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Veröffentlicht am 23.03.2022

Eine ausdrucksstarke, magische Geschichte von zeitloser Schönheit

Das unsichtbare Leben der Addie LaRue
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Victoria Schwab ist eine der Autorinnen, die ich schon seit einigen Jahren abwartend umkreise, entschlossen, dass ich ein Buch von ihr lesen möchte, aber unentschlossen, welches und wann. Eine lesebegeisterte ...

Victoria Schwab ist eine der Autorinnen, die ich schon seit einigen Jahren abwartend umkreise, entschlossen, dass ich ein Buch von ihr lesen möchte, aber unentschlossen, welches und wann. Eine lesebegeisterte Freundin hat mir die Entscheidung dann schlussendlich abgenommen, als sie mich beinahe dazu genötigt hat "Das unsichtbare Leben der Addie LaRue" auszuleihen. In der letzten Woche habe ich die Geschichte nun gemeinsam mit Sofia von Sofias @SofiasworldofBooks in einem Buddyread gelesen und bin nach dem Beenden nun schon seit mehreren Stunden in einer seltsamen Stimmung irgendwo zwischen Begeisterung, Melancholie, Weltschmerz und Leere gefangen (I think that´s called a book hangover...), welche jetzt dringend raus muss:


"Addie räuspert sich. "So fängt die Geschichte an." Und er beginnt zu schreiben."


Doch beginnen wir mal mit dem Cover. Auch wenn ich die schlichte englische Originalversion mit dem goldenen Sternbild für passender halte, finde ich die Umsetzung des Fischer Verlags atmosphärisch und einfach wunderschön. Zu sehen ist eine an ein Stundenglas erinnernde Glaskugel, die von goldenen Ornamenten gestützt in einem düsteren, magischen Wald steht. Durch die verzerrte Perspektive des Glases ist eine Gestalt in einem langen grünen Mantel zu sehen, die sich vom Betrachter abgewandt auf ein Licht zubewegt. Auch wenn man viele dieser Elemente erst versteht, wenn man die Geschichte gelesen hat, hat dieses Cover eine geheimnisvolle Anziehungskraft, die der der Geschichte stark ähnelt.


"Die alten Götter mögen groß sein, aber sie sind weder freundlich noch barmherzig, sondern launisch und unbeständig wie Mondlicht auf Wasser oder wie Schatten in einem Sturm. Wenn du sie anrufen willst, gib acht: Überlege genau, worum du bittest, und sei bereit den Preis zu zahlen. Und ganz gleich, wie verzweifelt du bist, bete niemals zu den Göttern, die nach Einbruch der Nacht antworten."


Mit dieser Warnung beginnt eine ausdrucksstarke, magische Geschichte von zeitloser Schönheit, die mich von der Grundidee her zunächst an Goethes "Faust" und Claire Norths "The Sudden Appearance of Hope" erinnerte. In ersterem wird ebenfalls ein Pakt mit einem dunklen Gott geschlossen, welcher zu einem turbulenten Leben voller Höhen und Tiefen führt und in letzterem wird eine von der Welt vergessene junge Frau zur Diebin. Ganz dem Titel folgend stellt V.E. Schwab jedoch weder den Teufelspakt noch die diebische Lebensweise der Protagonistin in den Vordergrund, sondern erzählt von einem unsichtbaren Leben, welches die Leerstellen in der (Kunst-)Geschichte Europas füllt. Dazu ist die Geschichte in sieben Teile eingeteilt (eines für jede Sommersprosse auf Addies Gesicht), welche jeweils mit einem Kurzportrait eines Kunstwerks beginnen, welches Addie auf ihrem Weg durch die Zeit inspiriert oder beeinflusst hat. Die sieben vorgestellten Kunstwerke sind dabei frei erfunden, aber wahrheitsgetreu den Stilrichtungen in den unterschiedlichen Zeiten nachempfunden. Dabei hat der Autorin nach eigener Angabe ihr Kunstgeschichtsstudium sehr geholfen.


"Ich kann keinen Stift führen. Keine Geschichte erzählen. Keine Waffe schwingen oder Erinnerungen hinterlassen. Aber in der Kunst", fährt sie mit einem etwas weniger strahlenden Lächeln fort, "geht es um Ideen. Und Ideen sind hartnäckiger als Erinnerungen. Sie sind wie Unkraut, das immer den Weg ans Licht findet."


Neben den Kunstwerken wird die Geschichte durch zwei Erzählstränge auf zwei Zeitebenen strukturiert. Auf der einen Seite lesen wir, wie Addie in New York 2014 den jungen Buchhändler Henry kennenlernt und wie diese schicksalshafte Begegnung ihr Leben verändert. Gleichzeitig verfolgen wir aber auch noch parallel einen zweiten Erzählstrang, der 1714 in Villon-sur-Sarthe in Frankreich seinen Anfang nimmt und in mehr oder weniger großen Zeitsprüngen chronologisch Addies Weg durch die Geschichte bis zum heutigen Zeitpunkt verfolgt. Besonders der 29. Juli, der Tag des Abkommens mit dem Schatten, bekommt dabei eine große Bedeutung und wird über die Jahrhunderte an unterschiedlichen Orten wiederholt. Die Geschichte lebt dabei von vielen Vorgriffen, Rückgriffen und Andeutungen, durch welche Vergangenheit und Gegenwart kunstvoll miteinander verwoben werden, ohne dass wir zu Beginn alles verstehen. Erst mit der Zeit werden die Rahmenumstände von Addies Fluch klar und wir verstehen, was sie nach New York geführt hat. Bis mich die Geschichte in ihren atmosphärischen Bann gezogen hat, sind deshalb auch einige Seiten ins Land gegangen.


"Adeline ist sechzehn, und alle sprechen von ihr wie von einer Sommerblume, die man pflückt und in eine Vase stellt, deren einziger Zweck es ist, zu blühen und dann zu verrotten. Wie Isabelle, die von einer Familie statt von Freiheit träumt. Adeline hat beschlossen, lieber ein Baum zu sein, so wie Estele. Wenn sie schon Wurzeln schlagen muss, will sie wild wuchern, statt sich zurechtstutzen zu lassen, will allein stehen und unter freiem Himmel wachsen. Und nicht als Feuerholz enden, gefällt und zerhackt, in jemandes Kamin."


Einmal gefangen, konnte ich aber nicht mehr aufhören mit Lesen. Das lag vor allem auch an V.E. Schwabs magischem Schreibstil, der langsam, schwergängig, aber so bedeutungsschwer, wie die ganze Geschichte, durch die knapp 600 Seiten führt. Der Schreibstil ist ein bedächtiger Fußmarsch in einer Welt, in der alle mit 200 Stundenkilometer über die Autobahn rasen - wer ein flottes Abenteuer erwartet, ist also definitiv fehl am Platz. Angereichert mit Metaphern, Vergleichen, wiederkehrenden Motiven und interessanten Gedanken über den Wert eines Lebens, der Liebe und der Kunst wird die gemächliche Geschichte zu einem Leseerlebnis, das man einfach nur genießen möchte! Wie sehr mich dabei einige Passagen oder kurze Fragmente erreicht haben, erkennt man auch daran, wie unheimlich viele Zitate ich mir beim Lesen markiert habe. Ich bin mir sicher, man könnte das Buch an einer beliebigen Stelle aufschlagen und würde auf der Seite ein zitierwürdiger Abschnitt finden. Ein großes Lob also auch an die beiden Übersetzerinnen, denen es gelungen ist, den Zauber des Originals zu bewahren. Meinen nächsten Reread (ja, es wird definitiv einen geben) werde ich aber in der Originalsprache angehen.


"Geschichten sind eine Form der Selbstbewahrung. Um in Erinnerung zu bleiben. Oder sich selbst zu vergessen. Geschichten besitzen viele Gestalten: in Holzkohle, und in Liedern, in Gemälden, Gedichten, Filmen. Und Büchern. Bücher sind, wie sie erfahren hat, eine Möglichkeit tausend Leben zu führen - oder in einem sehr langen Leben Kraft zu finden".


Transportiert durch den Schreibstil hat die Geschichte sehr viele unterschiedliche Gefühle in mir ausgelöst. Zunächst empfand ich Addies Fluch des Vergessens als sehr bedrückend. Für wenige Wochen wäre es denke ich sehr angenehm, sich so anonym durch die Welt bewegen zu können wie Addie, aber für einen längeren Zeitraum würde ich zugrunde gehen. Der Gedanke, keine Spuren hinterlassen, keine Beziehungen aufbauen und somit auch keinen Sinn im Leben finden zu können, hat mich tief erschüttert und mir die Entscheidung, ob ich an Addies Stelle Freiheit oder Einsamkeit wählen würde, sehr leicht gemacht. Neben der bedrückenden Vorstellung, sich für immer einsam und spurlos durch die Geschichte zu bewegen wie ein Geist, gingen mir auch einige sehr plastische Schilderungen des Leids, das eine einsame, mittellose und von der Welt vergessene Frau in der grausamen Männerwelt des 18. Jahrhunderts durchmachen muss, sehr nahe. Neben der Schwermut und dem Leid schwebt da zwischen den Zeilen aber auch ein intensiver Hunger nach Leben, eine Begeisterung für das Entdecken von Neuem und das dringliche Gespür für ablaufende Zeit mit, welche mich zugleich angenehm belebt und in Unruhe versetzt, sowie in mir einen sehr starken Lebensdrang ausgelöst haben.


"Vergessen zu werden, denkt sie, ist ein bisschen wie verrückt zu werden. Man beginnt sich zu fragen, was real ist, ob man selbst real ist. Wie kann etwas real sein, wenn sich niemand daran erinnert?"


