Extrem schlau und unglaublich empfindsam: Das erstaunliche Seelenleben der Kraken
Heide Sommer (Übersetzer)
Er kann gleichzeitig 1600 Küsse verteilen, mit der Haut schmecken, seine Farbe 177-mal in der Stunde ändern und sich trotz seiner 45 Kilo durch eine apfelsinengroße Öffnung zwängen. Sy Montgomery erzählt von einem wahren Wunderwesen der Meere: dem Oktopus. In ihrem preisgekrönten Buch lässt sie uns ein Wesen entdecken, von dessen erfindungsreicher Schläue und Empfindsamkeit wir nichts ahnten. »Phantastische Tiere. Phantastisches Buch«, so Donna Leon.
Ich liebe Kraken und bin fasziniert von diesen ungewöhnlichen Tieren. Die Autorin schildert ihre Begegnung mit einigen Oktopoden, die sie in einem großen Aquarium kennenlernt und was es für ein Gefühl ...
Ich liebe Kraken und bin fasziniert von diesen ungewöhnlichen Tieren. Die Autorin schildert ihre Begegnung mit einigen Oktopoden, die sie in einem großen Aquarium kennenlernt und was es für ein Gefühl ist, von ihnen berührt und von ihren Tentakeln ertastet und geschmeckt zu werden. Sie beschreibt, dass sich eine Beziehung aufbaut und die Tiere sie nicht nur wiedererkennen, sondern auch unterschiedliche Charaktere und Vorlieben haben. Gleichzeitig erfahren wir viel über den Lebenszyklus der Tiere, ihre Besonderheiten wie 3 Herzen, blaues Blut, den raschen Farbwechsel, der teilweise auch ihre Stimmung ausdrückt und das Nervensystem der Tentakeln. Ich fand besonders interessant, dass sie mit den Saugnäpfen auch schmecken können, diese einzeln drehen und steuern können und in jedem Saugnapf eine riesige Kraft steckt. Ihren Körper können sie durch die kleinsten Öffnungen quetschen, was ihnen auch zum Verhängnis werden kann. Eigentlich bin ich so großen Aquarien eher kritisch eingestellt, da ich finde, dass kein noch so großes Becken die Freiheit ersetzen kann, aber wenn man das ignoriert, ist es ein sehr schönes Buch. Es gibt Begegnungen mit Tieren, die die Seele berühren und es ist der Autorin gelungen, genau dies zu vermitteln.
Erschreckend fand ich allerdings, dass es wohl Privatleute gibt, die sich einen Oktopus halten. Schade, dass das nicht verboten ist, denn wie soll man so ein Tier zuhause artgerecht halten. Ich fand das Buch sehr lesenswert und man spürt die Liebe, Erfurcht, Achtung und Bewunderung der Autorin und der Aquariumsmitarbeiter für diese Tiere.
Im Diogenes Verlag erscheint Sy Montgomerys preisgekröntes Buch "Rendezvous mit einem Oktopus". Donna Leon hat das Nachwort geschrieben.
In einem Aquarium in Boston trifft die Autorin auf einen Pazifischen ...
Im Diogenes Verlag erscheint Sy Montgomerys preisgekröntes Buch "Rendezvous mit einem Oktopus". Donna Leon hat das Nachwort geschrieben.
In einem Aquarium in Boston trifft die Autorin auf einen Pazifischen Riesenkraken und macht damit die Entdeckung ihres Lebens. Diese Tiere lassen sie nicht mehr los und sie versucht hinter ihre Geheimnisse zu kommen. Wie empfindsam sind Oktopusse, wo versteckt sich ihr Gehirn, wie intelligent sind sie? Viele weitere Fragen erklärt Sy Montgomery in ihrem Buch und möchte eigentlich nur wissen: Haben Oktopoden eine Seele?
