberhand über Männer gewinnen. Auch Rita spürt dies unmittelbar. Nachdem sie angefixt von der Verdächtigen beginnt, ihr Essen zu genießen und entsprechend nur wenige Kilos zunimmt, erklärt ihr komplettes Umfeld ihr sofort, wie sie das Problem wieder in den Griff bekommen kann.

„Essen war ein zutiefst persönliches und egoistisches Verlangen. Gourmets waren im Prinzip Suchende. Sie waren Tag für Tag mit ihren Bedürfnissen beschäftigt und auf Entdeckungsreise.“

Für Rika eröffnet sich eine völlig neue Welt, die mit ungeahnten Sensationen verbunden ist, die man als Leser förmlich aufsaugt und ebenfalls spürt. Im starken Kontrast zu diesen begeisternden Empfindungen steht das, was über das Verhältnis von Männern und Frauen gesagt wird. Egal ob am Arbeitsplatz oder im Privatleben, die Japanerin hat sich unterzuordnen und dem Mann zu dienen. Tut sie dies nicht, muss sie mit Ablehnung oder gar offen zur Schau getragenem Hass rechnen. Das Geschlechterverhältnis ist schwierig, wird durch Schweigen verkompliziert und ist hauptsächlich dadurch charakterisiert, dass Egoismus vorherrscht und Empathie fehlt. In den Gesprächen mit Manako Kajii und ihren Nachforschungen über deren Vorgeschichte emanzipiert sich auch Rika von den Normen und beginnt zunehmend zu hinterfragen, was sie bis dato als gegeben hingenommen hat.

Perfekt orchestriert eröffnet sich der Roman wie ein mehrgängiges Menü. Ein leichtes Hors d’œuvre, das die Geschmacksnerven öffnet, bevor Gang für Gang immer wieder neue gustatorische Highlights kommen, die sich von dem davor unterscheiden und eine neue Note hinzufügen. Am Ende ist man wie nach einem reichhaltigen Mal etwas erschöpft ob der Vielfalt dessen, was man gerade genossen hat. Aber man würde es jeder Zeit wieder tun.