Auch die Art und Weise, wie hier geschichtliche Ereignisse betrachtet werden, gefällt mir gut. V. E. Schwab erzählt nicht von bunten Abenteuern, Aufeinandertreffen mit schillernden historischen Persönlichkeiten, langen Weltreisen oder anderen Beifall heischenden Fantastereien, wie man sie hier vielleicht erwarten könnte. Stattdessen erzählt sie von einem realistischen Leben, von einer Frau, die sich jeden Schritt hart erarbeiten muss, von nostalgischer Rückkehr zum Heimatort und von vorsichtigen Schritten auf neuem Boden. Geschichtliche Ereignisse sind weniger der Mittelpunkt und mehr der grobe Rahmen dieser charakterzentrierten Erzählung. Im Fokus der Geschichte steht einzig und allein Addie LaRue. Durch die zweigeteilte Erzählweise lernen wir sie zum einen als erfahrene, weltgewandte, durch die Jahrhunderte aber auch abgestumpfte Frau kennen, zum anderen sehen wir ein junges Mädchen mit naiven Träumen, das noch einen weiten Weg vor sich hat. Erst mit zunehmender Seitenzahl verstehen wir gänzlich, was sie von dem einen zum anderen werden lassen hat, was sie auf dem Weg verloren und was dazugewonnen hat. Dabei ist sie mir von Seite zu Seite stärker ans Herz gewachsen. Ihr Hunger auf die Welt, der sie auch nach 300 Jahre und darüber hinaus Dinge finden lässt, an denen sie sich erfreuen kann. Ihre Sturheit und Entschlossenheit, sich weder vom Schatten noch von der Einsamkeit noch der Last der Jahre unterkriegen zu lassen. Und ihre Träume, die zu Ideen, die zu Inspiration, Kunst und Spuren werden - Fest steht, dass ich selten eine so vielschichtige und bewundernswert starke Figur kennengelernt habe!


"An manchen Tagen graut ihr vor der Aussicht auf ein weiteres Jahr, eine weitere Dekade, ein weiteres Jahrhundert. In manchen Nächten liegt sie wach und träumt davon, sterben zu können. Aber dann erwacht sie und sieht das Orangenrosa der Morgendämmerung auf den Wolken oder hört die seufzenden Klänge einer Geige, die Musik und die Melodie, und ihr wird wieder bewusst, wie viel Schönheit es in der Welt gibt. Und sie will nichts davon entbehren."


Neben Addies Entwicklung erzählt "Das unsichtbare Leben der Addie LaRue" auch in zweierlei Hinsicht eine tragische Liebesgeschichte. Zunächst ist da Henry - ein sensibler, manisch-depressiver Buchhändler mit Künstlerseele, welcher im Vergleich zu anderen Liebschaften und vor allem zum Schatten eher blass bleibt, auch wenn er in einigen Kapiteln sogar selbst erzählen darf. Zwischen Addie und Henry mag sich die Liebe nie so recht entfalten, obwohl sich beide aufgrund ihrer wohltuenden Ruhepause von ihren Flüchen zueinander hingezogen fühlen. Bis zum Ende wirken die beiden zwar zufrieden, gar glücklich, aber mehr wie eine freundschaftliche Zweckgemeinschaft als ein wirkliches Paar. Mit dem Schatten, dem Addie den Namen Luc gibt, ist es genau umgekehrt. Mit ihm verbindet sie Leidenschaft, tiefe Gefühle und eine jahrhundertlange Geschichte, ihre Beziehung ist aber vergiftet von ihrem Katz-und-Mausspiel, sodass keiner jemals Ruhe im jeweils anderen finden kann. Letzten Endes wird Addie durch beide Beziehungen geprägt, letztere ist es aber, die die Spannung anheizt und die Handlung voranbringt. Das liegt vor allem daran, dass der Schatten ein sehr interessant gestalteter Charakter ist, der wirkt, als hätte sich die Autorin bis zum Schluss nicht entscheiden können, ob der Schatten nun ein Monster oder ein Liebender ist, oder ob das vielleicht dasselbe bedeuten kann...


"Luc blickt über die Schultern, lächelt fast und dreht sich nur so weit zu ihr um, dass er ihr die Hand reichen kann. Sie stolpert aus der Zelle, in die Freiheit, an seinen Körper. Und einen Moment lang ist da nur seine Umarmung, und er ist massiv und warm, ein Wall gegen die Dunkelheit, und es wäre einfach zu glauben, dass er real ist, ein Mensch ist und ihr Zuhause. Aber dann klafft ein Riss in der Welt auf, und die Schatten verschlingen sie."


Auch wenn die beiden Liebesgeschichten also gegensätzlich erscheinen, haben sie drei Dinge gemeinsam. Erstens ist die Erotik sexy und stilvoll umgesetzt, ohne dass explizite Szenen vorkommen würden. Zweitens gefällt mir sehr gut, dass hier fast alle auftauchenden Figuren queer sind und auch die sonstige Diversität sehr selbstverständlich erscheint (Sofia und ich haben da ein bisschen drüber nachgedacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass Geschlechterkategorien wohl keine Rolle spielen, wenn man so lange lebt und nicht Teil der Gesellschaft ist...). Und drittens ist bei beiden Liebesgeschichten von Beginn an klar, dass sie kein gutes Ende nehmen können. Ich habe beim Lesen lange überlegt, welches Ende es für Addie, Henry und Luc geben kann, hatte Angst vor dem Ergebnis und wollte fast nicht beim letzten Kapitel ankommen. Meine Sorge war jedoch unbegründet: was sich die Autorin für den Abschluss ihrer Geschichte überlegt hat ist einfach PERFEKT! Es ist kein Happy End im eigentlichen Sinne, aber auch nicht wirklich Unhappy - einfach ein perfektes, ausgewogenes Chaos zwischen den beiden Polen, welches auch vom Leben hätte geschrieben werden können!

Zum Abschluss noch mein Lieblingszitat (die übrigen tollen Zitate findet ihr gesammelt auf meinem Blog):


"Ihr Leben sei schwer und einsam gewesen, sagt sie, und trotzdem wunderbar. Sie habe Kriege durchlebt und Revolutionen und Wiedergeburten. Sie habe ihre Spur in zahllosen Kunstwerken hinterlassen, wie einen Daumenabdruck auf dem Boden einer Schüssel. Sie habe Wunder erlebt, den Verstand verloren, auf Schneewehen getanzt und sei am Ufer der Seine erfroren. Sie habe sich viele Male in den Schatten verliebt, aber nur einmal in einen Menschen. Und sie sei müde. Unsäglich müde. Aber ganz zweifellos habe sie gelebt. "Nichts ist nur gut oder schlecht", sagt sie. "Dazu ist das Leben viel zu kompliziert." Und dort in der Dunkelheit fragt er sie, ob es das wirklich wert gewesen sei. Wogen die Momente des Glücks die langen Phasen des Kummers auf? Wogen die Momente der Schönheit die Jahre des Leidens auf? Und sie dreht den Kopf, sieht ihn an und antwortet: "Immer."



Fazit:


"Das unsichtbare Leben der Addie LaRue" ist eine ausdrucksstarke, magische Geschichte von zeitloser Schönheit, welche vom atmosphärischen Schreibstil V.E. Schwabs, einer starken Hauptfigur, zwei tragischen Liebesgeschichten und interessanten Gedanken über den Wert eines Lebens, der Liebe und der Kunst lebt. Absolutes Jahreshighlight!

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Veröffentlicht am 10.03.2022

Ein erschreckend reales Drogendrama!

Roxy
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Genau wie schon der Apokalypse-Thriller "Dry" ist "Roxy" wieder als Gemeinschaftsprojekt von Neal und dessen Sohn Jarrod Shusterman entstanden. Neal Shusterman ist in den letzten Jahren mit seinen beiden ...

Genau wie schon der Apokalypse-Thriller "Dry" ist "Roxy" wieder als Gemeinschaftsprojekt von Neal und dessen Sohn Jarrod Shusterman entstanden. Neal Shusterman ist in den letzten Jahren mit seinen beiden Reihen "Vollendet" und "Scythe" sowie dem Sozialthriller "Game Changer" in meine persönliche Hall-of-Fame eingezogen und hat bewiesen, dass er ein absoluter Meister in Sachen Dystopien für junge Erwachsene ist. Kein Wunder also, dass ich nach dem Lesen des Klapptextes annahm, dass es sich auch bei "Roxy" um eine Science-Fiction-Geschichte handelt, in denen im Labor gezüchtete Menschen drogengleich ihre Opfer verführen. Diesen Eindruck unterstreicht auch das schillernde, futuristische Cover, auf dem sich eine künstliche, in blau-violettes Licht getauchte Frauenfigur mit kinnlangen Haaren und metallischer Haut von einem schwarz-glänzenden Hintergrund abhebt. Auf ihrem ausgestreckten Finger steht die Silhouette eines Mannes, der in den schwarzen Abgrund blickt, während eine Frau mit wehenden Haaren auf ihn zuläuft.


Erste Sätze: "Ich bin kein Superheld. Aber ich kann dich vor denjenigen retten, die das von sich behaupten. Ich bin kein Zauberer. Aber ich habe die Macht, die Toten wieder aufstehen zu lassen. Manchmal zumindest. Und nie oft genug."


Schon nach wenigen Sätzen landete ich dann aber hart auf dem Boden der Tatsachen und erkannte, dass Cover, Klapptext und meine Vorerfahrung mit dem Autor mich auf eine falsche Fährte geführt haben. Denn statt eines futuristischen Fantasy-Thrillers erzählen die beiden Shustermans hier von einem erschreckend realen Drogendrama, dessen fantastischer Zusatz eher metaphorisch verstanden werden kann. Die Grundidee ist dabei so simpel wie originell: um der Entstehung einer Sucht auf den Grund zu gehen erwecken die beiden Autoren hier die bekanntesten Drogen zum Leben und lassen sie als gottähnliche Persönlichkeiten mit eigenen Interessen, Plänen und Eigenschaften, also als handelnde Figuren in der Geschichte auftreten. Jede der vorgestellten chemischen Substanzen hat dabei einen Namen und eine fest zugeteilte Aufgabe, die diese jedoch nicht alle ernst nehmen. Statt sich auf den Bereich zu konzentrieren, für diesen sie im Labor erschaffen wurden, haben es sich manche Drogen zum Ziel gemacht, Menschen zu verführen, ihre Opfer an höhergestellte Drogen weiterzureichen oder bis in den Tod zu begleiten.


