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Veröffentlicht am 06.04.2022

Unsentimental und mit dem gebotenen Respekt

Lenin auf Schalke
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Als gebürtiger Schweriner kennt er den Osten, hat auch schon darüber geschrieben, aber jetzt sollte sich der Autor Gregor Sander mal im Westen umschauen. Denkt zumindest sein Kumpel Schlüppi und empfiehlt ...

Als gebürtiger Schweriner kennt er den Osten, hat auch schon darüber geschrieben, aber jetzt sollte sich der Autor Gregor Sander mal im Westen umschauen. Denkt zumindest sein Kumpel Schlüppi und empfiehlt ihm Gelsenkirchen. Der Osten im Westen, die ehemalige Kohlestadt im Ruhrgebiet, die sämtliche Negativ-Rankings anführt. Ärmste Stadt Deutschlands, höchste Arbeitslosigkeit, niedrigstes Pro-Kopf-Einkommen. Wo die Touristenattraktionen aus Abraumhalden, alten Zechenhäusern und einer Lenin-Statue bestehen.

Unterkunft findet Sander bei Schlüppis Cousine Zonengabi (ihr erinnert euch an das Titanic Titelbild?), die mit ihrem Freund Ömer ein Bergmannshäuschen im Flöz Dickebank bewohnt, und noch immer mit Auftritten bei Vereinsfeiern etc. das Ossi-Klischee bedient, mit dem sie bekannt wurde, und davon offenbar mehr schlecht als recht leben kann. Ömer hat die Trinkhalle, das Büdchen, seines Vaters geerbt. Keine Goldgrube, aber man kommt über die Runden.

Allein oder mit diesen beiden, später auch mit Schlüppi, stromert er durch die Viertel, steht mit den arbeitslosen bergleuten Biere kippend am Tresen, versucht die Seele Gelsenkirchens jenseits von Buer (dem wohlhabenden Stadtteil) zu ergründen. Taucht ein in die Armut und Tristesse jenseits der Ruhrgebietsromantik, zeigt die Verwerfungen und Brüche auf, entdeckt aber auch die Heimatverbundenheit der Zurückgebliebenen. Nie voyeuristisch, nie überheblich, jederzeit mit dem gebotenen Respekt und Empathie. Herausgekommen ist dabei eine Sozialreportage über den Niedergang eines Ortes und die Auswirkungen auf dessen Bewohner, ein unsentimentaler Blick auf deren Leben. Aber gleichzeitig ermöglicht uns Sander auch Einblicke in die ostdeutsche Seele, nicht nur der Nach- sondern auch der Vorwendezeit.

„Lenin auf Schalke“ zeigt, es müssen nicht die Ozarks, West-Virginia oder Detroit sein. Wer sehen will, wie sich geschlossene Zechen und/oder das Abwandern der Industrie und damit der Wegfall von Arbeitsplätzen auf die Menschen auswirkt, denen damit die Lebensgrundlage entzogen wird, muss nur nach Gelsenkirchen schauen.

Veröffentlicht am 04.04.2022

Erschütternde Einblicke

Was im Verborgenen ruht
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Seit 1988 gibt es die Lynley/Havers-Reihe, die mittlerweile auf 21 Bände angewachsen ist. Ich bin seit Beginn eine überzeugte Leserin von Elizabeth Georges Kriminalromanen, in denen das Verbrechen fast ...

Seit 1988 gibt es die Lynley/Havers-Reihe, die mittlerweile auf 21 Bände angewachsen ist. Ich bin seit Beginn eine überzeugte Leserin von Elizabeth Georges Kriminalromanen, in denen das Verbrechen fast immer in den sozialen und gesellschaftspolitischen Kontext eingebettet ist. Manche Leser*innen kritisieren genau das, andere sind mit dem Umfang nicht glücklich (ja, knapp 800 Seiten eigenen sich nur bedingt als Happen für zwischendurch), kritisieren die Akribie der Autorin, mit der sie die handelnden Personen und deren Umfeld charakterisiert, ihr Beziehungsgeflecht beschreibt, die verschlungenen Wege der Ermittlungen aufzeichnet, die bisweilen die Geduld der Leser auf eine harte Probe stellen.

Es sind verschiedene Handlungsebenen, die uns in „Was im Verborgenen ruht“ begegnen, wobei mich Georges Eintauchen in die abgeschlossene Welt der nigerianischen Community im Londoner Nordosten am stärksten beeindruckt und erschüttert hat.

Simi, die achtjährige Tochter der Familie Bankole soll beschnitten werden, ein illegaler und verachtenswerter Eingriff, denn „„Die Mädchen werden eines Teils ihres Körpers und damit ihrer selbst beraubt, weil eine ignorante Tradition bestimmt, dass sie nichts empfinden dürfen. Versuchen sie, sich vorzustellen, was FGM für das Leben einer Frau bedeutet, für ihre Zukunft. Die Verstümmelung beraubt sie ihrer Identität, sie macht sie zur käuflichen Ware“ (Zitat, Seite 500), damit der Vater ein Hochzeitsversprechen arrangieren und einen hohen Brautpreis für sie erzielen kann. Deshalb hat er auch keine Skrupel, dieses Vorhaben auch mit brachialer Gewalt gegen den Willen seiner Familie durchzusetzen. Aber nur Tani, Simis Bruder, spricht sich offen dagegen aus und versucht alles Menschenmögliche, um seine kleine Schwester vor diesem Schicksal zu bewahren, die Mutter hingegen steht hinter dem Vorhaben ihres Mannes, möchte aber, dass die Beschneidung fachgerecht und unter hygienischen Bedingungen durchgeführt wird.

