Bedrückend realitätsnah - und macht doch Hoffnung
Wie du mich siehstWie auch V. E. Schwab steht diese Autorin schon einige Jahre weit oben auf meiner irgendwann-mal-Liste. Dieses Frühjahr habe ich mir endlich Zeit für eines ihrer Bücher nehmen können: Wie du mich siehst.
Wir ...
Wie auch V. E. Schwab steht diese Autorin schon einige Jahre weit oben auf meiner irgendwann-mal-Liste. Dieses Frühjahr habe ich mir endlich Zeit für eines ihrer Bücher nehmen können: Wie du mich siehst.
Wir begleiten Shirin in ihrem Highschool-Alltag und erleben mir ihr erstmals zarte Gefühle einem Jungen gegenüber. Doch Shirin führt nicht das “normale” Leben einer weißen amerikanischen Sechzehnjährigen, denn sie ist Muslima und trägt ein Kopftuch. Das führt zu sehr unangenehmen Situationen, um es mal sehr, sehr vorsichtig auszudrücken. Ihre Familie zieht außerdem häufig um, weshalb sie sich inzwischen keine Mühe mehr gibt, Anschluss zu finden. Und dann ist da plötzlich Ocean. Der Typ aus ihrem Bio-Kurs, der sie nicht von vornherein zu verurteilen scheint. Kann sie ihm trauen? Und viel wichtiger: kann sie ihren Schutzschild öffnen?
Triggerwarnung: Dieses Buch behandelt die Lebensrealität einer jungen Muslima in den USA und die damit zusammenhängenden Diskriminierungen. Folgende Themen werden explizit beschrieben: Rassismus, Sexismus, Mobbing, Gewalt unter Jugendlichen, Gewalt gegen weiblich gelesene Menschen, anti-islamische Gewalt, Machtmissbrauch von Autoritätspersonen. Sexualisierte Gewalt kommt NICHT vor.
Diese Szenen können vor allem von betroffenen Personen als verstörend empfunden werden. Bitte schätzt selbst ein, ob ihr euch damit konfrontieren könnt oder möchtet.
In meiner Rezension versuche ich, weitestgehend auf genauere Beschreibungen zu verzichten. Teilweise ist das jedoch nicht möglich, wenn ich auf bestimmte Details eingehen möchte. Mein Fazit ist spoilerfrei und ohne triggernde Inhalte.
Meine Perspektive
Ich möchte betonen, dass ich nur sehr begrenzt wirklich nachvollziehen kann, was Shirin erlebt. Unsere Lebensrealität als Sechzehnjährige sah vollkommen unterschiedlich aus. Ich bin weiß, in der Theorie christlich erzogen, trage keine Merkmale irgendeines Glaubens an meinem Körper, steche nicht aus der Masse hervor. Shirin dagegen ist nicht-weiß, trägt einen Hijab, geht auf eine Schule, die anscheinend hauptsächlich von Weißen besucht wird. Und ihre Geschichte spielt ein Jahr nach 9/11 in den USA.
Aber Shirin ist auch mit Dingen konfrontiert, die ich selbst erlebe oder erlebt habe: Sexismus zum Beispiel. In einer Szene beschreibt sie, wie ihr Bruder nach einer Prügelei mit keinerlei sozialen Konsequenzen leben muss, aber ihr die Menschen mit noch mehr Ablehnung begegnen als zuvor. Dabei war sie an der Prügelei nicht einmal beteiligt – ihr Bruder hat sich in ihrer Abwesenheit und ohne, dass sie ihn dazu aufgefordert hätte, einen Mitschüler vorgeknöpft, der Shirin ein Gebäckstück an den Kopf geworfen hatte. Trotzdem gab man ihr die Schuld daran. Rassimus ist das nicht mehr, der hätte auch ihren Bruder getroffen. Nein, das Mädchen, das Kopftuch trägt, ist schuld.
