Vom Verlieren und Finden
Das Fundbüro der verlorenen Träume„… manchmal … stehe ich nur da … und blicke auf die Reihen über Reihen des Verlustes.“ (S. 7) Dot ist Anfang 30 und arbeitet im Londoner Fundbüro. Sie ist stets die erste, die kommt und die letzte, die ...
„… manchmal … stehe ich nur da … und blicke auf die Reihen über Reihen des Verlustes.“ (S. 7) Dot ist Anfang 30 und arbeitet im Londoner Fundbüro. Sie ist stets die erste, die kommt und die letzte, die geht. Ihr ist bewusst, dass sie sich seit der Schulzeit kaum verändert hat – sie trägt immer noch eine Art Uniform, die inzwischen schon ziemlich abgetragen ist, und macht sich dieselben Pausenbrote wie früher. Man fragt sich beim Lesen permanent: Ist sie in der Zeit stehengeblieben, oder ist die Zeit für sie stehengeblieben? Dot liebt die Ordnung der Dinge im Fundbüro, dass alles seinen Platz hat und mit einem dijonsenffarbenen Anhänger gekennzeichnet ist. Sie braucht diese Struktur im Leben, denn nach dem Tod ihres Vaters, dem sie sehr nah stand, hat sie den Halt verloren. Eigentlich hatte sie große Pläne und war auf dem besten Weg, diese auch zu verwirklichen, doch dann passierte „es“.
Ihre größte Freude ist es, wenn sie einem Kunden einen verlorenen Gegenstand wiedergeben kann. Eines Tages kommt ein älterer Herr und sucht eine kleine Reisetasche, in der sich das Portemonnaie seiner verstorbenen Frau befindet. Dieser Fall lässt Dot nicht mehr los, sie will die Tasche um jeden Preis finden, denn es sind „… Gegenstände, die Erinnerungen bewahren, Momente, Spuren eines gelebten Lebens. Portale, die wir in Händen halten können, die uns zurückbringen zu denen, die wir verloren haben, und sei es nur für einen Moment.“ (S. 301)
„Das Fundbüro der verlorenen Träume“ ist kein fröhliches oder leichtes Buch, auch wenn es in sich die zarte Hoffnung auf Veränderung und die Verarbeitung unserer Verluste trägt. Es ist sehr philosophisch und tiefgründig, voller überraschender Geheimnisse, gefühlvoll und macht (mich) stellenweise auch sehr traurig.
Dot kennt den Schmerz, den Verluste auslösen, gibt sich ganz oft die Schuld für Dinge, für die sie nichts kann. Dann hat sie das Gefühl, das Leid der ganzen Welt auf ihren Schultern tragen, dass die Schuld sie niederdrückt. „Denn ich kenne mich aus mit Verlust. Ich kenne seine Gestalt, seine Schwächen, seine Ecken und scharfen Kanten. Ich habe seine Koordinaten gespürt.“ (S. 12) Sie ist dabei, die Fehler ihrer Mutter zu wiederholen und sich selbst – ihre eigene Identität – zu verlieren, wenn auch aus einem anderen Grund. Die Suche nach der verlorenen Tasche wird zur Suche nach Antworten auf nie gestellte Fragen, nach tiefvergrabenen Familiengeheimnissen und einer hoffnungsvollen Zukunft.
Helen Frances Paris regt mit ihrem Buch zum Nachdenken an – welche Träume haben wir, welchen haben wir schon verloren und welche können wir uns noch verwirklichen. Für mich ist es ein Herzensbuch.