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Veröffentlicht am 20.04.2022

Konflikte zwischen Wind und Wellen

Acht, in Böen neun
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Subtile Spannung, gerade auch psychologish, und ein Drama, das sich erst nach und nach entfaltet: Michael Wirbitzkys Hörbuch "Acht, in Böen neun" ist mit einer Länge von 138 Minuten zwar kaum länger als ...

Subtile Spannung, gerade auch psychologish, und ein Drama, das sich erst nach und nach entfaltet: Michael Wirbitzkys Hörbuch "Acht, in Böen neun" ist mit einer Länge von 138 Minuten zwar kaum länger als ein Kinofilm, aber in dieser Zeit baut sich eine Menge auf. Das liegt sicher auch an den gleich vier Sprecherinnen und Sprecher - dadurch erinnert das Buch eher an ein Hörspiel. Allerdings ein Kammerspiel, denn die Handlung entschlüsselt sich aus einer Reihe von Monologen, Protokollen einer Polizeibefragung einer Gruppe von Freunden, die gemeinsam zu einem Segelurlaub nach Korsika aufgebrochen sind.

Die meisten Mitglieder des Segeltörns kennen sich seit 20 Jahren, sind immer wieder zusammen gesegelt, wenn auch in unterschiedlichen Zusammensetzungen. Diesmal musste die Rückkehr in den südfranzöischen Hafen zur Rückgabe der Charteryacht trotz einer Sturmwarnung über Nacht erfolgen, da die Gruppe auf Korsika Zeit vertrödelt hatte. Dass dabei etwas gewaltig schief lief, wird schon dadurch deutlich, dass sich plötzlich ein polizeilicher Ermittler für die Gruppe und ihren Törn interessiert und schon bald wird klar, dass nicht alle der sieben Menschen, die nach Korsika aufgebrochen sind, auch in den südfranzösischen Hafen zurückgekehrt sind.

Der Sturm, in den die Yacht geriet, ist irgendwie auch ein Symbol der Spannungen und Brüche, die innerhalb der Freundesgruppe existieren und die lange verschwiegen wurden. Nun, da jede und jeder die eigene Sichtweise schildert, treten Konflikte und Ego-Spielchen, Eifersüchteleien und Persönliches zutage. Wirbitzkiy hat gewissermaßen ein locked room-Drama mit der Weite des Meeres und Naturgewalten verwoben - eine gelungene Mischung. Beim Hören kann man miträtseln, das Beziehungsgeflecht immer besser überblicken, nur um am Ende doch überrascht zu werden. Die Sprecherinnen und Sprecher sind mit hörbarer Spielfreude im Einsatz gewesen. Hätte gerne noch länger dauern können!

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Veröffentlicht am 11.04.2022

Manchmal gibt es nur Opfer

Verlassen
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or in paar Jahren bin ich erstmals auf die Spreewaldkrimis von Christiane Dieckerhoff gestoßen und fand die Hauptfigur Klaudia Wagner gleich sympathisch. Die spröde Einzelgängerin, die es aus dem Ruhrpott ...

or in paar Jahren bin ich erstmals auf die Spreewaldkrimis von Christiane Dieckerhoff gestoßen und fand die Hauptfigur Klaudia Wagner gleich sympathisch. Die spröde Einzelgängerin, die es aus dem Ruhrpott in den Spreewald verschlagen hat (und nicht, wie in so vielen anderen Regionalkrimis, an die Nordsee), nicht mehr ganz jung, trotz aller Erfahrung nicht abgeklärt, unterscheidet sich angenehm von Superheld*innen - bodenständig und glaubwürdig eben, mit all ihren Unsicherheiten und "Altlasten".

Um emotionale Altlasten und und die Folgen einer deutsch-deutschen Geschichte geht es auch im neuesten Spreewaldkrimi, "Verlassen". Eine offensichtlich wohlhabende Touristin aus Dortmund ist verschwunden, ihre erwachsenen Kinder melden sie als vermisst. Zuletzt wurde die Frau gesehen, als sie betrunken Richtung Hafen torkelte. Ein Förster findet später ihre Leiche.

