Mitreißend, düster, schonungslos und spannend bis zum Schluss!
"Elias und Laia", das ist eine Jugendbuchreihe straight-outta-Dystopienphase mit typischem Genremix - habe ich gedacht. Ein bisschen Science-Fiction, ein bisschen Gesellschaftskritik, ein bisschen Fantasy ...
"Elias und Laia", das ist eine Jugendbuchreihe straight-outta-Dystopienphase mit typischem Genremix - habe ich gedacht. Ein bisschen Science-Fiction, ein bisschen Gesellschaftskritik, ein bisschen Fantasy und ein bisschen Liebesgeschichte, das wird bestimmt ganz nett - habe ich gedacht. Womit ich nicht gerechnet habe: dass mich diese Reihe 5 Jahre nach Erscheinungstermin und etlichen von mir gelesenen Dystopien so umhauen würde.
Das Cover ist ein ganz nett gestaltetes aber typisches Jugendbuch-Dystopie-Cover. Zu sehen sind ein Teil eines männlichen Gesichts, das von der Andeutung einer silbernen Maske umspielt wird, sowie die Andeutung eines antiken Amphitheaters im unteren Teil des Bildes. Beide Elemente passen zur Handlung und durch die Hell-Dunkel-Kontraste und die warmen Farbtöne wird die düstere Atmosphäre des Wüstensettings gut transportiert. Ich bin wohl etwas verwöhnt von anderen Fantasy-Romanen, denn mit zunehmender Seitenzahl haben mir ein Glossar, ein Namensregister und vor allem eine Karte gefehlt, da ich vor allem über die geografische Lage der Handlung gerne mal den Überblick verloren habe.
Erster Satz: "Mein großer Bruder kehrt heim in den dunklen Stunden vor der Morgendämmerung, in denen sogar die Geister ruhen."
Die Geschichte, die durchgängig abwechselnd aus zwei Perspektiven erzählt ist, beginnt mit einem Ende. Dem Ende von Laias Familie, von ihrer Zukunft und ihrem Glück. Denn als eines Nachts eine gefürchtete Maske des Imperiums ihre Großeltern ermordet und ihren Bruder Darin gefangen nimmt, bricht ihre Welt zusammen. Mit letzten Kräften flieht sie zu den Rebellen, denen ihre Eltern früher angehörten, und lässt sich in ihrer Verzweiflung auf einen gefährlichen Deal ein: sie wird in die Militärakademie Schwarzkliff eingeschleust, bespitzelt die brutale Kommandantin als ihre Haussklavin und der Widerstand befreit im Gegenzug ihren Bruder. Auch Elias steht vor einer schwierigen Entscheidung. In den letzten Zügen seiner Ausbildung zur erbarmungslosen Maske, zu einem Vollstrecker des Imperiums, will er desertieren, um einer dunklen Zukunft voller Gewalt und Schrecken zu entkommen, als ihn die Auguren für das Auswahlverfahren zum neuen Imperator erwählen. Soll er sich den vier Prüfungen stellen, oder seinem Schicksal entfliehen?
"Das Leben besteht aus einer Million Augenblicken, die nichts bedeuten. Aber der Augenblick, als Darin geschrien hat - dieser Augenblick bedeutete alles. Er war eine Mutprobe. Und ich bin durchgefallen."
Auch wenn die Grundpfeiler der Handlung - ein Unrechtsregime, Prüfungen, eine Ausbildungsakademie, ein Widerstand - nichts Neues sind, kombiniert sie die Autorin geschickt mit einem orientalischen Setting, tollen Protagonisten und verbindet alles mit einem atemberaubenden Schreibstil, sodass die Geschichte bis zum Schluss hochspannend bleibt. Ganz besonders sticht dabei hervor, dass dieser Auftakt kaum unter den Schwächen eines Einführungsbandes einer Reihe leidet. Statt beim Darstellen ihrer Welt und der herrschenden Verhältnisse weit auszuholen, beschränkt sie sich auf die Schicksale zweier Protagonisten, die sich am jeweils anderen Ende der Nahrungskette befinden und wirft uns nur nach und nach kleine Bröckchen über das Imperium, die von den Martialen unterdrückten Kundigen und die Stammesmänner hin. Sabaa Tahir spielt gut mit Gegensätzen: Auf der einen Seite nehmen wir an der Ausbildung eines zukünftigen Maskenträgers und Elitesoldats teil, der eine Chance auf den Posten des Imperators hat, auf der anderen Seite bekommen wir durch Laia einen Einblick in das Leben der Sklaven, Unterdrückten, Verfolgten und Widerständler.