"Der Oktopus ist ein Tier, das über Gift verfügt wie eine Schlange, über einen Schnabel wie ein Papagei und über Tinte wie ein altmodischer Füllfederhalter. Er kann soviel wiegen wie ein Mensch... und seinen knochenlosen Körper durch ein Loch mit dem Durchmesser einer Orange zwängen." Zitat Seite 9
Als Sy Montgomery in der Auffangstation des New England Aquariums in Boston zum ersten Mal in ihrem Leben auf einen Pazifischen Riesenkraken trifft, ist sie fasziniert von diesen Tieren und es verändert ihren Blickwinkel auf die Welt.
Als Naturforscherin erlebt sie im Umgang mit diesen Tieren tiefe Zuneigung und Anerkennung. Krakendame Octavia erkennt ihre Pfleger am Geschmack ihrer Haut wieder und auch Sy kommt in den Genuss von Umarmungen und erlebt die Farbveränderungen bei Stimmungswechseln mit.
Die Autorin berichtet von ihren Erfahrungen und Begegnungen mit Kraken in Gefangenschaft und auch im offenen Meer und so erlebt man als Leser eine fesselnde Tierstory, lernt viel wissenswertes über Oktopoden dazu und versucht, hinter die Seele dieser Tiere blicken zu können.
Sie sind sehr intelligent, neugierig und haben auch persönliche Vor- und Abneigungen gegen manche Menschen. Dieses Verhalten schreibt man für gewöhnlich Menschen oder bestimmten Tieren wie Hund, Katze oder Vogel zu. Nun zeigt sich, dass der Oktopus genau diese Eigenschaften auch besitzt. Da stellt sich natürlich die Frage: Sind diese Tiere im Besitz einer Seele?
Dieses Buch gibt Aufschluss über die Lebensweise dieser Tiere, erklärt den einzigartigen Körperbau, die Wirkung und Funktion der Arme mit ihren Saugnäpfen, die Tarnung, das Paarungsverhalten, die Eiablage und die unglaubliche Intelligenz und rückt damit Kraken in den Mittelpunkt des Interesses.
Die helle Begeisterung der Autorin für Kraken springt beim Lesen auf mich über, ich fand die Tiere bisher schon ganz außergewöhnlich, doch nun erlebe ich Seiten an diesen Tieren, die mir bisher noch unentdeckt blieben.
Was allerdings gar nicht für Begeisterung sorgt, ist die Haltung von Riesen-Kraken in Aquarien, das ist absolut kein artgerechtes Leben. Deshalb habe ich mich beim Lesen häufig gefragt, wie Sy ihre Liebe zu den Tieren mit dieser Haltung vereinbahren konnte. Als lehrreiche Anschauungsobjekte sollten sie die Besucher verzaubern, auch ihr Paarungsverhalten wurde als öffentliches Schauspiel inszeniert und im Grunde wurde mit ihnen sicher auch viel Geld durch die Besucher verdient.
Über Zeichnungen und etwas Bildmaterial zu den beschriebenen Kraken hätte ich mich auch gefreut.
Trotz dieser Kritik hat mir der mitnehmende Erzählstil gefallen, neben vielen Beschreibungen von Personen, Tauchgängen und Erlebnissen wird auch eine Menge über das Verhalten, die Anatomie und die besondere Physiologie von Kraken mitgeteilt. Auch ein Forschungsvorhaben im offenen Meer wird näher erklärt.
Am meisten mochte ich jedoch die Szenen der persönlichen Begegnung von Sy mit einzelnen Oktopoden, die sie auf die ein oder andere Weise wiedererkannt haben.
Mit diesem Hintergrundwissen bekommt man eine erweiterte Sichtweise auf eine Tierart, die häufig nicht so hoch angesehen wird, wie es ihr zustehen mag. Tiere, egal welcher Gattung, haben Persönlichkeit und Individualität, die sie zu unseren Mitlebewesen auf der Erde machen und wir sollten sie schützen und ihre Arten erhalten.
Wenn man sich das Literaturverzeichnis im Anhang ansieht, merkt man, das dieses Buch keine romantische Erzählung ist, sondern auf Fakten und wissenschaftlichen Publikationen aufbaut.