Lynley, Haver und Nkata tauchen erst nach knapp 200 Seiten auf und werden mit der Suche nach dem Mörder der schwarzen Polizistin Teo Bontempi beauftragt, was sich schwieriger als erwartet in der Hauptstadt des CCTV gestaltet. Viele Motive, viele Verdächtige. Erst als sich im Lauf der Handlung herausstellt, dass diese nicht nur als Mitglied einer Sondereinheit im Londoner Norden ermittelt hat, sondern selbst ein FGM-Opfer war, lichtet sich das Dunkel allmählich.

Natürlich tauchen auch jede Menge bekannte Gesichter aus der Reihe auf, manche wesentlich stärker in die Handlung involviert, als es auf den ersten Blick scheint, andere lediglich als Seitenfüller. Ohne Verlust für die Story hätte man hier rigoros kürzen können und sollen, beispielsweise diese langatmigen Beziehungsdiskussionen zwischen Lynley und seiner Freundin. Oder die Verkupplungsversuche von Havers‘ Kollegin. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.

Veröffentlicht am 22.03.2022

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Die Wächterinnen von New York
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Wenn eine Stadt mehr wäre als eine Ansammlung von Gebäuden, Straße und Sehenswürdigkeiten, hätte sie dann auch besondere Eigenschaften? Hätte sie eine Seele? Wäre sie wütend und abweisend oder freundlich ...

Wenn eine Stadt mehr wäre als eine Ansammlung von Gebäuden, Straße und Sehenswürdigkeiten, hätte sie dann auch besondere Eigenschaften? Hätte sie eine Seele? Wäre sie wütend und abweisend oder freundlich und einnehmend? Und wenn sie, warum auch immer, aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen möchte, wäre sie dann stark oder schwach? Würde sie dann Hilfe benötigen?

Die Science Fiction- und Fanatsy Autorin N.K. Jemisin nimmt uns in „Die Wächterinnen von New York“ mit in den Big Apple und spinnt genau um diese Ausgangssituation eine abgefahrene Story, die ich so noch nie gelesen habe. Allerdings möchte ich vorausschicken, dass dies nicht unbedingt mein bevorzugtes Genre ist, aber schon allein die Verankerung in der amerikanischen Realität mit ihren ethnisch vielfältigen Perspektiven und Problemen, speziell dem Rasissismus, hat mein Interesse an diesem Urban Fantasy Roman geweckt.

New York ist bereit aufzuwachen, geboren zu werden, benötigt aber dafür Unterstützung. Und da die Stadt mehr ist als die Summe ihrer Teile, gibt es fünf unterschiedliche Helfer/Avatare, analog den fünf Boroughs, aus denen die Stadt besteht. Und jede*r, der schon einmal dieses Metropole besucht hat, weiß um die Unterschiede, durch die sich diese auszeichnen.

Manhattan ist ein Student mit Vergangenheit, Brooklyn ist ein schwarzer Rapper, Anwalt und Stadtrat, Queens ist ein indisches Mathegenie auf der Durchreise, Bronx ist eine indigene Galeristin und Staten Island die typischengstirnige Weiße. Gemeinsam müssen sie Toleranz entwickeln, ihre Vorurteile überwinden, den ursprünglichen Avatar heilen und den Kampf gegen die Spaltung aufnehmen, um ihre Stadt zu retten. Gemeinsam, denn New York, das sind sie alle.

Anfangs etwas verwirrend, weil man sich in die Gedankenwelt der Autorin einlesen und die gelieferten Informationen verarbeiten muss. Dafür wird man mit einer faszinierenden Geschichte belohnt, die vielfältig, schlüssig und spannend ist und in ihrer Komplexität überrascht. Lesen!

Veröffentlicht am 22.03.2022

Verflechtungen oder All about the money

Das Jahr der Gier
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Ein britischer Journalist wird Opfer einer Messerattacke, eine junge Frau wird ermordet, zwei Vorfälle, die auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten erkennen lassen. Diese werden erst offensichtlich, ...