Roxy: "Wir sind die Schrittmacher und im Augenblick bin ich diejenige, die den Takt angibt Es gibt keine bessere Zeit, um ich selbst zu sein."


Diese Personalisierung von chemischen Substanzen scheint zunächst befremdlich, funktioniert aber bei näherem Hinsehen ganz wunderbar, ohne Drogen allgemein zu dämonisieren oder die Eigenverantwortung der Menschen herunterzuspielen. Es bleibt zu jedem Zeitpunkt klar, dass es im Endeffekt die Menschen sind, die die Substanzen zu sich einladen, ihnen die Tür öffnen und Entscheidungen treffen, die sie deren Verführungen aussetzen. Dennoch wird auf sehr eindrückliche Art und Weise verdeutlicht, wie tückisch und verführerisch Drogen wirken, welche sozialen Faktoren bei der Entstehung einer Sucht eine Rolle spielen und welch verheerende Wirkung sie auf das menschliche Denken und Verhalten haben können.


Isaac: "Sein Fuß braucht die Tabletten nicht mehr, aber der Rest von ihm. Und dieser Rest wird nicht aufhören, ihm das vor Augen zu halten. Die roten Lichter des Krankenwagens blitzen auf seinem Gesicht auf, während die Alarmglocken in seinem Kopf schrillen. Denn das Leben, das er sich so sorgfältig aufgebaut hatte, ist komplett vom Kurs abgekommen und driftet in eine völlig unbekannte Richtung."


Die beiden Autoren nutzen dabei bildhafte Metaphern und generieren zusätzlich zu ihren vermenschlichten Drogen eine schillernde Parallelwelt, sodass die Grenze zwischen Realität und Fantasie an vielen Stellen stark verschwimmt. So wird die einsetzende Wirkung einer Substanz zu einem goldenen Fahrstuhl, der Drogentrip zu einer strahlenden Party in der Lounge über den Wolken und die Süchtige selbst zum "Plus-Eins" der dort wie Götter lebenden Drogen. Wenn der Trip ihrer Zielpersonen zu entgleisen droht, nehmen die Drogen ihn oder sie mit in die "VIP-Lounge", aus welcher es nur selten eine Wiederkehr gibt. Eine Figur kann also gleichzeitig weggetreten in einem verlassenen Crackhaus auf einer gammligen Matratze liegen und auf der "Party" um sein Leben tanzen. Diese teilweise verwirrende Überlappungen von Ort, Zeit und Wirklichkeit spiegeln die Wirkung der Drogen auf interessante und treffende Art und Weise wider.


Roxy: "Ich wandele wie benommen durch die Party und merke, dass die Ausgelassenheit in den Hintergrund tritt und ich stattdessen sehe, was unsere menschlichen Opfer sehen: Crack-Häuser und Hinterhöfe. Einsame Zimmer und Toilettenkabinen, Orte, an denen sie mit uns verkehren. Diese Szenen sind immer präsent, doch es ist so leicht, sie unsichtbar zu machen, wenn man sich auf die Party konzentriert. Wer sieht den Schmutz auf der Fensterscheibe, wenn dahinter eine derart spektakuläre Aussicht liegt?"


Organisiert sind die Drogen in Familienclans, welche den großen Klassen der Pharmazie entsprechen - Halluzinogene, Schmerzmittel und Aufputschmittel - und in den vorderen Leselaschen graphisch dargestellt sind. Diese Übersicht über die "Familienclans der Drogen" ist auch dringend notwendig, um durchgängig zu verstehen, welche Droge hinter welcher Person steckt und zu welcher Klasse gehört. Zwar sind manche Namen wie "Al" (Alkohol), Mary Jane (Marihuana), Molly (MDMA) oder Crys (Crystal Meth) recht selbsterklärend, bei anderen wie zum Beispiel "´Lude" (Methaqualon), "Phineas" (Morphium) oder "Charly und Dusty" (Kokain) braucht man aber ein bisschen Hilfe, um am Ball zu bleiben. Besonders im Vordergrund der Geschichte stehen dabei "Roxy" (Oxycodon, ein Schmerzmittel aus der Klasse der Opioide) und "Addison" (Adderall, ein Aufputschmittel, das bei ADHS verschrieben wird), welche mit einer Wette die Rahmenhandlung der Geschichte definieren: Aus dem Wunsch nach Größe und Anerkennung ihrer jeweiligen "Vorgesetzten" möchten beide beweisen, wie tödlich sie sein können und wetten deshalb, dass sie einen Menschen ganz ohne Hilfe stärkerer Substanzen in den Ruin treiben können.


Addison: "Lass uns zusammen rausgehen und der Welt in den Arsch treten." Ivy öffnet die Augen, resigniert, regeneriert. Sie schnappt sich ihren Rucksack und eilt nach unten, um sich fertig zu machen. Ich muss einfach bewundern, was sie für einen starken Willen hat. Aber meiner ist stärker."


Als Opfer haben sich die beiden die Geschwister Ivy und Isaac Ramey ausgesucht. Durch diese Wette und den Prolog, in dem wir aus der Sicht des Opiod-Antagonisten Naloxon (ein Notfallmedikament, das von Rettungskräften bei einer akuten Vergiftung oder Überdosis eingesetzt wird) miterleben, wie ein Leichensack mit der Aufschrift "Ramey, I." aus einem verlassenen Haus getragen wird, ist also von der ersten Seite an klar, dass die Geschichte kein gutes Ende haben wird. Offen bleibt hingegen, welchen der beiden Geschwister es erwischen wird. Da die Namen der beiden Hauptprotagonisten beide mit einem "I" beginnen und ebenfalls beide im Verlauf der Geschichte in Kontakt mit unterschiedlichen Drogen kommen, kann man bis zum Ende kaum sagen, wessen Schicksal es ist, in diesem Leichensack zu enden. Die Gewissheit, dass das Ringen der beiden ein schlechtes Ende nehmen wird in Zusammenhang mit der Frage, welchen der beiden es kostet, generiert eine Spannung, die kaum auszuhalten ist und dafür sorgt, dass man weiterliest, auch wenn im Mittelteil auf der reinen Handlungsebene nicht viel passiert.


Ivy: "Das Medikament ist technisch gesehen ein Aufputschmittel, das einen entwässert und den Hunger hemmen kann. Keine große Sache. So lautet in diesen Tagen ihr Motto. In der Schule übertrifft sie sich selbst, wie könnte sie sich beschweren?"


Wohlwissend, dass ich mich auf einen dunklen Weg mit den beiden begebe, der für mindestens einen von ihnen kein gutes Ende nimmt, habe ich versucht, mich beim Lesen emotional von Ivy und Isaac zu distanzieren. Der Schreibstil der beiden Shustermans machte dieses Vorhaben aber leider unmöglich. Je mehr ich versucht habe, mich nicht zu sehr emotional mitreißen zu lassen, desto intensiver wurde ich in den Bann der Geschichte gezogen. Mit Ivy und Isaac haben wir zwei sehr vielschichte und lebensechte Figuren, die deine eigenen Nachbarn sein könnten und deren Geschichte deshalb auch sofort zugänglich und nachvollziehbar ist. Während die beiden Geschwister trotz ihrer teilweise fragwürdigen Handlungen also klare Sympathieträger sind, hat man es mit Addison und Roxy schon schwerer. Mit der Zeit konnte ich mich aber immer besser auf die Idee einlassen und in die beiden hineinfühlen. Sehr interessant fand ich, dass die Persönlichkeiten von Roxy und Isaac sowie von Ivy und Addison im Laufe der Handlung immer mehr miteinander verschmelzen. So wird dargestellt, wie der Einfluss von Drogen die Persönlichkeit verändern kann. Gleichzeitig lösen die Geschwister jedoch auch in ihren jeweiligen Drogen etwas aus. Addison können wir dabei zusehen, wie er zunehmend mit seinem Gewissen kämpft, während bei Roxy vor allem deren emotionale Beziehung zu Isaac im Vordergrund steht.


Roxy: "Wie ist es, ich zu sein? Es ist wild. Es ist frenetisch. Es ist überlebensgroß auf einer überdimensionierten Skala. Dennoch kam mir auf die Frage das Wort einsam in den Sinn, und selbst das ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Wort, das nun an dieser steht, sagt alles. Nicht erfüllend."


Bei der angedeuteten Liebesgeschichte von Roxy und Isaac werden - genau wie bei manch anderen Aspekten der Handlung (z.B. Roxys Ausflug auf das "Dach") - die Grenzen der Realität für meinen Geschmack etwas zu stark überstrapaziert. Auf diese, zwar sehr kreativen, der Dramaturgie zuträglichen Stellen, hätte ich gerne verzichten können, wenn stattdessen noch einige konkrete Informationen und eine genauere Einordnung der einzelnen Wirkstoffe vorgenommen worden wäre. Ich hatte aufgrund meines sachlichen Vorwissens keine Verständnisschwierigkeiten, kann aber schlecht einschätzen, wie die Geschichte auf LeserInnen mit weniger Vorwissen wirkt. Fest steht für mich jedoch, dass eine etwas sachlichere Herangehensweise aus meiner Sicht mehr Mehrwert gehabt hätte als die Ausführung des Familiendramas der Drogen.