Dieses Sachbuch verdeutlicht anschaulich die enge Beziehung der Autorin zu diesen Oktopoden, es ist spannend zu lesen, informiert und zeigt wie sehr wir Menschen doch andere Spezies unterschätzen.
Für alle Leser, die ein Faible für interessante Lebewesen und die Unterwasserwelt haben. Es öffnet die Sinne für das Bewusstsein, bzw. die Seele von Tintenfischen. Jedes Individuum ist wertvoll und einzigartig!
Der verbotene Tod in den Wassern
Dass Menschen zuweilen ganz unbefangen und narzisstisch über Dritte oder Drittes von ih-rem Begehren reden, als handle es sich um komplett Fremdes, ist nicht nur aus Wartezim-mern ...
Der verbotene Tod in den Wassern
Dass Menschen zuweilen ganz unbefangen und narzisstisch über Dritte oder Drittes von ih-rem Begehren reden, als handle es sich um komplett Fremdes, ist nicht nur aus Wartezim-mern von Arztpraxen oder aus Kindergärten bekannt. In ihrem Buch Rendezvous mit einem Oktopus schreibt die Journalistin Sy Montgomery so von Tintenfischen, als identifiziere sie sich und vor allem ihr Geschlechtsorgan unbewusst mit dem wirbellosen Tier. Dessen Eigen-schaften beschreibt sie durchweg als unglaublich, großartig, sagenhaft und was der Superla-tive mehr sind. Berührt und streichelt sie die Tintenfische, so ist auch sie glücklich. Bei so viel Enthusiasmus tut es nicht viel, dass die Tiere ein Leben in Unfreiheit im Aquarium fristen und bald sterben. Auch werden sie im Rahmen von Fressbelohnungen zu Kunststückchen wie La-byrinthbegehungen, Ballspielen und Türöffnungen gezwungen, weil sie sonst verhungerten. Das ist seit Francis Bacon das Setting des Experimentes mit der Natur auf der Folterbank, wie es auch Goethe moniert. Da zählt es auch nicht, dass die gelegten Eier, um die sich die Tin-tenfischmütter so rührend bemühen, im Aquarium unbefruchtet bleiben und ebenso wie sie selbst bald danach absterben müssen. Das begattende Männchen wird ohnehin oft genug bald nach dem Akt gefressen. Daher ist im Buch der von der Sensation einer wirbeltierlosen Intelligenz überblendete und verleugnete Tod allgegenwärtig. Stets aber ist bald ein neuer, frisch gefangener Tintenfisch zur Stelle. Tarnvermögen, Intelligenz und die Feinfühligkeit sei-ner ach so sensiblen Arme werden von der Autorin zuverlässig so beschrieben, als handele es sich um ein Deckbild für das weibliche Wunderorgan, die Klitoris, von der hier wohl eigent-lich die Rede sein dürfte. Auch sie besitzt nach neuesten Forschungen und Erkenntnissen Ver-bindungen in alle anderen Leibesregionen; man muss in Montgomerys emphatischen Text statt „Saugnäpfen“ nur „Nervenzellen“ einfügen und die wahren Quellen des Textes sprudeln mannigfaltig.
Schamlos vor der Scheibe
Da ihr diese Identifikation aber unbewusst unterläuft, ja ihre Welt offensichtlich kein Unbe-wusstes kennt, empfindet die Autorin auch keine Scham, alles über Tintenfische im Superlativ der kameradschaftlichen Mitteilsamkeit eines Menschen mit dem Herzen am rechten Fleck zusammenzutragen: Raus und zusammen Tintenfische streicheln, das ist das angekündigte gemeinschaftliche Abenteuer. Oder auch den Tieren voyeuristisch bei der Paarung zuzuse-hen, wie bei dem vom Aquarium in Seattle beworbenem jährlichen Kraken-Blind-Date am Valentinstag. Das ist unfreiwillig komisch und Montgomerys naiver Eifer erinnert an den Sketch von Monty Python’s Flying Circus, in dem John Cleese als Lehrer seine Schüler zwingt, ihm und seine Frau beim Sex zuzuschauen. Erregung kommt hier wie da nicht auf, hinter al-ler Sensation erfolgt alles ganz nüchtern und funktional wie bei den Kirchenvätern. Schließ-lich geht es auch hier nur um Fortpflanzung.