Auf einer zweiten Erzähl- und Zeitebene geht es um Männi und Matte, zwei Geschwister in der damaligen DDR, offenbar noch im Vorschulalter. Doch immer wieder verschwindet ihre Mutter für Tage, überlässt die Kinder sich selbst. Die kleine Männi muss sich um den jüngeren Bruder kümmern, doch was tun, wenn die abgeschnittenen Brotscheiben alle sind? Die Lage eskaliert, als die Mutter eines Tages überhaupt nicht mehr zurückkommt und Matte schwer krank wird. Später wird klar: Sie hat die Kinder im November 1989 verlassen, im Westen einen neuen Anfang gesucht. Die Kinder blieben zurück, eingeschlossen in der Wohnung, und hätte eine Nachbarin, alarmiert durch Mattes ständiges Husten, nicht das Jugendamt alarmiert, hätten die Geschwister womöglich nicht gerettet werden können. Doch was heißt schon Rettung, wenn der Preis des Überlebens Trennung und Heimkarrieren sind?

Als die Verbindungen der toten Touristin in den Spreewald klar werden, scheinen Motiv und Täter nahe liegend - doch wann ist es schon jemals einfach? Schnell wird den Polizisten allerdings klar, dass es Fälle gibt, in denen es nur Opfer gibt. Hier hat die Familientragödie schon früh begonnen. Um Weichenstellungen, neue Perspektiven und das Überdenken bisheriger Vorstellungen geht es daneben auch für Klaudia Wagner und ihre Kollegen - das eröffnet Möglichkeiten, die schon neugierig auf den nächsten Spreewaldrkimi machen. Wie schon bei den vorangegangenen Büchern sorgen die Schilderungen der Fleete und Flussläufe, der sorbischen Traditionen und einer Regon im Schatten rechter "Siedler" für eine Athmosphäre zwischen landschaftlicher Schönheit und latenter Bedrohung.

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Veröffentlicht am 05.04.2022

Gute-Laune-Urlaubskrimi

Willkommen in St. Peter-(M)Ording (St. Peter-Mording-Reihe 1)
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Mord im Norden, zwischen Watt und Nordseedeich - das passt für viele Krimi-Leser immer. Mit "Willkommen in St. Peter-(M)Ording" hat nun Tanja Janz den Auftakt einer neuen Reihe vorgelegt, der vor allem ...

Mord im Norden, zwischen Watt und Nordseedeich - das passt für viele Krimi-Leser immer. Mit "Willkommen in St. Peter-(M)Ording" hat nun Tanja Janz den Auftakt einer neuen Reihe vorgelegt, der vor allem die Fans von Cozy-Krimis begeistern dürfte. Wer Nervenflattern, Psychosen und reichlich Blut und Gewalt braucht, ist hier fehl am Platz. Als Urlaubslektüre im Strandkorb - oder in der heimischen Leseecke vom Nordseeurlaub träumend - sind die Ermittlungen des gemütlichen Polizisten Ernie Feddersen und seines aus dem Ruhrpott stammenden Kollegen Fred Galotke, der sich ein bißchen als Schimanski des Nordens gibt, genau das Richtige. Mit Umweltschutz, den Auswirkungen von Massentourismus und Geldgier ist sogar noch ein bißchen sanft verpackte Gesellschaftskritik drin.

Der Tod eines Architekten, der mitten in den Dünen ein großes Hotel bauen wollte, beschäftigt nicht nur die beiden Küstenpolizisten. Auch Ernies Schwester Ilva und ihre Freundin Ute mischen sich als Hobbydetektivinnen in die Ermittlungen ein, ist doch der Hauptverdächtige Ilvas Jugendliebe Eike, der als Umweltaktivist in der ersten Reihe der Hotelgegner steht. Dabei ist Ilva gerade erst wieder nach St Peter-Ording gezogen und hat einen Job an ihrer alten Schule angenommen, um sich mehr um ihre Mutter kümmern zu können. Sogar in die Einliegerwohnung, in der Ernie und sie schon als Jugendliche lebten, ist sie zurückgezogen.