"Dieses Leben ist nicht immer das, wofür wir es halten", sagt Cain. "Du bist wie die Glut in der Asche, Elias Venturius. Du wirst funkeln und brennen, plündern und zerstören. Du kannst es nicht ändern. Du kannst es nicht aufhalten."
Dabei lässt sich die Autorin recht viel Zeit und vor allem bis sich die beiden Handlungsstränge zum ersten Mal treffen vergehen ein paar Seiten. Böse Zungen schimpfen die Geschichte langatmig, ich nenne sie ausführlich. Denn auch wenn wir nur in kleinen Schritten voranschreiten, sehr detailliert in die Leben der beiden Figuren blicken und sich einige Abläufe auch mal wiederholen, sind alle Szenen spannend und so atmosphärisch dicht gestaltet, dass nie Langeweile aufkommt. Mit verschiedenen handelnden Agenten, Motiven, Geheimnissen, Prophezeiungen und einigen magischen Gegenspielern ist die Geschichte außerdem so komplex und gut durchdacht, sodass man beim Lesen viele Ahnungen erhält, was noch folgen könnte, gleichzeitig aber ratlos ist, wie die Geschichte am Ende tatsächlich ausgehen wird. Wie um sicherzugehen, dass dem Leser die Story auch tatsächlich nicht überdrüssig wird, lässt Sabaa Tahir neben dem blutigen Wettkampf, der gefährlichen Spionage unter den Sklaven, und dem Widerstand gegen das dystopische Regime auch zahlreiche Fantasy-Elemente miteinfließen. Ein übermächtiger König der Dschinn, gemeine Ifrit, unsichtbare Ghule, gesichtslose Geister, verborgene magische Fähigkeiten und Zukunftsvisionen der Auguren - auch wenn dem Leser noch nicht ganz klar wird, wie all das zusammenhängt, ergänzen diese Elemente das Abbild der realen Gewalt in der Welt um eine mystische Komponente.
„Die Kommandantin lässt den Arm sinken und der Hof verstummt. Ich sehe den Fahnenflüchtigen Atmen. Ein. Aus. Und dann nichts mehr. Doch niemand jubelt. Der Tag bricht an, die Sonnenstrahlen tasten sich wie blutige Finger den Himmel über dem ebenholzschwarzen Glockenturm von Schwarzkliff entlang und hüllen jeden auf dem Hof in entsetzliches Rot.“
Und das ist auch dringend erforderlich, denn trotz dass wir es hier mit einem ausgeschriebenen Jugendbuch ab 14 Jahren zu tun haben, ist die Geschichte sehr düster, oftmals brutal und absolut schonungslos. Trotz der Ansiedlung des Settings im Orient kommt nur schwer ein Tausend-und-eine-Nacht-Feeling auf, dennoch war ich von der ersten Seite an fasziniert von dieser grausamen Welt, in der man verzweifelt nach einem Fünkchen Hoffnung sucht. Im Vorwort schreibt die Autorin, dass diese Geschichte von tatsächlichen Vorkommnissen inspiriert wurde, die sie als Auslandsredakteurin der Washington Post lesen musste. Neben großen Konstrukten wie Unterdrückung, Rassismus und Imperialismus, ist auch die Gewalt auf konkreterer Ebene kaum auszuhalten. Auspeitschungen, Folter, Angst, Verzweiflung, Hass - dies ist der Stoff, aus der diese Geschichte gemacht ist. Dass die Autorin einen sehr eindrücklichen, plastischen Schreibstil hat, ist in dieser Hinsicht für den sensiblen Leser mehr Fluch als Segen. Da ist es dann eine willkommene Abwechslung, wenn sie statt einer Hinrichtung schillernde Sonnenaufgänge, bunte Märkte oder wilde Feste beschreibt und regelrecht die einstmals blühende Stadt Serra in die Wüste malt.
"Laia, du bist voller Leben. Voller Leben und Dunkelheit und Stärke und Geist. Wie sehen dich in unseren Träumen. Du wirst brennen, denn du bist wie Glut in der Asche. Dies ist dein Schicksal."
Sehr gelungen sind auch die Protagonisten Elias und Laia, deren Innenleben wir durch viele unterschwellige Gefühle und einfühlsame Charakterisierungen kennenlernen. Toll ist aber nicht nur, dass die beiden vielschichtigen Sympathieträger in einem Meer aus verabscheuenswürdigen Antagonisten sind - auch ihre Entwicklung über die 528 Seiten kann sich sehen lassen. War Laia anfangs noch schwach, ängstlich und unauffällig, wird sie durch all das Leid, die Angst und Ungewissheit, die sie erfährt, zu einer selbstbewussten und starken jungen Frau, die es versteht zu kämpfen und unsere Herzen zu bewegen. Auch wenn sie nicht so mutig ist, wie ihre Mutter und nicht so besonnen ist, wie ihr Vater, die beide den Widerstand angeführt haben und dann verraten wurden, brennt in ihr ein Feuer, dass auch der feurige Rebell Kinan und der Krieger Elias nicht übersehen...
