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Veröffentlicht am 11.04.2022

Leander Losts Extratour

Einsame Entscheidung
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Leander Lost, ursprünglich von seinem deutschen Arbeitgeber im Rahmen eines Austauschprogramms nach Portugal abgeschoben, hat sowohl beruflich als auch privat seinen Platz im portugiesischen Fuseta gefunden. ...

Leander Lost, ursprünglich von seinem deutschen Arbeitgeber im Rahmen eines Austauschprogramms nach Portugal abgeschoben, hat sowohl beruflich als auch privat seinen Platz im portugiesischen Fuseta gefunden. Seine Teamkollegen von der Policia Judiciaria mögen und respektieren ihn, schätzen die besonderen Fähigkeiten, die er als Asperger-Autist mitbringt und die so manches Mal für die Auflösung eines Falls entscheidend sind.

Der Leichenfund in einem Ferienhaus lässt ein Beziehungsdrama vermuten, denn die weibliche Begleitung des toten Briten ist spurlos verschwunden. Einzig Leander Lost hegt Zweifel an dieser einfachen Erklärung, denn warum ist der Leichnam barfuß und seine Schuhe nirgends zu finden? Zwar erntet er für sein Insistieren auf dieser Besonderheit das Kopfschütteln seiner Kollegen, aber da er in der Vergangenheit durch seine besondere Beobachtungsgabe und Detailbesessenheit schon oft zur Lösung der Fälle beigetragen hat, lässt Graciana das Team in alle Richtungen ermitteln. Die Hauptverdächtige, Antonia, kann schnell gefunden werden. Bei ihrer Befragung stell sich heraus, dass sowohl sie als auch ihr toter Kollege für einen Chemiekonzern tätig sind, dessen neuestes Produkt kurz vor der Markteinführung steht. Ein Düngemittel, das weltweit und gerade im südeuropäischen Raum, in dem durch die intensive Nutzung der Agrarflächen Raubbau mit der Natur betrieben wird (wer schon einmal in Almeria war, weiß wovon ich rede), für die Produzenten von unschätzbarem Vorteil, aber für die Konsumenten mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden wäre.

Ein brisanter Fakt, der nicht an die Öffentlichkeit gelangen soll, weshalb das Unternehmen mit Hilfe von Sonderermittlern aus Lissabon Antonia mundtot machen möchte. Eine Vorgehensweise, die Leander, der sich immer und überall der absoluten Wahrheit verpflichtet fühlt, nicht tolerieren kann. Und so trifft er eine „Einsame Entscheidung“, handelt, zumindest für Außenstehende, entgegen jeder Logik.

Auch dieser fünfte Band der Leander Lost-Reihe hält das für einen Urlaubskrimi ausgesprochen hohe Niveau, das Gil Ribeiro aka Holger Karsten Schmidt bereits in den Vorgängern gezeigt hat, denn das Thema, das dem Kriminalfall diesmal zugrunde liegt, ist aktueller, politischer, und geht uns alle an. Aber dennoch lässt die Rahmenhandlung rund um das Team von Sub-Inspektorin Graciana Rosado (und deren Familie) den gewohnten Charme nicht vermissen.

Eine Krimireihe mit schöner portugiesischer Atmosphäre, in der die Menschen und ihre Beziehungen untereinander ein elementarer Faktor sind, aber die jeweiligen Fälle nicht in den Hintergrund gedrängt werden. Hier erkennt man deutlich die Qualität des Drehbuchautors. Liebenswerten Protagonisten, die man gerne in Aktion sehen möchte. Es wird uns vergönnt sein, denn Band 1 „Lost in Fuseta“ ist bereits abgedreht und wird im Herbst 2022 als Zweiteiler in der ARD ausgestrahlt. Ich freue mich darauf!

Veröffentlicht am 07.04.2022

Freud und Leid einer Hobbygärtnerin

Neulich im Beet
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„Auf dem Boden der Tatsachen“ heißt die Kolumne der Journalistin Stefanie Flamm in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT, in der sie die Leser*innen regelmäßig mit Informationen über ihren Garten in der Uckermark/Brandenburg ...