So viel familiäre Harmonie samt Zusammenglucken - das klingt nach den Idealvorstellungen der 1950-er Jahre und wirkt ein bißchen aus der Zeit gefallen, aber wenn Muddis Kartoffelsalat und Backfisch so eine Sogwirkung haben, sei´s drum. Überhaupt werden Klischees und Stereotypen genüsslich ausgespielt, man sollte das Buch mit einem gewissen Augenzwinkern lesen. Richtig gut gefallen haben mir die Ort-/Zeit/Atmosphäre-Teaser zu Beginn eines jeden Kapitels. Da lassen Möwengeschrei über Salzwiesen, der Geruch von Fischbrötchen am Hafen, oder Bienegesumm im Garten schon einmal Kopfkino-Bilder entstehen.

Bei der St Peter Mording-Reihe kommt es weniger auf einen dichten Plot oder einen kniffeligen Fall an, sondern auf die liebenswerten Charaktere und die heitere Gesamtnote. Dabei kommt auf jeden Fall Nordseestimmung auf.

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Veröffentlicht am 27.03.2022

Freunde und Helfer oder Problemfälle

Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt
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Man muss kein Woke-Aktivist sein, um mitunter beim Gedanken an die Polizei ein mulmiges Gefühl zu bekommen - zu viele Skandale, zu viele Vorkommnnisse. Ob Chatgruppen mit rassistischen, homophoben oder ...

Man muss kein Woke-Aktivist sein, um mitunter beim Gedanken an die Polizei ein mulmiges Gefühl zu bekommen - zu viele Skandale, zu viele Vorkommnnisse. Ob Chatgruppen mit rassistischen, homophoben oder frauenfeindichen Inhalten, ob Berichte über überzogene Gewalt und willkürliche Kontrollen gerade von Angehörigen von Minderheiten. Problematische Einzelfälle, heißt es immer wieder, wenn die Polizei irgendwo in Deutschland in die Schlagzeilen gerät. Doch mittlerweile haben sich so viele dieser "Einzelfälle" zusammenaddiert, dass die Frage aufkommt: Hat die Polizei ein Problem?

Mit ihrem Buch "Die Polizei: Freunde, Helfer, Staatsgewalt" haben der Kriminologe und Polizeiforscher Tobias Singelnstein und der Rechtsanwalt Benjamin Derin sowohl das Selbstbild und die Geschichte der Polizei wie auch gesellschaftlichen Wandel beim Blick auf die Polizei untersucht. Dabei machen sie auch klar: Es gibt nicht "DIE" Polizei, wie jeder andere Berufsstand gehen Polizisten mit ganz unterschiedlichen Motiven, Mentalitäten und Einstellungen in ihren Beruf. Der Unterschied zwischen einem Polizisten und einem Bäcker, Verwaltungsangestellten oder einer Ärztin ist allerdings: Polizisten vertreten das Gewaltmonopol des Staates. Sie haben qua Amt Rechte und Befugnisse, die ein Normalbürger nicht hat, von Kontrollmechinsmen bis zu Schusswaffen.

Es geht um Cop Culture und (behördliche) Polizeikultur, um Erfahrungen mit Kriminalität und Brennpunktvierteln, die auch den Blick von Polizisten auf andere Menschen prägen können, bis hin zu Verfestigung von strukturellem Rassismus. Ist die Polizei ein Spiegelbild der Gesellschaft? Nein, sind die Autoren überzeugt. Allerdings sei die Polizei in den vergangenen Jahren diverser geworden: Der Frauenantel ist ebenso gestiegen wie die Zahl von Polizisten aus Einwandererfamilien. Ob das allerdings auch zu einer Veränderung der Cop Culture führt - davon zeigen sich die Autoren nicht überzeugt.

Singelnstein und Derin zeigen die Auswüchse wie das Nordkreuz- oder Hannibal-Netzwerk mit Beteiligung rechtsextremistischer Polizisten ebenso auf wie die Frankfurter Polizeiskandale, die etwa im vergangenen Jahr zur Auflösung des dortigen SEK führten. Sie schildern das Versagen der Sicherheitsbehörden nach den NSU-Morden, aber auch die Bemühungen, Ausbildung und Zugang zum Polizeidienst so zu verändern, dass Problemfälle gleich herausgefiltert werden können. Allerdings: Überalterung und Nachwuchsmangel sind auch bei der Polizei ein Thema, so manche Anforderung könnte also gesenkt werden. Zum frühzeitigen Erkennen und melden von Missständen plädieren sie für Polizeibeauftragte außerhalb der Behördenhierachie - bisher noch längst nicht in allen Bundesländern gang und gäbe.