Nichtdestotrotz ist "Roxy" definitiv ein lehrreiches Buch in mehrerlei Hinsicht. Neben dem verbesserten Überblick über die Klassen und Wirkweisen von Drogen werden zwei wichtige Botschaften auf sehr eingängige Art und Weise vermittelt. Als erstes räumen die beiden Autoren mit Vorurteilen über Drogensucht auf und machen klar, dass die Sucht eine heimtückische Krankheit ist, die einen in jedem Milieu, in jeder Familie und jeder Lebenssituation kalt erwischen kann. Und zweitens wird hier immer wieder betont, wie wichtig es ist, aufmerksam zu sein, die Anzeichen zu kennen und richtig zu reagieren. Um den Blickwinkel des Romans etwas zu erweitern, das Voranschreiten der Handlung jedoch nicht zu behindern, werden zwischen den einzelnen Kapiteln Intermezzos aus der Sicht von anderen Drogen, die hier nicht direkt vorkommen, deren Machenschaften jedoch alle in gewisser Weise mit der Geschichte in Verbindung stehen, eingeflochten. Zusätzlich sind zu Beginn der Kapitel durch fett gedruckte Buchstaben kleine Botschaften versteckt, was zu dieser verschachtelten, komplizierten, entrückten Geschichte wunderbar passt. Besonders hier fällt auf: Statt wie viele andere Anti-Drogen-Bücher im Rundumschlag alle Drogen als böse zu verurteilen oder ein plumpes Negativbeispiel zu liefern, versucht das Vater-Sohn-Autorenduo den Missbrauch von Drogen und verschreibungspflichtigen Medikamenten von verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. In welchen Kontexten bieten Drogen Chancen? Welche zerstörerische Abgründe tun sich jedoch auch auf? In der Logik von "Roxy" also: welche Droge ist unser Freund, welche unser Feind, welche beides? Welche verstrickt uns in toxische Romanzen...? Welche setzt ihre Macht gegen uns ein?


Ivy: "Man sagt, es könnte die CIA gewesen sein oder vielleicht die Chinesen", verkündete Tess. "Ich behaupte nicht, dass es so war; es ist nur das, was mag sagt." Es ist dasselbe namenlose man, das behauptet, Impfungen wären eine Form der Gedankenkontrolle durch die Regierung und die Welt würde heimlich von Echsenmenschen beherrscht. Für Ivy ist es bloß ein Beweis dafür, dass die Idiotie sich bester Gesundheit erfreut."


Ganz nach dem Untertitel "Ein kurzer Rausch, ein langer Schmerz" wird zwar der Drogenrausch als exklusiver Club, als schillernde Erfahrung dargestellt, die dem gegenüberstehende Düsternis und Darstellung des Schmerzes, garantiert jedoch ausreichend, dass man beim Lesen mehr abgeschreckt als fasziniert wird. Emotional hat die Geschichte bei mir beim Lesen deshalb vor allem viele ungute Gefühle wie Bedrückung, Angst, Unruhe, Wut, Ekel und Entsetzen ausgelöst. Besonders die sehr wahrheitsgetreue Darstellung eines Entzugs hat mich sehr mitgenommen. Stellenweise wollte ich sogar gar nicht mehr weiterlesen, da ich ja genau wusste, dass das Ende weh tun wird. Diese Annahme hat sich dann schlussendlich auch erfüllt. Neben dem Schmerz und der Tragödie bleibt vor allem das drängende Gefühl, dass diese hätten verhindert werden können und der Wunsch, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen. "Roxy" mag also vielleicht kein besonders schönes Leseerlebnis sein, aber definitiv eines, das zum Nachdenken anregt, emotional mitnimmt und dem Thema gerecht wird.



Fazit:


Auch wenn "Roxy" in eine ganz andere Richtung ging, als ich zunächst angenommen hatte, wurden meine Erwartungen an die Geschichte haushoch übertroffen. Neal und Jarrod Shusterman haben nicht nur eine originelle Grundidee gesellschaftskritisch und intelligent zu einem spannenden Fantasy-Thriller umgesetzt, sondern schildern dabei auch noch sehr eindrücklich und wahrheitsgetreu den Weg in eine Sucht.

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Veröffentlicht am 10.03.2022

Ein erschreckend reales Drogendrama!

Roxy
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Genau wie schon der Apokalypse-Thriller "Dry" ist "Roxy" wieder als Gemeinschaftsprojekt von Neal und dessen Sohn Jarrod Shusterman entstanden. Neal Shusterman ist in den letzten Jahren mit seinen beiden ...

Genau wie schon der Apokalypse-Thriller "Dry" ist "Roxy" wieder als Gemeinschaftsprojekt von Neal und dessen Sohn Jarrod Shusterman entstanden. Neal Shusterman ist in den letzten Jahren mit seinen beiden Reihen "Vollendet" und "Scythe" sowie dem Sozialthriller "Game Changer" in meine persönliche Hall-of-Fame eingezogen und hat bewiesen, dass er ein absoluter Meister in Sachen Dystopien für junge Erwachsene ist. Kein Wunder also, dass ich nach dem Lesen des Klapptextes annahm, dass es sich auch bei "Roxy" um eine Science-Fiction-Geschichte handelt, in denen im Labor gezüchtete Menschen drogengleich ihre Opfer verführen. Diesen Eindruck unterstreicht auch das schillernde, futuristische Cover, auf dem sich eine künstliche, in blau-violettes Licht getauchte Frauenfigur mit kinnlangen Haaren und metallischer Haut von einem schwarz-glänzenden Hintergrund abhebt. Auf ihrem ausgestreckten Finger steht die Silhouette eines Mannes, der in den schwarzen Abgrund blickt, während eine Frau mit wehenden Haaren auf ihn zuläuft.


Erste Sätze: "Ich bin kein Superheld. Aber ich kann dich vor denjenigen retten, die das von sich behaupten. Ich bin kein Zauberer. Aber ich habe die Macht, die Toten wieder aufstehen zu lassen. Manchmal zumindest. Und nie oft genug."


Schon nach wenigen Sätzen landete ich dann aber hart auf dem Boden der Tatsachen und erkannte, dass Cover, Klapptext und meine Vorerfahrung mit dem Autor mich auf eine falsche Fährte geführt haben. Denn statt eines futuristischen Fantasy-Thrillers erzählen die beiden Shustermans hier von einem erschreckend realen Drogendrama, dessen fantastischer Zusatz eher metaphorisch verstanden werden kann. Die Grundidee ist dabei so simpel wie originell: um der Entstehung einer Sucht auf den Grund zu gehen erwecken die beiden Autoren hier die bekanntesten Drogen zum Leben und lassen sie als gottähnliche Persönlichkeiten mit eigenen Interessen, Plänen und Eigenschaften, also als handelnde Figuren in der Geschichte auftreten. Jede der vorgestellten chemischen Substanzen hat dabei einen Namen und eine fest zugeteilte Aufgabe, die diese jedoch nicht alle ernst nehmen. Statt sich auf den Bereich zu konzentrieren, für diesen sie im Labor erschaffen wurden, haben es sich manche Drogen zum Ziel gemacht, Menschen zu verführen, ihre Opfer an höhergestellte Drogen weiterzureichen oder bis in den Tod zu begleiten.


Roxy: "Wir sind die Schrittmacher und im Augenblick bin ich diejenige, die den Takt angibt Es gibt keine bessere Zeit, um ich selbst zu sein."


Diese Personalisierung von chemischen Substanzen scheint zunächst befremdlich, funktioniert aber bei näherem Hinsehen ganz wunderbar, ohne Drogen allgemein zu dämonisieren oder die Eigenverantwortung der Menschen herunterzuspielen. Es bleibt zu jedem Zeitpunkt klar, dass es im Endeffekt die Menschen sind, die die Substanzen zu sich einladen, ihnen die Tür öffnen und Entscheidungen treffen, die sie deren Verführungen aussetzen. Dennoch wird auf sehr eindrückliche Art und Weise verdeutlicht, wie tückisch und verführerisch Drogen wirken, welche sozialen Faktoren bei der Entstehung einer Sucht eine Rolle spielen und welch verheerende Wirkung sie auf das menschliche Denken und Verhalten haben können.


Isaac: "Sein Fuß braucht die Tabletten nicht mehr, aber der Rest von ihm. Und dieser Rest wird nicht aufhören, ihm das vor Augen zu halten. Die roten Lichter des Krankenwagens blitzen auf seinem Gesicht auf, während die Alarmglocken in seinem Kopf schrillen. Denn das Leben, das er sich so sorgfältig aufgebaut hatte, ist komplett vom Kurs abgekommen und driftet in eine völlig unbekannte Richtung."


Die beiden Autoren nutzen dabei bildhafte Metaphern und generieren zusätzlich zu ihren vermenschlichten Drogen eine schillernde Parallelwelt, sodass die Grenze zwischen Realität und Fantasie an vielen Stellen stark verschwimmt. So wird die einsetzende Wirkung einer Substanz zu einem goldenen Fahrstuhl, der Drogentrip zu einer strahlenden Party in der Lounge über den Wolken und die Süchtige selbst zum "Plus-Eins" der dort wie Götter lebenden Drogen. Wenn der Trip ihrer Zielpersonen zu entgleisen droht, nehmen die Drogen ihn oder sie mit in die "VIP-Lounge", aus welcher es nur selten eine Wiederkehr gibt. Eine Figur kann also gleichzeitig weggetreten in einem verlassenen Crackhaus auf einer gammligen Matratze liegen und auf der "Party" um sein Leben tanzen. Diese teilweise verwirrende Überlappungen von Ort, Zeit und Wirklichkeit spiegeln die Wirkung der Drogen auf interessante und treffende Art und Weise wider.


Roxy: "Ich wandele wie benommen durch die Party und merke, dass die Ausgelassenheit in den Hintergrund tritt und ich stattdessen sehe, was unsere menschlichen Opfer sehen: Crack-Häuser und Hinterhöfe. Einsame Zimmer und Toilettenkabinen, Orte, an denen sie mit uns verkehren. Diese Szenen sind immer präsent, doch es ist so leicht, sie unsichtbar zu machen, wenn man sich auf die Party konzentriert. Wer sieht den Schmutz auf der Fensterscheibe, wenn dahinter eine derart spektakuläre Aussicht liegt?"