„Auf dem Boden der Tatsachen“ heißt die Kolumne der Journalistin Stefanie Flamm in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT, in der sie die Leser*innen regelmäßig mit Informationen über ihren Garten in der Uckermark/Brandenburg versorgt und gleichzeitig durch das Gartenjahr führt. Nun gibt es in dem Buch „Neulich im Beet“ die gesammelten Artikel mit wunderschönen Illustrationen von Monika Dietrich-Bartkiewicz.

Flamm lebt mit ihrer Familie in Berlin, aber wie so viele Hauptstädter haben sie sich ein Wochenendgrundstück in der nahegelegenen Uckermark gekauft. Und was machen die Städter am Wochenende auf dem Land, wenn die Angebote zur Freizeitgestaltung dünn gesät sind? Richtig, sie buddeln in der Erde, beschließen, das Grundstück in die Gärten von Sanssouci zu verwandeln und träumen von einem Leben als Selbstversorger. Mit der Bodenqualität könnte man das zur Not ja noch realisieren, aber zu dumm, dass die Uckermark die regenärmste Gegend Deutschlands ist. Aber probieren kann man es, gibt ja sonst nicht viel zu tun. Also Ärmel hochkrempeln und ran an den Spaten-

Ein Blick auf den Untertitel verrät es schon: „Alles dauert ewig, und die Hälfte misslingt“. Die Pflänzchen dienen den Schnecken als Imbiss, die Krokuszwiebeln holen sich die Wühlmäuse. Und dann wagt sie sich auch noch an so exotische Pflanzen wie Artischocken und Radicchio, auch mit mäßigem Erfolg, dafür von den Einheimischen misstrauisch beäugt. Einzig die Kürbisse gedeihen auf dem Komposthaufen in Mengen, so dass sie die prächtigen Exemplare freigiebig an die Dorfbewohner verteilen kann und sich so deren Anerkennung verdient.

Es ist kein Gartenbuch, bietet keine Anleitungen für erfolgreiches Gärtnern, dafür aber jeder Hobbygärtnerin unzählige und äußerst unterhaltsame Genau-so-ist-es Momente. Und so kann man der zweiten Hälfte des Untertitel bedenkenlos und uneingeschränkt zustimmen: „Aber es gibt nichts Schöneres als Gärtnern“.

Veröffentlicht am 06.04.2022

Unsentimental und mit dem gebotenen Respekt

Lenin auf Schalke
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Als gebürtiger Schweriner kennt er den Osten, hat auch schon darüber geschrieben, aber jetzt sollte sich der Autor Gregor Sander mal im Westen umschauen. Denkt zumindest sein Kumpel Schlüppi und empfiehlt ...

Als gebürtiger Schweriner kennt er den Osten, hat auch schon darüber geschrieben, aber jetzt sollte sich der Autor Gregor Sander mal im Westen umschauen. Denkt zumindest sein Kumpel Schlüppi und empfiehlt ihm Gelsenkirchen. Der Osten im Westen, die ehemalige Kohlestadt im Ruhrgebiet, die sämtliche Negativ-Rankings anführt. Ärmste Stadt Deutschlands, höchste Arbeitslosigkeit, niedrigstes Pro-Kopf-Einkommen. Wo die Touristenattraktionen aus Abraumhalden, alten Zechenhäusern und einer Lenin-Statue bestehen.

Unterkunft findet Sander bei Schlüppis Cousine Zonengabi (ihr erinnert euch an das Titanic Titelbild?), die mit ihrem Freund Ömer ein Bergmannshäuschen im Flöz Dickebank bewohnt, und noch immer mit Auftritten bei Vereinsfeiern etc. das Ossi-Klischee bedient, mit dem sie bekannt wurde, und davon offenbar mehr schlecht als recht leben kann. Ömer hat die Trinkhalle, das Büdchen, seines Vaters geerbt. Keine Goldgrube, aber man kommt über die Runden.