Errötend folgt sie ihren Spuren? Keine Spur!
Montgomery folgt also ihren Spuren, aber von Erröten kann keine Rede sein. Vor allem Scham ist ihr in diesem Zusammenhang fremd. Lust scheint nur als perverse durch, als re-gressiver sex with fishes bzw. mit sich selbst, der aber offiziell immer ehrfürchtig konnotiert ist. Kein Wunder, dass sich der Drogerie-Tycoon Dirk Rossmann dieses Buch ausgesucht hat, um in seinem Klimaroman Der neunte Arm des Oktopusses die Freundschaft zwischen Gert Schöder und Wladimir Putin zu beschreiben. Beide fahren in dem Roman zu unserer Autorin nach Amerika, um sich bei ihr über den Klimawandel zu informieren. Das ist ungefähr so, wie wenn Sandra Maischberger extra nach Stockholm fährt und Greta Thunberg interviewt, um einen positiven Satz über Atomenergie aufzuschnappen. (1) Es handelt sich also um einen weiteren Fall von Klimatrittbrettfahrerei.
„Freundschaft zwischen Mensch und Tier!“ (Arnold Hau)
Eingeflochten in Montgomerys Beschreibungen der Tiere werden weitere Klatsch- und Tratsch Geschichten aus der Familie der Autorin und der weiteren Mitarbeiter des Aquariums, die auf Weihnachtsfeiern, Tauchgängen oder Fischumsetzungen im Aquarium passieren: Wann ein Zitteraal seine Beckennachbarn mit einem Stromschlag tötet oder eine Mitarbeiterin von welchem Fisch gebissen wurde, wie daraus eine Pechsträhne wird und so weiter.
Auf Seite 365 etwa heißt es zur Weihnachtszeit:
Marion hat für uns alle Weihnachtsplätzchen gebacken, und ich verteile selbst ge-machte Backlava. Eben noch hat Octavia [die alte Krakin, W.B.] gierig zwei Kalmare verspeist, und nun können wir alle von ganzem Herzen hoffen, dass sie noch lange le-ben wird, ohne zu befürchten, dass Kalis [die junge Krakin, W.B.] junges Glück ihr den Lebensabend vermiest. Ich verlasse das Aquarium und singe Joy to the World, aber in der Version der Band Three Dog Night: »Joy to the fishes in the deep blue sea«. Ich bin innerlich erfüllt von Oktopus-Euphorie und freue mich auf die Segnungen des neuen Jahres.
Allerdings gilt hier: Obacht, offene Idylle, das kann nicht lange gutgehen! Tatsächlich erfährt unsere Autorin am nächsten Morgen, dass die Tintenfischin Kali tot ist. Sie war unbemerkt aus dem neuen Becken gekrochen und an der Luft vertrocknet. Anschließend werden trau-ernde Statements der Mitarbeiter des Aquariums auf die Frage zum Besten gegeben: „Was war Dein schönster Tag mit Kali?“ Dabei kommt heraus, dass gestern, als sie noch lebte, alles so wunderschön war – so lautet auch das Motto des Buches („Das Gestern bleibt vollkom-men“) aus dem Arsenal der ewigen Kalender-Sprüche, von dem getreulich nie abgewichen wird. Dann aber wird doch realisiert, dass Kalis Tod nicht mehr rückgängig gemacht werden kann: „‘Ich glaube, mir ist etwas klar geworden‘, sagte Anna zu mir, ‚nämlich: Was du heute tust, kann das, was gestern war, nicht mehr beeinflussen.‘“ So wird existentialistische Religion durch die Hintertür eingeführt. Und dann muss man natürlich auch hier das Positive sehen, schließlich wird auch hier praktisch gedacht:
Kali hatte großes Glück, überhaupt so lange zu leben. Die meisten Tintenfische ster-ben schon als Larve. Nur zwei von 100 000 Schlüpflingen leben bis zur Geschlechts-reife — sonst wären die Meere überfüllt mit Tintenfischen. »Wenigstens wissen wir, dass sie einen guten letzten Tag hatte«, sage ich. »Ja«, sagt Wilson, »sie hatte einen Tag in Freiheit. Und dass sie überhaupt rausgekommen ist, zeigt doch, was für ein un-glaublich neugieriges, intelligentes Lebewesen hier seine Freiheit suchte. Wir wissen ganz genau, dass es sie große Mühe gekostet haben muss. Ein dummes Tier hätte das nicht geschafft.« »Sie starb wie ein großer Entdecker«, sage ich. Wie die Astronauten, die bei der Challenger-Explosion ums Leben kamen, wie die tapferen Männer auf der Suche nach der Quelle des Nils, wie die Forscher im Amazonasgebiet oder unterwegs zu den Polen — genau wie diese hatte Kali bei dem Versuch, den Horizont ihrer klei-nen Welt zu erweitern, unbekannte Gefahren auf sich genommen. »Kraken haben ei-ne ganz besondere Intelligenz, an die wir nicht heranreichen«, sagt Wilson. »Wir kön-nen nur hoffen, aus unseren Fehlern zu lernen. Mehr können wir kaum tun. Schließ-lich«, so sagt er noch, »sind wir nur Menschen.« (S. 372-373)
So wird heiß und innig das Loblied der Gefangenschaft der Anderen gesungen. Von solcher Art ist die Dramatik und Weisheit des Buches, das über die Abstraktion der Unglaublichkeit eines Tintenfischlebens nirgendwo hinausgelangt.
Kitschige Märchenwelten: Das Leben ist ein großes Aquarium
Der 500 Seiten-Band ist damit die ideelle Gesamtallegorie einer wässerigen Gartenlaube. Es hält keinem Vergleich mit Victor Hugos großem Roman Die Arbeiter des Meeres stand, in dem es um einen furchterregenden namenlosen Oktopus geht, mit dem der Held Gilliatt er-folgreich ringt, um schließlich in der Welt der Menschen tragisch unterzugehen. (2) Bei Sy Montgomery dagegen tragen die Fische und Weichtiere menschliche Namen wie Oktaviana, Kali und Karma; auch Barry, der Baracuda oder Thomas, die Muräne, gehören zur Familie. Die Vermischung von realer Ausbeutung und Spielzeugen in Montgomerys Verhaltenslehre macht auch vor frustrierten männlichen Fruchtfliegen mit dem Hang zu Trinkerexistenzen nicht halt. (3) So wird der Rahmen des eigentlich verhaltensbiologisch-neutral gemeinten Berichtes statt durch eine Wissenschaft eher durch die Sandmännchen Sendung Klecksi, der Tintenfisch oder Ringo Starrs Kinderlied Octopus's Garden von der Beatles Platte Abbey Road (1969) bestimmt.
Ist gerade mal kein Tintenfisch zur Hand, weil im Aquarium alle gestorben sind und die Superlative durch wiederholende Beschreibungen abgenutzt und aufgebraucht, wird ein Szenenwechsel nötig. Dann unterhält die Autorin die Leserin und den Leser mit Sach- und Krachgeschichten aus dem Taucherleben: wie die Ohren schmerzen, die Orientierung verlo-ren geht oder man sich schon einmal in die Tauchermaske übergibt.