Organisiert sind die Drogen in Familienclans, welche den großen Klassen der Pharmazie entsprechen - Halluzinogene, Schmerzmittel und Aufputschmittel - und in den vorderen Leselaschen graphisch dargestellt sind. Diese Übersicht über die "Familienclans der Drogen" ist auch dringend notwendig, um durchgängig zu verstehen, welche Droge hinter welcher Person steckt und zu welcher Klasse gehört. Zwar sind manche Namen wie "Al" (Alkohol), Mary Jane (Marihuana), Molly (MDMA) oder Crys (Crystal Meth) recht selbsterklärend, bei anderen wie zum Beispiel "´Lude" (Methaqualon), "Phineas" (Morphium) oder "Charly und Dusty" (Kokain) braucht man aber ein bisschen Hilfe, um am Ball zu bleiben. Besonders im Vordergrund der Geschichte stehen dabei "Roxy" (Oxycodon, ein Schmerzmittel aus der Klasse der Opioide) und "Addison" (Adderall, ein Aufputschmittel, das bei ADHS verschrieben wird), welche mit einer Wette die Rahmenhandlung der Geschichte definieren: Aus dem Wunsch nach Größe und Anerkennung ihrer jeweiligen "Vorgesetzten" möchten beide beweisen, wie tödlich sie sein können und wetten deshalb, dass sie einen Menschen ganz ohne Hilfe stärkerer Substanzen in den Ruin treiben können.


Addison: "Lass uns zusammen rausgehen und der Welt in den Arsch treten." Ivy öffnet die Augen, resigniert, regeneriert. Sie schnappt sich ihren Rucksack und eilt nach unten, um sich fertig zu machen. Ich muss einfach bewundern, was sie für einen starken Willen hat. Aber meiner ist stärker."


Als Opfer haben sich die beiden die Geschwister Ivy und Isaac Ramey ausgesucht. Durch diese Wette und den Prolog, in dem wir aus der Sicht des Opiod-Antagonisten Naloxon (ein Notfallmedikament, das von Rettungskräften bei einer akuten Vergiftung oder Überdosis eingesetzt wird) miterleben, wie ein Leichensack mit der Aufschrift "Ramey, I." aus einem verlassenen Haus getragen wird, ist also von der ersten Seite an klar, dass die Geschichte kein gutes Ende haben wird. Offen bleibt hingegen, welchen der beiden Geschwister es erwischen wird. Da die Namen der beiden Hauptprotagonisten beide mit einem "I" beginnen und ebenfalls beide im Verlauf der Geschichte in Kontakt mit unterschiedlichen Drogen kommen, kann man bis zum Ende kaum sagen, wessen Schicksal es ist, in diesem Leichensack zu enden. Die Gewissheit, dass das Ringen der beiden ein schlechtes Ende nehmen wird in Zusammenhang mit der Frage, welchen der beiden es kostet, generiert eine Spannung, die kaum auszuhalten ist und dafür sorgt, dass man weiterliest, auch wenn im Mittelteil auf der reinen Handlungsebene nicht viel passiert.


Ivy: "Das Medikament ist technisch gesehen ein Aufputschmittel, das einen entwässert und den Hunger hemmen kann. Keine große Sache. So lautet in diesen Tagen ihr Motto. In der Schule übertrifft sie sich selbst, wie könnte sie sich beschweren?"


Wohlwissend, dass ich mich auf einen dunklen Weg mit den beiden begebe, der für mindestens einen von ihnen kein gutes Ende nimmt, habe ich versucht, mich beim Lesen emotional von Ivy und Isaac zu distanzieren. Der Schreibstil der beiden Shustermans machte dieses Vorhaben aber leider unmöglich. Je mehr ich versucht habe, mich nicht zu sehr emotional mitreißen zu lassen, desto intensiver wurde ich in den Bann der Geschichte gezogen. Mit Ivy und Isaac haben wir zwei sehr vielschichte und lebensechte Figuren, die deine eigenen Nachbarn sein könnten und deren Geschichte deshalb auch sofort zugänglich und nachvollziehbar ist. Während die beiden Geschwister trotz ihrer teilweise fragwürdigen Handlungen also klare Sympathieträger sind, hat man es mit Addison und Roxy schon schwerer. Mit der Zeit konnte ich mich aber immer besser auf die Idee einlassen und in die beiden hineinfühlen. Sehr interessant fand ich, dass die Persönlichkeiten von Roxy und Isaac sowie von Ivy und Addison im Laufe der Handlung immer mehr miteinander verschmelzen. So wird dargestellt, wie der Einfluss von Drogen die Persönlichkeit verändern kann. Gleichzeitig lösen die Geschwister jedoch auch in ihren jeweiligen Drogen etwas aus. Addison können wir dabei zusehen, wie er zunehmend mit seinem Gewissen kämpft, während bei Roxy vor allem deren emotionale Beziehung zu Isaac im Vordergrund steht.


Roxy: "Wie ist es, ich zu sein? Es ist wild. Es ist frenetisch. Es ist überlebensgroß auf einer überdimensionierten Skala. Dennoch kam mir auf die Frage das Wort einsam in den Sinn, und selbst das ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Wort, das nun an dieser steht, sagt alles. Nicht erfüllend."


Bei der angedeuteten Liebesgeschichte von Roxy und Isaac werden - genau wie bei manch anderen Aspekten der Handlung (z.B. Roxys Ausflug auf das "Dach") - die Grenzen der Realität für meinen Geschmack etwas zu stark überstrapaziert. Auf diese, zwar sehr kreativen, der Dramaturgie zuträglichen Stellen, hätte ich gerne verzichten können, wenn stattdessen noch einige konkrete Informationen und eine genauere Einordnung der einzelnen Wirkstoffe vorgenommen worden wäre. Ich hatte aufgrund meines sachlichen Vorwissens keine Verständnisschwierigkeiten, kann aber schlecht einschätzen, wie die Geschichte auf LeserInnen mit weniger Vorwissen wirkt. Fest steht für mich jedoch, dass eine etwas sachlichere Herangehensweise aus meiner Sicht mehr Mehrwert gehabt hätte als die Ausführung des Familiendramas der Drogen.

Nichtdestotrotz ist "Roxy" definitiv ein lehrreiches Buch in mehrerlei Hinsicht. Neben dem verbesserten Überblick über die Klassen und Wirkweisen von Drogen werden zwei wichtige Botschaften auf sehr eingängige Art und Weise vermittelt. Als erstes räumen die beiden Autoren mit Vorurteilen über Drogensucht auf und machen klar, dass die Sucht eine heimtückische Krankheit ist, die einen in jedem Milieu, in jeder Familie und jeder Lebenssituation kalt erwischen kann. Und zweitens wird hier immer wieder betont, wie wichtig es ist, aufmerksam zu sein, die Anzeichen zu kennen und richtig zu reagieren. Um den Blickwinkel des Romans etwas zu erweitern, das Voranschreiten der Handlung jedoch nicht zu behindern, werden zwischen den einzelnen Kapiteln Intermezzos aus der Sicht von anderen Drogen, die hier nicht direkt vorkommen, deren Machenschaften jedoch alle in gewisser Weise mit der Geschichte in Verbindung stehen, eingeflochten. Zusätzlich sind zu Beginn der Kapitel durch fett gedruckte Buchstaben kleine Botschaften versteckt, was zu dieser verschachtelten, komplizierten, entrückten Geschichte wunderbar passt. Besonders hier fällt auf: Statt wie viele andere Anti-Drogen-Bücher im Rundumschlag alle Drogen als böse zu verurteilen oder ein plumpes Negativbeispiel zu liefern, versucht das Vater-Sohn-Autorenduo den Missbrauch von Drogen und verschreibungspflichtigen Medikamenten von verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. In welchen Kontexten bieten Drogen Chancen? Welche zerstörerische Abgründe tun sich jedoch auch auf? In der Logik von "Roxy" also: welche Droge ist unser Freund, welche unser Feind, welche beides? Welche verstrickt uns in toxische Romanzen...? Welche setzt ihre Macht gegen uns ein?


Ivy: "Man sagt, es könnte die CIA gewesen sein oder vielleicht die Chinesen", verkündete Tess. "Ich behaupte nicht, dass es so war; es ist nur das, was mag sagt." Es ist dasselbe namenlose man, das behauptet, Impfungen wären eine Form der Gedankenkontrolle durch die Regierung und die Welt würde heimlich von Echsenmenschen beherrscht. Für Ivy ist es bloß ein Beweis dafür, dass die Idiotie sich bester Gesundheit erfreut."


Ganz nach dem Untertitel "Ein kurzer Rausch, ein langer Schmerz" wird zwar der Drogenrausch als exklusiver Club, als schillernde Erfahrung dargestellt, die dem gegenüberstehende Düsternis und Darstellung des Schmerzes, garantiert jedoch ausreichend, dass man beim Lesen mehr abgeschreckt als fasziniert wird. Emotional hat die Geschichte bei mir beim Lesen deshalb vor allem viele ungute Gefühle wie Bedrückung, Angst, Unruhe, Wut, Ekel und Entsetzen ausgelöst. Besonders die sehr wahrheitsgetreue Darstellung eines Entzugs hat mich sehr mitgenommen. Stellenweise wollte ich sogar gar nicht mehr weiterlesen, da ich ja genau wusste, dass das Ende weh tun wird. Diese Annahme hat sich dann schlussendlich auch erfüllt. Neben dem Schmerz und der Tragödie bleibt vor allem das drängende Gefühl, dass diese hätten verhindert werden können und der Wunsch, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen. "Roxy" mag also vielleicht kein besonders schönes Leseerlebnis sein, aber definitiv eines, das zum Nachdenken anregt, emotional mitnimmt und dem Thema gerecht wird.



Fazit:


Auch wenn "Roxy" in eine ganz andere Richtung ging, als ich zunächst angenommen hatte, wurden meine Erwartungen an die Geschichte haushoch übertroffen. Neal und Jarrod Shusterman haben nicht nur eine originelle Grundidee gesellschaftskritisch und intelligent zu einem spannenden Fantasy-Thriller umgesetzt, sondern schildern dabei auch noch sehr eindrücklich und wahrheitsgetreu den Weg in eine Sucht.

