Nach Engelsnacht, dem etwas schwachen ersten Teil der Serie, waren manche Leser noch unschlüssig, ob sie dem zweiten Teil eine Chance geben sollten. Wer den Auftakt nicht schlecht, sondern einfach nur mittelmäßig fand, sollte dies auf jeden Fall tun, denn Engelsmorgen ist in vielerlei Hinsicht wesentlich besser gelungen als sein Vorgänger.
Während man im ersten Band mit Luce völlig im Dunkeln tappt, was teilweise wirklich sehr frustrierend war, wird man im zweiten Teil geradezu mit den verschiedensten Informationen überhäuft. Das hilft einem zunächst jedoch nicht wirklich weiter, da man sie noch nicht richtig einzuordnen vermag und sie teilweise auch sehr widersprüchlich sind, sodass man noch genauso ratlos ist wie zuvor. Was hat es wirklich mit Luce und Daniel auf sich? Was ist damals beim Engelssturz geschehen? Was für ein Kampf steht kurz bevor? Und warum haben es so viele auf Luce abgesehen?
Nach und nach kommt aber zumindest ein wenig Licht ins Dunkel. Es sind zwar immer noch unzählige Fragen offen, aber die Autorin gibt dem Leser immerhin endlich Raum für Spekulationen. Der ein oder andere Verdacht kommt schließlich auf und kann dann in den folgenden Bänden entweder bestätigt oder entkräftet werden.
Die Handlung von Engelsmorgen ist fesselnder und actionreicher als die des Vorgängers. Vor allem im letzten Abschnitt kommt wieder richtig Spannung auf und Lauren Kate überrascht mit einem interessanten, unerwarteten Ende, das wirklich neugierig auf den dritten Teil macht.
Im Vordergrund stehen aber die Gedanken und Gefühle von Luce, deren Persönlichkeit man in diesem Teil viel näher kennen lernt, wodurch man sich auch besser mit ihr identifizieren kann. Lediglich ihre regelrechte Besessenheit von Daniels Flügeln kann man nicht unbedingt nachempfinden.
Durch ihren Aufenthalt in Shoreline erkennt Luce, dass die Welt nicht nur schwarz/weiß ist, sondern es auch etliche Grautöne gibt. Sie kann nicht alle Engel in die Schublade „gut“ und alle Dämonen in die Schublade „böse“ stecken, wie sie es bisher angenommen hatte. Sie beginnt sogar an ihren Gefühlen für Daniel und ihrer Beziehung zu ihm zu zweifeln, was sehr nachvollziehbar ist. Was weiß sie schon wirklich über ihn? Was verbindet sie, abgesehen von ihrer gemeinsamen Vergangenheit, von der Luce aber nichts weiß, miteinander? Würde sie ihn auch lieben, wenn es diese frühren Leben nicht gäbe? Außerdem hinterfragt Luce die wenigen Informationen, die Daniel von sich aus preisgibt, weil er ihr noch wesentlich mehr verheimlicht.
Im Gegensatz zu Luce, die dem Leser inzwischen mehr ans Herz gewachsen ist, muss Daniel wegen seines gebieterischen Verhaltens an Sympathie einbüßen. Es ist zwar durchaus verständlich, dass er Luce um jeden Preis beschützen will, nach dem er sie schon so oft hat sterben sehen ohne etwas dagegen tun zu können, aber er kann in der heutigen Zeit nicht von Luce erwarten, dass sie ihm blind gehorcht und einfach alles was er sagt bzw. eigentlich schon befiehlt hinnimmt, ohne irgendwelche plausiblen Gründe dafür zu nennen. Es ist nicht verwunderlich, dass Luce sich nicht an seine „Regeln“ hält, wenn er sie wie ein kleines Kind behandelt und über alles in Unwissenheit lässt, insbesondere über die Frage, wer es auf sie abgesehen hat und wieso. Er belügt sie, verschweigt ihr alles Mögliche und beantwortet so gut wie nie irgendeine Frage. Das ist furchtbar und lässt einen manchmal sogar an seinen Gefühlen für Luce zweifeln.
Neben den bereits bekannten Figuren wie z.B. Cam, der leider nur sehr selten auftaucht und von dem man immer noch nicht so wirklich weiß, wo er nun steht bzw. wie er zu Luce steht, hat der zweite Teil der Serie außerdem ein paar tolle, neue Charaktere zu bieten. Dazu zählen vor allem Shelby und Miles, die Luce in Shoreline kennen lernt und die Beide zu den Nephilim gehören.
Miles hat einen sehr liebenswerten Charakter und heißt Luce von Anfang an mit offenen Armen in dem Internat willkommen. Er ist ein toller Zuhörer und wird ihr ein richtig guter, aufrichtiger Freund.
Das gilt auch für Shelby, allerdings dauert es bei ihr wesentlich länger, weil sie Luce gegenüber zunächst Vorurteile hat und sich sehr abweisend ihr gegenüber verhält. Mit der Zeit lernt sie ihre Mitbewohnerin aber besser kennen und trotz der anfänglichen Differenzen bauen die Beiden eine sehr enge Beziehung zueinander auf.
Beide Figuren wachsen einem total ans Herz und sie werden hoffentlich auch im nächsten Band wieder eine so große Rolle spielen.
Der Schreibstil von Lauren Kate ist stellenweise ziemlich pathetisch und etwas zu überladen. Nach einer Weile gewöhnt man sich jedoch daran, sodass es einem nicht mehr ganz so stark auffällt und den Lesefluss zumindest nicht bremst. Über diesen Kritikpunkt sieht man aber angesichts der anderen grundlegenden Verbesserungen gern hinweg.
FAZIT
Die Handlung an sich war schon bei Engelsnacht interessant, doch die Umsetzung ist bei Engelsmorgen im Vergleich zum Vorgänger erheblich besser gelungen und übertrifft die niedrigen Erwartungen, mit denen man nach dem ein wenig enttäuschenden ersten Teil vielleicht an die Fortsetzung heran geht, um Längen.
Man lernt verschiedene Facetten von Luce kennen und ihr Charakter erhält mir Tiefe, wodurch man nun eine richtige Bindung zu ihr aufbauen kann. Man erfährt endlich etwas mehr über die verschiedenen Zusammenhänge und kann ein paar Vermutungen anstellen.
Im Gegensatz zum ersten Band macht Engelsmorgen, vor allem durch das unvorhergesehene Ende, richtig Lust auf den nächsten Teil, der hoffentlich noch in diesem Jahr erscheint.