Innen und Außen
Unter dem Deckmantel eines Berichts über die so fremd erscheinenden Tintenfische als Re-präsentanten quasi außerirdischer Intelligenz spricht die Autorin so ganz von sich selbst aus der Tiefe des Nähkästchens. Dass das Äußere ein einen Geheimniszustand versetzte Innere sei, wusste vor Sigmund Freud und Jacques Lacan schon Novalis. Und auch Stanley Kubrick lässt seinen Astronauten David Bowman im Film 2001 Odyssee im Weltraum im Raum seiner eigenen Erinnerungen landen. (4) Das Unheimliche ist eine vergessene Form des Heimlichen; das gilt auch für das hymnisch Verklärte. Das vormals Fremde wird so zur Projektionsfläche des Eigenen. Dass die Leserinnen und Leser nebenbei auch etwas über die Biologie von Tin-tenfischen erfahren, ist gleichsam unvermeidlich und eine Art side-effect des Buches.
Daktari unter Wasser
Statt des schielenden Löwen Clarence und der tanzenden Schimpansin Judy wie bei Daktari haben wir hier nun die Kraken George und Paul, Oktavia und Kali. Die Autorin überträgt menschliche Verhaltensweisen auf Tiere, verleugnet es aber anders als Disneys Klassiker dieses Genres, Die Wüste lebt, vorderhand. (5) Die erste, naturwissenschaftlich erfasste Na-tur, bleibt auch hier in Wahrheit das Produkt der zweiten, sozial produzierten, als Imaginär und Wunderwelt. Das Buch bildet damit das affirmative Gegenstück zu Roger Caillois kriti-schen Buch Der Krake. (6) Dort wird die Angst vor dem Kopffüßler mit den großen Augen auf der Grundlage von Mythen mit einem antisemitischen Standard zusammengeführt, wonach der Oktopus für den grapschenden Kopfmenschen, den Juden, steht. Was Caillois als Fremdes mit dem kulturellen Hintergrund des Monsters verbindet, versucht die Autorin mit ihren per-sönlichen Assoziationen schönzureden. Das Resultat ist himmelweit voneinander verschieden: Spekulationen über die Angst hier und kalkulierter Ökokitsch dort. Im Zeitalter der Klimakri-se gilt: This kind of sex sells as well.
Vom Berg zum Meer
Sy Montgomerys hymnischer und identifizierter Bericht erscheint in der kleinformatigen schönen Reihe Diogenes Deluxe. Es passt dazu, dass Diogenes' Hausautorin Dona Leon, die bekannt ist für ihre kulturindustriellen Venedig-Krimis, ein nichtssagendes Nachwort beisteu-ert. In Zürichs Bergwelt war man wohl der Meinung, dass Lagune und Meer gut zusammen-liegen würden. Der Band sei zur Lektüre daher nur empfohlen, wenn man nichts anderes zur Hand hat, also etwa auf einer Kreuzfahrt (maritim!), der sprichwörtlichen einsamen Insel oder einer längeren Wanderung wie das beim Kritiker der Fall war. Aber auch da verlohnt es sich, stattdessen lieber die Tiere im Bach oder in der See zu beobachten, wenn auch vom Ufer aus. Aquarien sind im Zweifelfall genauso traurige Orte wie Zoologische Gärten. Nur eben unter Wasser.
(1) Vgl. Dirk Rossmann: Der neunte Arm des Oktopusses, Köln: Lübbe, 2020, S. 88–97.
(2) Vgl. Victor Hugo, Die Arbeiter des Meeres (1866), Hamburg: Achilla Presse 2017.
(3) „Eine andere Studie zeigte, dass männliche Fruchtfliegen, die deprimiert waren, nachdem ihre sexuellen Avancen von den Weibchen abgewiesen wurden, mit einer zwan¬zigprozentig höheren Wahrscheinlichkeit zum Trinken neigten (im Labor bekamen sie flüssige Nahrungser-gänzungsmittel mit Alkohol) als Männchen, die sexuell gesättigt waren.“ (S. 400).
(4) Vgl. 2001: Odyssee im Weltraum (Originaltitel: 2001: A Space Odyssey) USA 1968; Dreh-buch von Arthur C. Clarke.
(5) Vgl. Walt Disney, Die Wüste lebt (Originaltitel: The Living Desert), Dokumentarfilm USA 1953.
(6) Vgl. Roger Caillois, Der Krake: Versuch über die Logik des Imaginativen, München: Hanser 2013.