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Veröffentlicht am 10.03.2022

Ein erschreckend reales Drogendrama!

Roxy
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Genau wie schon der Apokalypse-Thriller "Dry" ist "Roxy" wieder als Gemeinschaftsprojekt von Neal und dessen Sohn Jarrod Shusterman entstanden. Neal Shusterman ist in den letzten Jahren mit seinen beiden ...

Genau wie schon der Apokalypse-Thriller "Dry" ist "Roxy" wieder als Gemeinschaftsprojekt von Neal und dessen Sohn Jarrod Shusterman entstanden. Neal Shusterman ist in den letzten Jahren mit seinen beiden Reihen "Vollendet" und "Scythe" sowie dem Sozialthriller "Game Changer" in meine persönliche Hall-of-Fame eingezogen und hat bewiesen, dass er ein absoluter Meister in Sachen Dystopien für junge Erwachsene ist. Kein Wunder also, dass ich nach dem Lesen des Klapptextes annahm, dass es sich auch bei "Roxy" um eine Science-Fiction-Geschichte handelt, in denen im Labor gezüchtete Menschen drogengleich ihre Opfer verführen. Diesen Eindruck unterstreicht auch das schillernde, futuristische Cover, auf dem sich eine künstliche, in blau-violettes Licht getauchte Frauenfigur mit kinnlangen Haaren und metallischer Haut von einem schwarz-glänzenden Hintergrund abhebt. Auf ihrem ausgestreckten Finger steht die Silhouette eines Mannes, der in den schwarzen Abgrund blickt, während eine Frau mit wehenden Haaren auf ihn zuläuft.


Erste Sätze: "Ich bin kein Superheld. Aber ich kann dich vor denjenigen retten, die das von sich behaupten. Ich bin kein Zauberer. Aber ich habe die Macht, die Toten wieder aufstehen zu lassen. Manchmal zumindest. Und nie oft genug."


Schon nach wenigen Sätzen landete ich dann aber hart auf dem Boden der Tatsachen und erkannte, dass Cover, Klapptext und meine Vorerfahrung mit dem Autor mich auf eine falsche Fährte geführt haben. Denn statt eines futuristischen Fantasy-Thrillers erzählen die beiden Shustermans hier von einem erschreckend realen Drogendrama, dessen fantastischer Zusatz eher metaphorisch verstanden werden kann. Die Grundidee ist dabei so simpel wie originell: um der Entstehung einer Sucht auf den Grund zu gehen erwecken die beiden Autoren hier die bekanntesten Drogen zum Leben und lassen sie als gottähnliche Persönlichkeiten mit eigenen Interessen, Plänen und Eigenschaften, also als handelnde Figuren in der Geschichte auftreten. Jede der vorgestellten chemischen Substanzen hat dabei einen Namen und eine fest zugeteilte Aufgabe, die diese jedoch nicht alle ernst nehmen. Statt sich auf den Bereich zu konzentrieren, für diesen sie im Labor erschaffen wurden, haben es sich manche Drogen zum Ziel gemacht, Menschen zu verführen, ihre Opfer an höhergestellte Drogen weiterzureichen oder bis in den Tod zu begleiten.


Roxy: "Wir sind die Schrittmacher und im Augenblick bin ich diejenige, die den Takt angibt Es gibt keine bessere Zeit, um ich selbst zu sein."


Diese Personalisierung von chemischen Substanzen scheint zunächst befremdlich, funktioniert aber bei näherem Hinsehen ganz wunderbar, ohne Drogen allgemein zu dämonisieren oder die Eigenverantwortung der Menschen herunterzuspielen. Es bleibt zu jedem Zeitpunkt klar, dass es im Endeffekt die Menschen sind, die die Substanzen zu sich einladen, ihnen die Tür öffnen und Entscheidungen treffen, die sie deren Verführungen aussetzen. Dennoch wird auf sehr eindrückliche Art und Weise verdeutlicht, wie tückisch und verführerisch Drogen wirken, welche sozialen Faktoren bei der Entstehung einer Sucht eine Rolle spielen und welch verheerende Wirkung sie auf das menschliche Denken und Verhalten haben können.


Isaac: "Sein Fuß braucht die Tabletten nicht mehr, aber der Rest von ihm. Und dieser Rest wird nicht aufhören, ihm das vor Augen zu halten. Die roten Lichter des Krankenwagens blitzen auf seinem Gesicht auf, während die Alarmglocken in seinem Kopf schrillen. Denn das Leben, das er sich so sorgfältig aufgebaut hatte, ist komplett vom Kurs abgekommen und driftet in eine völlig unbekannte Richtung."


Die beiden Autoren nutzen dabei bildhafte Metaphern und generieren zusätzlich zu ihren vermenschlichten Drogen eine schillernde Parallelwelt, sodass die Grenze zwischen Realität und Fantasie an vielen Stellen stark verschwimmt. So wird die einsetzende Wirkung einer Substanz zu einem goldenen Fahrstuhl, der Drogentrip zu einer strahlenden Party in der Lounge über den Wolken und die Süchtige selbst zum "Plus-Eins" der dort wie Götter lebenden Drogen. Wenn der Trip ihrer Zielpersonen zu entgleisen droht, nehmen die Drogen ihn oder sie mit in die "VIP-Lounge", aus welcher es nur selten eine Wiederkehr gibt. Eine Figur kann also gleichzeitig weggetreten in einem verlassenen Crackhaus auf einer gammligen Matratze liegen und auf der "Party" um sein Leben tanzen. Diese teilweise verwirrende Überlappungen von Ort, Zeit und Wirklichkeit spiegeln die Wirkung der Drogen auf interessante und treffende Art und Weise wider.


Roxy: "Ich wandele wie benommen durch die Party und merke, dass die Ausgelassenheit in den Hintergrund tritt und ich stattdessen sehe, was unsere menschlichen Opfer sehen: Crack-Häuser und Hinterhöfe. Einsame Zimmer und Toilettenkabinen, Orte, an denen sie mit uns verkehren. Diese Szenen sind immer präsent, doch es ist so leicht, sie unsichtbar zu machen, wenn man sich auf die Party konzentriert. Wer sieht den Schmutz auf der Fensterscheibe, wenn dahinter eine derart spektakuläre Aussicht liegt?"


Organisiert sind die Drogen in Familienclans, welche den großen Klassen der Pharmazie entsprechen - Halluzinogene, Schmerzmittel und Aufputschmittel - und in den vorderen Leselaschen graphisch dargestellt sind. Diese Übersicht über die "Familienclans der Drogen" ist auch dringend notwendig, um durchgängig zu verstehen, welche Droge hinter welcher Person steckt und zu welcher Klasse gehört. Zwar sind manche Namen wie "Al" (Alkohol), Mary Jane (Marihuana), Molly (MDMA) oder Crys (Crystal Meth) recht selbsterklärend, bei anderen wie zum Beispiel "´Lude" (Methaqualon), "Phineas" (Morphium) oder "Charly und Dusty" (Kokain) braucht man aber ein bisschen Hilfe, um am Ball zu bleiben. Besonders im Vordergrund der Geschichte stehen dabei "Roxy" (Oxycodon, ein Schmerzmittel aus der Klasse der Opioide) und "Addison" (Adderall, ein Aufputschmittel, das bei ADHS verschrieben wird), welche mit einer Wette die Rahmenhandlung der Geschichte definieren: Aus dem Wunsch nach Größe und Anerkennung ihrer jeweiligen "Vorgesetzten" möchten beide beweisen, wie tödlich sie sein können und wetten deshalb, dass sie einen Menschen ganz ohne Hilfe stärkerer Substanzen in den Ruin treiben können.


Addison: "Lass uns zusammen rausgehen und der Welt in den Arsch treten." Ivy öffnet die Augen, resigniert, regeneriert. Sie schnappt sich ihren Rucksack und eilt nach unten, um sich fertig zu machen. Ich muss einfach bewundern, was sie für einen starken Willen hat. Aber meiner ist stärker."


Als Opfer haben sich die beiden die Geschwister Ivy und Isaac Ramey ausgesucht. Durch diese Wette und den Prolog, in dem wir aus der Sicht des Opiod-Antagonisten Naloxon (ein Notfallmedikament, das von Rettungskräften bei einer akuten Vergiftung oder Überdosis eingesetzt wird) miterleben, wie ein Leichensack mit der Aufschrift "Ramey, I." aus einem verlassenen Haus getragen wird, ist also von der ersten Seite an klar, dass die Geschichte kein gutes Ende haben wird. Offen bleibt hingegen, welchen der beiden Geschwister es erwischen wird. Da die Namen der beiden Hauptprotagonisten beide mit einem "I" beginnen und ebenfalls beide im Verlauf der Geschichte in Kontakt mit unterschiedlichen Drogen kommen, kann man bis zum Ende kaum sagen, wessen Schicksal es ist, in diesem Leichensack zu enden. Die Gewissheit, dass das Ringen der beiden ein schlechtes Ende nehmen wird in Zusammenhang mit der Frage, welchen der beiden es kostet, generiert eine Spannung, die kaum auszuhalten ist und dafür sorgt, dass man weiterliest, auch wenn im Mittelteil auf der reinen Handlungsebene nicht viel passiert.


Ivy: "Das Medikament ist technisch gesehen ein Aufputschmittel, das einen entwässert und den Hunger hemmen kann. Keine große Sache. So lautet in diesen Tagen ihr Motto. In der Schule übertrifft sie sich selbst, wie könnte sie sich beschweren?"