Ein britischer Journalist wird Opfer einer Messerattacke, eine junge Frau wird ermordet, zwei Vorfälle, die auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten erkennen lassen. Diese werden erst offensichtlich, als Melia Adan und Vincent Veih sich in die Ermittlungen einschalten und ihre Ergebnisse verbinden. Melia, die auf Bitten ihres Onkels eingreift, da der Journalist ein gemeinsamer Bekannter ist, und Vincent, der in dem Mordfall ermittelt und das Gefühl hat, dass sich dahinter mehr verbirgt, als der erste Anschein vermuten lässt. Offenbar hat ihn sein Gefühl nicht betrogen, denn alle Spuren führen zu Worldcard, dem Shooting Star am Himmel der Finanzdienstleister. Und je tiefer die beiden in diesen Fall einsteigen, desto hässlicher und entlarvender treten die Verflechtungen von Big Money und Politik zu Tage. Entscheidungsträger in hohen Positionen halten schützend ihre Hand über skrupellose Geschäftemacher, die selbst vor Mord nicht zurückschrecken, solange nur für sie auch ein Teil vom Kuchen abfällt. Und wie es in der Realität so ist, auch diese kommen wie immer ungeschoren davon.

Vom DAX-Konzern in die Insolvenz. Da sich Eckert in „Das Jahr der Gier, dem dritten Teil der Reihe mit Melia Adan und Vincent Veih, an Aufstieg und Fall des Finanzdienstleisters Wirecard orientiert, ist in Grundzügen bereits bekannt, wie es enden wird. Allerdings nimmt das diesem Politthriller aber weder die Spannung noch die Brisanz, da er einmal mehr als deutlich das von Gier nach Geld, Macht und Einfluss geprägte Agieren der (teilweise aus den Vorgängerbänden bekannten) Akteure aus Wirtschaft und Politik sowie das skrupellose Vorgehen der Geheimdienste und ihrer Vertreter aufzeigt.

Ein Politthriller, wie er spannender nicht sein könnte. Warum? Weil dessen Handlung die gesellschaftspolitische Realität nicht nur abbildet sondern Entwicklungen fast schon visionär vorwegnimmt. Unbedingte Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 04.03.2022

Rechts und links der Grenze

Kaiserstuhl
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Brigitte Glaser ist in Südbaden verwurzelt, und so ist es nicht überraschend, dass sie sich in ihrem neuen Roman „Kaiserstuhl“ die jüngere Geschichte dieser Region genauer anschaut, von der es nur ein ...

Brigitte Glaser ist in Südbaden verwurzelt, und so ist es nicht überraschend, dass sie sich in ihrem neuen Roman „Kaiserstuhl“ die jüngere Geschichte dieser Region genauer anschaut, von der es nur ein Katzensprung auf die französische Seite ist.

Das benachbarte Elsass hat eine wechselhafte Geschichte, war schon immer ein Spielball der Mächte, mal zu Frankreich, mal zu Deutschland gehörend. Im Zweiten Weltkrieg annektieren die Nationalsozialisten 1940 das Elsass und schließen es mit Baden zusammen. Widerstand auf französischer Seite ist kaum auszumachen, es gibt nur wenige Resistance-Gruppen, die auch noch gnadenlos verfolgt und zerschlagen werden. Erst 1944 wird das Elsass unter Mitwirkung der Alliierten zurückerobert und fühlt sich auch seither Frankreich zugehörig.

1959 wird Charles de Gaulle Präsident der Republik. Während seiner Amtszeit setzt er alles daran, die Aussöhnung von Deutschland und Frankreich voranzutreiben und diese durch einen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag (= Élysée-Vertrag, im Januar 1963 von de Gaulle und Adenauer unterzeichnet) zu besiegeln.

Zur Feier dieses historischen Ereignisses soll nach erfolgter Unterzeichnung mit einem 1937er Champagner mit einer ganz speziellen Geschichte angestoßen werden, von dem es nur noch eine Flasche gibt. Diese ist jedoch verschwunden, und hier verbindet sich die große Weltpolitik mit dem Schicksal der Freiburger Weinhändlerin Henny und dem elsässischen Cineasten Paul, ihrem sitzengelassenen Ex-Verlobten, der damit beauftragt wird, diesen Champagner aufzuspüren. Aber es gibt noch andere „Interessenten“ mit weniger hehren Motiven, mit denen sie sich herumschlagen müssen, denn offenbar birgt die Flasche ein brisantes Geheimnis.

Aber natürlich agieren die beiden auf der Suche nach dem edlen Tropfen nicht im luftleeren Raum. Wir erfahren etwas über deren gemeinsame Vergangenheit, über die Familiengeschichten der Protagonisten, über in der Vergangenheit getroffene schlechte Entscheidungen, die bis in die Gegenwart Schuldgefühle verursachen.

Positiv überrascht hat mich die Entscheidung der Autorin, die Atmosphäre der sechziger Jahre nicht durch die überbordende Nennung von Konsumartikeln zu veranschaulichen. Ihr Fokus richtet sich auf die kulturellen Veränderungen, die langsam aber sicher von Frankreich nach Deutschland überschwappen und den Mief der Nachkriegsjahre vertreiben. Hier kommt es ihr natürlich zupass, dass Paul ein glühender Fan der Nouvelle Vague ist und uns Leserinnen durch die Nennung der Titel immer wieder Filme, Regisseure und Schauspieler aus dieser Zeit ins Gedächtnis gerufen werden.

Ein vielschichtiger Roman, in dem Historisches gekonnt in unterhaltsame Fiktion verpackt ist und der dennoch nicht platt daherkommt. Empfehlenswert, vor allem für Leser
innen rechts und links der Grenze.