Ich fand es zunächst sehr interessant, dass die beiden Autorinnen, die Kapitel unter einander aufgeteilt haben und das auch so in ihrem Vorwort offenlegen. Luitgard Marschall ist Wissenschaftshistorikerin, die sich mit Medizin, Nachhaltigkeit und Umwelt beschäftigt. Christine Wolfrum dagegen arbeitet als Wissenschaftsjournalistin und Autorin, maßgeblich für Bücher über Frauengesundheit, Psychologie und Sexualität. Ahnung haben sie also beide auf einer professionellen Ebene. Das merkt man dem Buch auch an. Trotz dem Wort „kritischer“ im Untertitel, bleiben die Argumente sachlich.
Teilweise aber auch so sachlich, dass ich das Gefühl hatte, hier wird gesagt: Diese Untersuchungen sind sinnvoll, diese nicht. Das war mir zu pauschalisierend. Sehr gut ist, dass echte Zahlen genannt werden. Oft gehen die beim Arzt unter. Nun sind Menschen mehr als Zahlen. Natürlich ist es schwer, da einen Mittelweg zu finden. Das Buch versucht das mit Fallbeispielen, Zitaten, echten Menschen zu unterstützen. Natürlich verzerrt es etwas, wenn gerade die Beispiele gezeigt werden, in denen das ein oder andere nicht funktioniert hat. Aber im Grunde geht es doch genau darum. Was funktioniert da nicht in unserem Gesundheitssystem?
Den Aufbau des Buches fand ich etwas seltsam gewählt. Nach einem eher allgemeinen Überblick, wie Frauen und Gesundheit gesellschaftlich verknüpft werden, springt Das übertherapierte Geschlecht direkt zu Schwangerschaft und den damit verbundenen IGeL – Leistungen, die die Patientin aus eigener Tasche bezahlt. Später erst kommt dann ein Kapitel zur Pille, zu Depressionen oder Schönheitsoperationen. Nun ist die Versorgung einer Schwangeren natürlich ein Fall für sich und es gibt einfach kein Äquivalent bei der männlichen medizinischen Versorgung. Dennoch gewinnt es natürlich an Bedeutung, gerade diesen Punkt an den Anfang zu stellen.
Und auch wenn das Buch explizit Frauenmedizin betrachtet, hätte ich es interessant gefunden, ob diese „Überversorgung“ erst mit Einsetzen der Geschlechtsreife und der Verordnung der Pille beginnt. Soviel ich weiß, sind im Kleinkind- und Kindesalter Jungs eher anfällig, öfter krank und dementsprechend auch öfter therapiert. Auch die „jungenhafte“ Wildheit wird doch gerne als Aufmerksamkeitsstörung dahingestellt. Dass das Buch so kontaktlos zu den anderen Bereichen medizinischer Versorgung da steht, fand ich sehr schade. Denn so wirkt es wir „Nur die Frauen sind überversorgt, oh weh, oh weh“ und das liefert ein falsches Bild.
Sehr gut war dagegen die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema in den einzelnen Kapiteln. Gerade durch die Fakten, Statistiken, gepaart mit Fallbeispielen wurde ein rundes Bild erzeugt. Unterteilt in große Kapitel wie „Hormone“, „Wechseljahre“ „Depression“ oder auch „Gebärmutterentfernung“ geht das Buch die großen Themen an, die zwangsläufig im Leben einer Frau stattfinden. Auch hier aber finde ich keine Ordnung, an der sich die Themen entlanghangeln. Da hat mir etwas gefehlt. Inhaltlich aber finde ich es erstaunlich, ausgezeichnet recherchiert und geradezu grotesk. Interviews und Gesprächsaufzeichnungen werden mitgeliefert und zeigen sehr gut: Die Medizin ist ein Wirtschaftsbetrieb. Und wenn die Nachfrage nicht von selbst kommt, werden eben Strategien aufgefahren, sie zu erzeugen.
Dabei kommt aber leicht das Gefühl auf, Frauen hätten gar keine andere Wahl, der Arzt wird zum nicht informierenden Arbeiter. Es geht auch anders.
In anderen Fällen, wie der Mammografie, war ich noch völlig naiv – einfach auch, weil ich mich mit dem Thema noch nie ausführlich befasst habe. Und da war Das übertherapierte Geschlecht wirklich sehr spannend aus meiner Perspektive.
Kritisieren muss ich aber noch, dass auf nicht ärztlich verordnete Medikamente nur sehr gering eingegangen wurde. Wie ist es mit Nahrungsergänzungsmitteln, die teilweise schon von Schülerinnen wegen irgendwelcher seidigen Haare oder fester Nägel genommen werden? Mit dem Markt an Abnehmhelfern? Ich hätte es interessant gefunden, wenn das Buch auch da auf Werbestrategien eingeht, die Doktor Liebling anpreisen oder sagen, das Mütter nicht krank werden (dürfen). Gerade hier läuft sehr viel innerhalb der Wahrnehmung von Medizin oder „Ergänzungen“ für Frauen, was ich als wichtiges Thema erachte und das fehlt einfach.
Und weil das alles so nach Meckerei anhört: Ich finde Das übertherapierte Geschlecht sehr lesenswert, weil es aufklärt und wenig meckert. Es empfiehlt weder einen Weg, noch rät es von medizinischer Versorgung ab, sondern liefert vor allem Fakten, gepaart mit Einzelberichten, die ein sehr rundes Bild liefern und das bewirken, was sie sollen: Frauen zum Nachdenken anregen, ob diese oder jene Untersuchung, Operation, Medikation wirklich nötig ist. Sehr gefreut hat mich auch, dass in den entsprechenden Kategorien wie beispielsweise bei der Depression auch auf das Problem eingegangen wird, dass Männer ihre Depression anders ausleben „müssen“, da ihnen das von der Gesellschaft regelrecht diktiert wird. Depressionen bei Männern sind genauso häufig, werden aber seltener diagnostiziert und wahrgenommen. Ein großes Problem, denn die Selbstmordrate aufgrund von Depression ist bei diesen untherapierten Männern umso größer. Dieser Ausgleich in einem Buch über Frauenmedizin fand ich hier angebracht, sehr gelungen und wichtig.