Wohlwissend, dass ich mich auf einen dunklen Weg mit den beiden begebe, der für mindestens einen von ihnen kein gutes Ende nimmt, habe ich versucht, mich beim Lesen emotional von Ivy und Isaac zu distanzieren. Der Schreibstil der beiden Shustermans machte dieses Vorhaben aber leider unmöglich. Je mehr ich versucht habe, mich nicht zu sehr emotional mitreißen zu lassen, desto intensiver wurde ich in den Bann der Geschichte gezogen. Mit Ivy und Isaac haben wir zwei sehr vielschichte und lebensechte Figuren, die deine eigenen Nachbarn sein könnten und deren Geschichte deshalb auch sofort zugänglich und nachvollziehbar ist. Während die beiden Geschwister trotz ihrer teilweise fragwürdigen Handlungen also klare Sympathieträger sind, hat man es mit Addison und Roxy schon schwerer. Mit der Zeit konnte ich mich aber immer besser auf die Idee einlassen und in die beiden hineinfühlen. Sehr interessant fand ich, dass die Persönlichkeiten von Roxy und Isaac sowie von Ivy und Addison im Laufe der Handlung immer mehr miteinander verschmelzen. So wird dargestellt, wie der Einfluss von Drogen die Persönlichkeit verändern kann. Gleichzeitig lösen die Geschwister jedoch auch in ihren jeweiligen Drogen etwas aus. Addison können wir dabei zusehen, wie er zunehmend mit seinem Gewissen kämpft, während bei Roxy vor allem deren emotionale Beziehung zu Isaac im Vordergrund steht.


Roxy: "Wie ist es, ich zu sein? Es ist wild. Es ist frenetisch. Es ist überlebensgroß auf einer überdimensionierten Skala. Dennoch kam mir auf die Frage das Wort einsam in den Sinn, und selbst das ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Wort, das nun an dieser steht, sagt alles. Nicht erfüllend."


Bei der angedeuteten Liebesgeschichte von Roxy und Isaac werden - genau wie bei manch anderen Aspekten der Handlung (z.B. Roxys Ausflug auf das "Dach") - die Grenzen der Realität für meinen Geschmack etwas zu stark überstrapaziert. Auf diese, zwar sehr kreativen, der Dramaturgie zuträglichen Stellen, hätte ich gerne verzichten können, wenn stattdessen noch einige konkrete Informationen und eine genauere Einordnung der einzelnen Wirkstoffe vorgenommen worden wäre. Ich hatte aufgrund meines sachlichen Vorwissens keine Verständnisschwierigkeiten, kann aber schlecht einschätzen, wie die Geschichte auf LeserInnen mit weniger Vorwissen wirkt. Fest steht für mich jedoch, dass eine etwas sachlichere Herangehensweise aus meiner Sicht mehr Mehrwert gehabt hätte als die Ausführung des Familiendramas der Drogen.

Nichtdestotrotz ist "Roxy" definitiv ein lehrreiches Buch in mehrerlei Hinsicht. Neben dem verbesserten Überblick über die Klassen und Wirkweisen von Drogen werden zwei wichtige Botschaften auf sehr eingängige Art und Weise vermittelt. Als erstes räumen die beiden Autoren mit Vorurteilen über Drogensucht auf und machen klar, dass die Sucht eine heimtückische Krankheit ist, die einen in jedem Milieu, in jeder Familie und jeder Lebenssituation kalt erwischen kann. Und zweitens wird hier immer wieder betont, wie wichtig es ist, aufmerksam zu sein, die Anzeichen zu kennen und richtig zu reagieren. Um den Blickwinkel des Romans etwas zu erweitern, das Voranschreiten der Handlung jedoch nicht zu behindern, werden zwischen den einzelnen Kapiteln Intermezzos aus der Sicht von anderen Drogen, die hier nicht direkt vorkommen, deren Machenschaften jedoch alle in gewisser Weise mit der Geschichte in Verbindung stehen, eingeflochten. Zusätzlich sind zu Beginn der Kapitel durch fett gedruckte Buchstaben kleine Botschaften versteckt, was zu dieser verschachtelten, komplizierten, entrückten Geschichte wunderbar passt. Besonders hier fällt auf: Statt wie viele andere Anti-Drogen-Bücher im Rundumschlag alle Drogen als böse zu verurteilen oder ein plumpes Negativbeispiel zu liefern, versucht das Vater-Sohn-Autorenduo den Missbrauch von Drogen und verschreibungspflichtigen Medikamenten von verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. In welchen Kontexten bieten Drogen Chancen? Welche zerstörerische Abgründe tun sich jedoch auch auf? In der Logik von "Roxy" also: welche Droge ist unser Freund, welche unser Feind, welche beides? Welche verstrickt uns in toxische Romanzen...? Welche setzt ihre Macht gegen uns ein?


Ivy: "Man sagt, es könnte die CIA gewesen sein oder vielleicht die Chinesen", verkündete Tess. "Ich behaupte nicht, dass es so war; es ist nur das, was mag sagt." Es ist dasselbe namenlose man, das behauptet, Impfungen wären eine Form der Gedankenkontrolle durch die Regierung und die Welt würde heimlich von Echsenmenschen beherrscht. Für Ivy ist es bloß ein Beweis dafür, dass die Idiotie sich bester Gesundheit erfreut."


Ganz nach dem Untertitel "Ein kurzer Rausch, ein langer Schmerz" wird zwar der Drogenrausch als exklusiver Club, als schillernde Erfahrung dargestellt, die dem gegenüberstehende Düsternis und Darstellung des Schmerzes, garantiert jedoch ausreichend, dass man beim Lesen mehr abgeschreckt als fasziniert wird. Emotional hat die Geschichte bei mir beim Lesen deshalb vor allem viele ungute Gefühle wie Bedrückung, Angst, Unruhe, Wut, Ekel und Entsetzen ausgelöst. Besonders die sehr wahrheitsgetreue Darstellung eines Entzugs hat mich sehr mitgenommen. Stellenweise wollte ich sogar gar nicht mehr weiterlesen, da ich ja genau wusste, dass das Ende weh tun wird. Diese Annahme hat sich dann schlussendlich auch erfüllt. Neben dem Schmerz und der Tragödie bleibt vor allem das drängende Gefühl, dass diese hätten verhindert werden können und der Wunsch, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen. "Roxy" mag also vielleicht kein besonders schönes Leseerlebnis sein, aber definitiv eines, das zum Nachdenken anregt, emotional mitnimmt und dem Thema gerecht wird.



Fazit:


Auch wenn "Roxy" in eine ganz andere Richtung ging, als ich zunächst angenommen hatte, wurden meine Erwartungen an die Geschichte haushoch übertroffen. Neal und Jarrod Shusterman haben nicht nur eine originelle Grundidee gesellschaftskritisch und intelligent zu einem spannenden Fantasy-Thriller umgesetzt, sondern schildern dabei auch noch sehr eindrücklich und wahrheitsgetreu den Weg in eine Sucht.

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  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.03.2022

"Träum von mir, denke ich. Ich werde von dir träumen."

Where the Clouds Move Faster
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"Where the Clouds Move Faster" ist das lange erwartete Finale der Shetland-Love-Trilogie von Kathinka Engel. Schon nach der Leseprobe und einigen angeteaserten Zitaten der Autorin auf Instagram war ich ...

"Where the Clouds Move Faster" ist das lange erwartete Finale der Shetland-Love-Trilogie von Kathinka Engel. Schon nach der Leseprobe und einigen angeteaserten Zitaten der Autorin auf Instagram war ich sehr hyped auf Effies Geschichte. Als das Buch letzte Woche dann endlich bei mir angekommen ist, habe ich nur wenige Kapitel lesen müssen, bis mir klar war: das wird gut, und zwar so richtig, richtig gut. So ist "Where the Clouds Move Faster" mein liebster Band der Reihe geworden, die die eher melancholische Geschichten von Fiona und Connell und die leidenschaftliche von Nessa und Boyd um Längen übertrifft.


"Wenn die Nacht zum Tag, der Regen zu Sonnenschein und ich zu diesem Glückspilz werden kann... dann ist einfach alles möglich."


Schon bei der Gestaltung der Geschichte hat der Piper Verlag sich mal wieder selbst übertroffen. Ich habe mich schon beim Cover Reveal total in die Gestaltung der drei Bände verliebt, als ich das Buch mit dem schimmernd rosafarbenen Blatt auf creme-weißem Grund, dem geschwungenen Titel und den goldenen geprägten Linien dann aber das erste Mal in der Hand hielt, war ich endgültig hin und weg. Das Cover ist zart, bodenständig, edel und ein kleines bisschen magisch - also das perfekte Kleid für diese Geschichte, die mit genau diesen Adjektiven auch treffend beschrieben werden kann. Auch die Gestaltungen der anderen beiden Bänden der Reihe gefallen mir wahnsinnig gut, weshalb ich es kaum erwarten konnte, die drei Teile gemeinsam im Schrank stehen zu sehen. Toll ist auch die Karte von den Shetlandinseln und genauer der Stadt Lerwick, welche in der inneren Leselasche des Buches abgebildet ist. Die 43 Kapitelanfänge werden jeweils von einer der goldenen Blätterranken geziert, welche auch auf dem Cover abgebildet sind und sind ab und zu von einem kurzen Ausschnitt aus dem Tagebuch des männlichen Protagonisten eingerahmt.


Erster Satz: "That´s not what he said."


Wer Effies Love Interest sein würde, war ja lange Zeit unklar. Ich hatte nach Band 2 darauf getippt, dass sie mit ihrem besten Freund Erwin zusammenkommt, von dem in den anderen Teilen der Reihe schon offensichtlich wurde, dass er in Effie verliebt ist. Als dieser jedoch schon gleich in der ersten Szene Effie seine Liebe gesteht und sie ihm daraufhin sein Herz brechen muss, ist jedoch schnell klar, dass die Autorin sich für Effie etwas ganz anderes überlegt hat. Etwas ganz, ganz anderes. Zwar folgt sie mit der Idee, dass Effie einen Fremden in ihrem Cottage anfindet und die beiden gezwungenermaßen auf engstem Raum die Woche zusammen verbringen, dem "Forced Proximity"-Trope, ansonsten wirft sie aber alle Grundmotive des Genres über Board und erzählt eine so echte, schmerzhafte und wunderschöne Liebesgeschichte, wie ich es noch nie gelesen habe.