Allein oder mit diesen beiden, später auch mit Schlüppi, stromert er durch die Viertel, steht mit den arbeitslosen bergleuten Biere kippend am Tresen, versucht die Seele Gelsenkirchens jenseits von Buer (dem wohlhabenden Stadtteil) zu ergründen. Taucht ein in die Armut und Tristesse jenseits der Ruhrgebietsromantik, zeigt die Verwerfungen und Brüche auf, entdeckt aber auch die Heimatverbundenheit der Zurückgebliebenen. Nie voyeuristisch, nie überheblich, jederzeit mit dem gebotenen Respekt und Empathie. Herausgekommen ist dabei eine Sozialreportage über den Niedergang eines Ortes und die Auswirkungen auf dessen Bewohner, ein unsentimentaler Blick auf deren Leben. Aber gleichzeitig ermöglicht uns Sander auch Einblicke in die ostdeutsche Seele, nicht nur der Nach- sondern auch der Vorwendezeit.

„Lenin auf Schalke“ zeigt, es müssen nicht die Ozarks, West-Virginia oder Detroit sein. Wer sehen will, wie sich geschlossene Zechen und/oder das Abwandern der Industrie und damit der Wegfall von Arbeitsplätzen auf die Menschen auswirkt, denen damit die Lebensgrundlage entzogen wird, muss nur nach Gelsenkirchen schauen.

Veröffentlicht am 04.04.2022

Erschütternde Einblicke

Was im Verborgenen ruht
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Seit 1988 gibt es die Lynley/Havers-Reihe, die mittlerweile auf 21 Bände angewachsen ist. Ich bin seit Beginn eine überzeugte Leserin von Elizabeth Georges Kriminalromanen, in denen das Verbrechen fast ...

Seit 1988 gibt es die Lynley/Havers-Reihe, die mittlerweile auf 21 Bände angewachsen ist. Ich bin seit Beginn eine überzeugte Leserin von Elizabeth Georges Kriminalromanen, in denen das Verbrechen fast immer in den sozialen und gesellschaftspolitischen Kontext eingebettet ist. Manche Leser*innen kritisieren genau das, andere sind mit dem Umfang nicht glücklich (ja, knapp 800 Seiten eigenen sich nur bedingt als Happen für zwischendurch), kritisieren die Akribie der Autorin, mit der sie die handelnden Personen und deren Umfeld charakterisiert, ihr Beziehungsgeflecht beschreibt, die verschlungenen Wege der Ermittlungen aufzeichnet, die bisweilen die Geduld der Leser auf eine harte Probe stellen.

Es sind verschiedene Handlungsebenen, die uns in „Was im Verborgenen ruht“ begegnen, wobei mich Georges Eintauchen in die abgeschlossene Welt der nigerianischen Community im Londoner Nordosten am stärksten beeindruckt und erschüttert hat.

Simi, die achtjährige Tochter der Familie Bankole soll beschnitten werden, ein illegaler und verachtenswerter Eingriff, denn „„Die Mädchen werden eines Teils ihres Körpers und damit ihrer selbst beraubt, weil eine ignorante Tradition bestimmt, dass sie nichts empfinden dürfen. Versuchen sie, sich vorzustellen, was FGM für das Leben einer Frau bedeutet, für ihre Zukunft. Die Verstümmelung beraubt sie ihrer Identität, sie macht sie zur käuflichen Ware“ (Zitat, Seite 500), damit der Vater ein Hochzeitsversprechen arrangieren und einen hohen Brautpreis für sie erzielen kann. Deshalb hat er auch keine Skrupel, dieses Vorhaben auch mit brachialer Gewalt gegen den Willen seiner Familie durchzusetzen. Aber nur Tani, Simis Bruder, spricht sich offen dagegen aus und versucht alles Menschenmögliche, um seine kleine Schwester vor diesem Schicksal zu bewahren, die Mutter hingegen steht hinter dem Vorhaben ihres Mannes, möchte aber, dass die Beschneidung fachgerecht und unter hygienischen Bedingungen durchgeführt wird.