"Stets siegreich." Wir sagen es aus einem Mund, und Großvater nickt zur Bestätigung, während ich versuche, meine Ungeduld für mich zu behalten. Noch mehr Kampf. Noch mehr Gewalt. Alles, was ich mir wünsche, ist, dem Imperium zu entkommen. Wahre Freiheit - für Leib und Seele. Das ist es, wofür ich kämpfe, erinnere ich mich. Nicht Herrschaft. Nicht Macht. Sondern Freiheit."
Elias verkörpert zu Beginn eigentlich alles, was Laia zu hassen gelernt hat: die Masken, das Imperium und als Sohn der Kommandantin auch das Haus Venturius. Schon auf den ersten Seiten aus seiner Sicht wird jedoch klar, dass er sich in der Angst um seine Seele, seine Menschlichkeit und dem Abscheu gegenüber dem, was er als Maske repräsentiert, von den anderen unterscheidet. Sein unbändiger Wunsch nach Freiheit, seine Angst vor seiner Zukunft und sein Ringen um inneren Frieden machen ihn zu einem weitaus vielschichtigeren Protagonisten, als ich das von männlichen Love Interests in Jugendbüchern gewohnt bin. An seiner Seite stehen eine Handvoll über die Jahre in Schwarzkliff gewonnener Freunde und insbesondere Helena, die die einzige weibliche Maske außer seiner Mutter darstellt, deckt ihm zuverlässig den Rücken. Als er jedoch beginnt umzudenken, ist Helena zunehmend zwischen ihrer Loyalität, Freundschaft und Liebe zu Elias und ihrer Verantwortung gegenüber dem Imperium hin und her gerissen.
„Das Schlachtfeld ist mein Tempel. Ich skandiere im Stillen einen Spruch, den mir mein Großvater an dem Tag beigebracht hat, an dem wir uns kennengelernt haben; ich war sechs Jahre alt, und er pochte darauf, dass dieser Spruch die Sinne ebenso schärft wie ein Wetzstein eine Klinge. Die Klinge ist mein Priester. Der Todestanz ist mein Gebet. Der Todesstoß ist meine Erlösung."
Auch wenn ich die Nebenfiguren wie Helena, Kinan, Elias Freunde´ oder Laias Mitsklavinnen Izzi und Köchin sehr mochte, waren es mir doch entschieden zu viele Liebesdreiecke. Kinan, Laia, Elias, Helena - die vier bilden bald ein Liebesviereck, bei dem ich ab und an ein wenig die Augen verdrehen musste. Dennoch sind die zarten, sehr zurückhaltenden Liebesgeschichten, die sich im Hintergrund andeuten, eine gute Ablenkung vom vielen Leiden der liebgewonnen Protagonisten. Angesichts der vielen Gewalt, die alle beteiligten angesichts hassenswerter Protagonisten wie Marcus oder der Kommandantin ausgesetzt sind, wollte ich sie oft einfach in den Arm nehmen und ihnen versprechen, dass alles gut werden wird. Am Ende wird zwar nicht alles gut, aber immerhin kann ich gleich mit dem bereitliegenden zweiten Teil weiterlesen und bin nun gespannt, wie es Elias und Laia in der Fortsetzung ergehen wird.
"Meine Seele ist tot, er sieht weg. "Ich habe sie gestern auf diesem Schlachtfeld umgebracht."
"Es gibt zwei Arten von Schuld", sage ich leise. "Die Schuld, die eine Last ist, und die, die dir ein Ziel schenkt. Deine Schuld soll dein Antrieb sein. Sie soll dich daran erinnern, wer du sein willst. Zieh eine Grenze in deinem Kopf. Überschreite sie nie wieder. Du hast eine Seele. Sie hat Schaden genommen, aber sie ist immer noch da. Lass nicht zu, dass sie sie dir nehmen, Elias."
Fazit:
Sabaa Tahir kombiniert typische Dystopie-Aspekte mit einem orientalischen Setting, starken Protagonisten und mystischen Fantasy-Motiven und verbindet alles mit einem atemberaubenden Schreibstil. "Elias und Laia" ist mehr Epos als Dystopie - mitreißend, düster, schonungslos und spannend bis zum Schluss!