"Viel Erfolg", flüstere ich der Möwenfamilie zu. Denn schon bald werden die Kleinen flügge sein. Und wie beängstigend das wohl sein muss, mit nichts als einem instinktiven Vertrauen von einem Haus zu springen, kann ich mir kaum ausmalen. Doch der Gedanke beflügelt mich. Denn wenn die Küken der Turtelmöwen Jahr um Jahr springen können, kann ich das auch."


Anfangs dachte ich, "Where the Clouds Move Faster" würde eine gemächliche Slow Burn Geschichte werden, bei der sich die beiden Fremden langsam näherkommen. Falsch gedacht. Adair und Effie sind eine Gefühlsexplosion von der ersten Seite an. Statt vorsichtigem Hin und Her aus falschem Stolz und Angst vor Zurückweisung, zeigt uns die Autorin mit Effie und Adair, wie einfach Liebe sein kann, wenn beide bereit sind, offene, aufrichtige und ehrliche Gespräche ohne Scham und Zurückhaltung zu führen. Neben atmosphärisch-schönen Momenten wie Tanzen im Regen, Schreien am Strand, Singen von Disney-Liedern unter der Dusche umrahmt vom Geklapper von Effies Stricknadeln, dem Geschrei von jungen Möwen, dem Geruch von leicht angebranntem Red Velvet Cake und dem Geklimper von Adairs Ukulele, vertrauen sich die beiden Figuren in dem Wissen, dass sie sich nach der gemeinsamen Woche vermutlich nicht mehr wiedersehen werden, gegenseitig auch ernste Dinge an. Dadurch lernen wir beide schnell sehr gut kennen und haben einen düstereren Gegenpol zu den rosafarbenen Zuckerwolken ihrer neuen Liebe.


"Ein Glücksschluchzen entfährt mir, entfährt ihm, entfährt uns. Wir weinen nicht. Es gibt keinen Grund zum Weinen. Es gibt nur Gründe für Jubeltaumel und Glücksstürme."


Kathinka Engels Schreibstil ist gewohnt lebendig, ehrlich und emotional, verliert dabei aber nie die Charakterentwicklung und ihre Themen aus dem Blick. Die Autorin kleidet hier so viele Glücksgefühle, aber auch so viel Traurigkeit in Worte, dass ich dachte, ich würde emotional zerspringen. Die Atmosphäre dieses dritten Bandes ist diesmal träumerisch-entrückt, leicht schräg, aber trotzdem von bodenständiger Wahrhaftigkeit, sodass man sich beim gleichzeitig Lesen fühlt, als würde man träumen und das Leben einer anderen Person leben. Neben inhaltlichen Schwerpunkten wie Heimat, Träume, Ängste, Trauer, Familie und Happy Ends, wird auch wieder das Setting auf den Shetland Inseln stark miteingebunden. Ich selbst war noch nie in Schottland, geschweige denn auf den Shetland Inseln, dennoch konnte ich mir die weite, baumleere Landschaft mit den grünen Büschen, wolligen Schafen, robusten Ponys unter einem windigen, regennassen Himmel bildlich vorstellen. Neben der rauen Schönheit der Natur führt uns Kathinka Engel auch die Herzlichkeit der Bewohner Lerwicks und den inspirierenden Familienzusammenhalt vor Augen. Kurzum: ich habe mich verliebt und habe dank der Autorin ein neues Wunschreiseziel (aber unbedingt für den Sommer!).


"Die Brandung rauscht zu unserer Rechten. Es duftet nach heller Nacht und salziger Weite. Der Sand zwischen meinen Zehen ist kühl und feucht, und ich erlebe jeden Moment so intensiv, als wäre er unendlich. Unendlicher Wind in den Haaren, unendlicher Tag um mich herum, unendliche Nähe zu Adair. In dieser Unendlichkeit würde ich mich am liebsten auflösen und ein ewiger Teil von ihr werden."


Sehr gut gefällt mir auch, wie die Autorin auch hier wieder mit den äußeren Bedingungen der Erzählung spielt und zum Beispiel mit der Wolken-Metapher in Effies Gedanken des Titels aufgreift. Auch die Anspielungen über den Reihentitel "Shetland-Love" aus Band 2 werden hier wieder aufgegriffen. Eine weitere Gemeinsamkeit mit den vorangegangenen Bänden ist, dass es in "Where the Clouds Move Faster" ebenfalls keine große Überraschungen gibt. Dafür kann die Geschichte aber wieder mit einer hinreißenden Protagonisten aufwarten, die man einfach lieben muss. Adair beschreibt Effie als Real-Life-Elfe und das trifft den Nagel auf den Kopf. Sie ist so fröhlich, so verrückt, so lebensfroh und übersprühend wie eine Elfe, dabei aber trotzdem menschlich, durchschnittlich, unsicher und oft traurig, dass man sie am liebsten durch die Seiten hinweg fest drücken würde. Ihre Komplexe, Ängste und Gedankengänge wirken auf den ersten Blick vielleicht verquer und unlogisch, dennoch kann man erschreckend gut nachfühlen, was sie beschäftigt. Es hat wohl jeder ein kleines Stückchen Effie in sich und das macht ihren Charakter so toll! Besonders herzzerreißend fand ich die Rückblicke in Effies Kindheit, die ihre Beziehung zu ihrem Vater näher erklärt und uns erkennen lässt, weshalb sie eine so große Angst vor Unhappy Enden hat. Auch woher der inflationäre und falsche Gebrauch ihrer "That´s what she said"-Witze kommt, finden wir hier endlich heraus.


"Ihr Lächeln... ist ein ganz eigenes Lächeln. Denn sogar ihr Lächeln ist traurig. Es ist breit und strahlend, aber auf eine herzzerreißende Art. Das glücklichste traurigste Mädchen der Welt."


Mit Adair hat Band 3 der Reihe zum ersten Mal einen männlichen Protagonisten, der neben der weiblichen Hauptfigur nicht zu blass bleibt und untergeht. Der bunte Anzüge tragende, Ukulele spielende Lebemensch ist der wohl exzentrischste Love Interest, von dem ich jemals gelesen habe und ich habe jedes Wort über ihn geliebt! Er ist bunt, laut und ein Weltmeister darin, schwierige Dinge auf einfache Art und Weise anzusprechen. Für seine Fähigkeit, Situationen zu entkrampfen und einfach genau das Richtige zu sagen hätte ich ihm gerne einen Orden verliehen! Beim Einfühlen in seine Perspektive helfen uns neben der sehr offenen Kommunikation vor allem auch kurze Ausschnitte aus seinem Notizbuch, in dem er zwischen den Kapiteln seine Gedanken und Gefühle darlegt. Am meisten habe ich an ihm aber gefeiert, dass wir ihm schon unbewusst mehrere Male während Band 1 und 2 begegnet sind und er sowohl Fiona als auch Nessa durch ihre dunkelsten Momente helfen durfte. Wie schön und rund kann eine Reihe bitte konzipiert sein? Kathinka Engel: Ja!


"Was macht man denn mit so viel Liebe?" "Wir erinnern uns dran", sage ich. "Eines Tages wird es nicht mehr wehtun, und dann wird die Erinnerung an all das das Allerschönste sein."


Auch die weiteren Figuren der Geschichte sind wie gewohnt mit viel Tiefe und einer nachvollziehbaren Entwicklung ausgestattet. Besonders Effies Schwestern stechen dabei positiv hervor und nehmen wieder einen großen und wichtigen Teil der Geschichte ein. Über die melancholische Fiona haben wir in Band 1 schon mehr erfahren und der rationalen Nessa durften wir in Band 2 dabei zusehen, wie sie wildere Seiten entdeckt und ebenfalls zwischen grünen Hügeln, wolligen Schafen und stürmischen Wellen ihre Liebe findet. Auch wenn die beiden besonders in ihren eigenen Geschichten vertieft werden, ging die Charakterisierung von Nessa und Fiona weit über die zweiter Nebenfiguren hinaus. Auch wenn sich dieser letzte Band sehr stark auf die Linklater-Schwestern und die Liebesgeschichte zwischen Effie und Adair konzentriert, dürfen auch ein paar neue Nebenfiguren auftreten. Sehr gefreut hat mich, dass wir mit dem schrägen, amerikanischen Opa, der neuerdings Marigolds Laden belagert ein kleines Easter-Egg-Crossover zu Kathinka Engels New Orleans Reihe bekommen. Ich will noch nicht zu viel verraten, aber ich brauche ganz dringend noch ein Spin-Off über Hugo und Marigold!!!


"Es ist, als würde sich ein Knoten entwirren. Als würde sich etwas auflösen. Oder neu zusammensetzen. Es sind nur zwei Sätze, zwei Sätze, die nicht mein Leben verändern, aber zwei Sätze, die meine Seele genau dort berühren, wo sie es braucht. Sie tippen etwas an. Einen Knopf oder so, und der setzt etwas in Gang. Und am Anfang dieser Kette von Sätzen, die gesagt werden, von Worten, die etwas auslösen, steht Adair."


"Where the Clouds Move Faster" endet in vielerlei Hinsicht wie es begonnen hat und auch wenn der externe Grundkonflikt, also die Bedrohung der Insel durch eine Immobilienfirma vom Festland, gerne noch eine größere Rolle hätte spielen können, da er doch sehr einfach und schnell gelöst wurde, ist die Geschichte von Effie und Adair einfach der perfekte Abschluss einer wunderbaren Reihe! Ich bin mir ganz sicher, dass ich nicht das letzte Mal nach Lerwick gereist bin und gerade dieser letzte Band muss unbedingt auf die dringliche Reread-Liste!


"Träum von mir, denke ich. Ich werde von dir träumen."



Fazit:

"Where the Clouds Move Faster" hat alles, was ein absolutes Herzensbuch ausmacht: besondere, aber dennoch lebensnahe Figuren mit Konflikten, in denen man sich wiederfinden kann, ein wunderschönes Setting, einen passenden, lebendigen Schreibstil und eine wichtige Botschaft - sich von der eignen Angst nicht den Weg zum Happy End verbauen zu lassen.

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