Lynley, Haver und Nkata tauchen erst nach knapp 200 Seiten auf und werden mit der Suche nach dem Mörder der schwarzen Polizistin Teo Bontempi beauftragt, was sich schwieriger als erwartet in der Hauptstadt des CCTV gestaltet. Viele Motive, viele Verdächtige. Erst als sich im Lauf der Handlung herausstellt, dass diese nicht nur als Mitglied einer Sondereinheit im Londoner Norden ermittelt hat, sondern selbst ein FGM-Opfer war, lichtet sich das Dunkel allmählich.

Natürlich tauchen auch jede Menge bekannte Gesichter aus der Reihe auf, manche wesentlich stärker in die Handlung involviert, als es auf den ersten Blick scheint, andere lediglich als Seitenfüller. Ohne Verlust für die Story hätte man hier rigoros kürzen können und sollen, beispielsweise diese langatmigen Beziehungsdiskussionen zwischen Lynley und seiner Freundin. Oder die Verkupplungsversuche von Havers‘ Kollegin. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.

Veröffentlicht am 22.03.2022

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Die Wächterinnen von New York
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Wenn eine Stadt mehr wäre als eine Ansammlung von Gebäuden, Straße und Sehenswürdigkeiten, hätte sie dann auch besondere Eigenschaften? Hätte sie eine Seele? Wäre sie wütend und abweisend oder freundlich ...

Wenn eine Stadt mehr wäre als eine Ansammlung von Gebäuden, Straße und Sehenswürdigkeiten, hätte sie dann auch besondere Eigenschaften? Hätte sie eine Seele? Wäre sie wütend und abweisend oder freundlich und einnehmend? Und wenn sie, warum auch immer, aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen möchte, wäre sie dann stark oder schwach? Würde sie dann Hilfe benötigen?

Die Science Fiction- und Fanatsy Autorin N.K. Jemisin nimmt uns in „Die Wächterinnen von New York“ mit in den Big Apple und spinnt genau um diese Ausgangssituation eine abgefahrene Story, die ich so noch nie gelesen habe. Allerdings möchte ich vorausschicken, dass dies nicht unbedingt mein bevorzugtes Genre ist, aber schon allein die Verankerung in der amerikanischen Realität mit ihren ethnisch vielfältigen Perspektiven und Problemen, speziell dem Rasissismus, hat mein Interesse an diesem Urban Fantasy Roman geweckt.

New York ist bereit aufzuwachen, geboren zu werden, benötigt aber dafür Unterstützung. Und da die Stadt mehr ist als die Summe ihrer Teile, gibt es fünf unterschiedliche Helfer/Avatare, analog den fünf Boroughs, aus denen die Stadt besteht. Und jede*r, der schon einmal dieses Metropole besucht hat, weiß um die Unterschiede, durch die sich diese auszeichnen.

Manhattan ist ein Student mit Vergangenheit, Brooklyn ist ein schwarzer Rapper, Anwalt und Stadtrat, Queens ist ein indisches Mathegenie auf der Durchreise, Bronx ist eine indigene Galeristin und Staten Island die typischengstirnige Weiße. Gemeinsam müssen sie Toleranz entwickeln, ihre Vorurteile überwinden, den ursprünglichen Avatar heilen und den Kampf gegen die Spaltung aufnehmen, um ihre Stadt zu retten. Gemeinsam, denn New York, das sind sie alle.

Anfangs etwas verwirrend, weil man sich in die Gedankenwelt der Autorin einlesen und die gelieferten Informationen verarbeiten muss. Dafür wird man mit einer faszinierenden Geschichte belohnt, die vielfältig, schlüssig und spannend ist und in ihrer Komplexität überrascht. Lesen!