Es ist natürlich irgendwie Sinn des Buches, heftiges Mobbing und verstörende Erlebnisse zu beschreiben und dann über die möglichen Folgen aufzuklären. Mafi hat laut Verlag einen autobiografischen Ansatz verfolgt und aus meiner oben beschriebenen Perspektive erscheint mir alles davon sehr authentisch und realistisch. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – habe ich das Lesen oft unterbrechen müssen, weil ich erst mal ein paar Kapitel verarbeiten musste
Sehr lehrreich
Weniger emotional aufgeladen und damit entspannter zu lesen sind die Szenen, in denen Shirin ihr Hobby beschreibt: Breakdance. Für meinen Geschmack war es etwas zu viel “neuer dance move hier, spannender dance battle dort”, aber das liegt an meinem persönlichen Geschmack. Gut gefällt mir aber an diesem Aspekt, dass er den Figuren ein Leben gibt, das außerhalb von Diskriminierungserfahrungen stattfindet – auch, wenn die Furcht vor solchen immer in der Luft liegt.
Ich mag auch, dass Ocean nicht der klischeehafte reiche, weiße happy-go-lucky Sonnyboy ist, in dessen Leben alles perfekt läuft. Auch er hat ein problematisches Umfeld, mit dem er zu kämpfen hat. Dass er auch tatsächlich kämpfen sollte, wird ihm aber erst so richtig klar, als er sich mit Shirins Lebensrealität auseinandersetzen muss. Das hat Ocean für mich realer gemacht, greifbarer und weniger schablonenartig, wie es sonst leider oft mit Jugendbuchcharakteren ist. Und das macht auch die aufkeimende Liebesgeschichte zwischen Shirin und Ocean nahbarer.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Wie du mich siehst für Teenager sehr lehrreich ist und augenöffnend wirkt: das Buch erklärt nicht nur den Privilegierten viel über die von Privilegierten verursachten Probleme im Alltag der Betroffenen und regt damit dazu an, aktiv dagegen anzugehen (aka “break the wheel”) , sondern beinhaltet auch so einige Lektionen in Bezug auf Selbstreflexion der Betroffenen. Okay, das war ein komplizierter Satz. Kurzgefasst: Jeder Leserin dieses Buches kann viel daraus mitnehmen, ob betroffen oder nicht. Und dabei hebt die Autorin nicht den sprichwörtlichen Zeigefinger und sagt “du musst xy machen/mit xy aufhören!”, sondern baut das sehr geschickt in Shirins Geschichte ein.
Insgesamt habe ich den Eindruck, dass ich aus Büchern mit Protagonistinnen im Highschool-Alter herausgewachsen bin. Mir fällt es inzwischen oft schwer, die Probleme von Sechzehnjährigen gespannt zu verfolgen und mit jeder Entwicklung mitzufiebern. Da bei Wie du mich siehst der Fokus aber weniger auf den so oft so klischeehaft beschriebenen Problemen von Schülerinnen liegt (heimliche Schwärmerei, erste Liebe, Cliquenkrieg, Verrat unter “Freundinnen”, wer mit wem, der Lehrer mag mich nicht, meine Eltern erlauben mir gar nichts, …) habe ich mich trotz des recht langsamen Leseflusses nicht gelangweilt. Auch das Ende passt gut zur Geschichte und zum Stil, in der diese geschrieben ist. Ich hätte mir trotzdem etwas mehr closure gewünscht.
Fazit
Wie du mich siehst ist bedrückend, realitätsnah und beängstigend – und gibt doch Hoffnung darauf, dass es besser werden kann. Dass man selbst es besser machen kann. Das Buch regt an, die eigene Haltung kritisch zu betrachten und den Mund aufzumachen, wo es nötig ist. Ich werde es so schnell nicht vergessen und in den nächsten Monaten jederm Jugendlichen empfehlen, die*der mich nach einem Buchtipp fragt.