Auch die polizeiinterne Lobbyarbeit und die Rolle der Polizeigewerkschaften, der Umgang mit Fehlerkultur sind ein Thema des Buches, das auf aktuelle Forschungsergebnisse verweist. Insgesamt ein ausführlicher und trotz wissenschaftlicher Sprache gut lesbarer Text, in dem es nicht allein um Rechtsextremismus-Probleme, sondern Strukturen und Besonderheiten der Polizei insgesamt geht

Veröffentlicht am 27.03.2022

Leben im Ausnahmezustand

Kangal
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Ein Leben im Ausnahmezustand, mit all seinen Folgen für zwischenmenschliche Beziehungen, steht im Mittelpunkt von "Kangal" von Anna Yeliz Schentke. Für Dilek und ihren Freund Tekin, ein junges Paar aus ...

Ein Leben im Ausnahmezustand, mit all seinen Folgen für zwischenmenschliche Beziehungen, steht im Mittelpunkt von "Kangal" von Anna Yeliz Schentke. Für Dilek und ihren Freund Tekin, ein junges Paar aus Istanbul. ist mit dem Ausnahmezustand in der Türkei plötzlich alles anders. Nicht nur, dass alte Treffpunkte in Cafés und Bars plötzlich immer weniger werden, auch das Misstrauen und die Angst angesichts von Verhaftungen, Terrorgesetzen und Denunziationen zerstört den Zusammenhalt in der Clique der jungen Leute, die die Entwicklung in ihrer Heimat kritisch sehen.

Dilek hat sich unter ihrem Pseudonym Kangal in sozialen Medien geäußert, selbst enge Freunde wissen nicht, wer sich hinter diesem Namen verbirgt. Doch nun ist die Lebensgefährtin einer Freundin verhaftet worden. Sind die Sicherheitsbehörden ihr schon auf der Spur? steigert sie sich in etwas hinein? Zu Beginn des Buches ist Dilek am Flughafen, bangt an der Passkontrolle, ob man sie ausreisen lässt nach Frankfurt, wo ihre Cousine Ayla lebt.

Als Kinder waren sich Dilek und Ayla nahe, geradezu unzertrennlich, bis ein Zerwürfnis zwischen ihren Müttern auch sie trennte. Zögernd nimmt Dilek Kontakt zu Ayla auf. Die Sehnsucht, die enge Verbindung von einst wieder aufleben zu lassen, liegt im Widerstreit mit der Angst, ob sie Ayla trauen kann. Schließlich war es auch die türkische Diaspora in Deutschland, die Erdogan zu Wahlsiegen verholfen hatte, sind die deutschen Türken häufig deutlich konservativer als ihre Landsleute gerade im säkular geprägten Istanbul.

Tatsächlich ist Ayla eine der Deutschländerinnen, die die Türkei durch eine rosarote Brille sieht - das Meer, das Wetter, die Mentalität der Leute - alles besser, heiterer, freundlicher als in Deutschland. Dass sie selbst stets als Touristin kommt, ignoriert Ayla: Auf sozialen Medien postet sie Bilder vom Meer, nicht vom Hotel-Swimming pool. Sie will eben doch keine Touristin sein.

Von Überwachungsmethoden, Spitzel-Apps und den Sicherheitsgesetzen weiß Ayla nichts, will auch nichts davon wissen. Ihre Probleme sind ganz andere als Dileks, etwa das Studium, das sie heimlich und gegen den Willen ihres Vaters aufgenommen hat. Dass auf Bemerkungen über den Präsidenten eine mehrjährige Haftstrafe drohen kann, will sie nicht glauben. Hat Dilek vielleicht doch etwas Schlimmes getan?

Dilek wiederum kann auch in Deutschland dem Dilemma nicht entkommen. Soll sie ein Leben im Exil wählen oder hat sie sich in etwas hineingesteigert und es wurde kein Material gegen sie zusammengetragen? Hat sie mit ihrer Ausreise nach Deutschland womöglich erst Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, droht ihr bei einer Rückkehr die Festnahme? Und was bedeutet das für ihre Beziehung zu Tekin, der den Standpunkt vertritt, es könnten doch nicht alle dem Land den Rücken kehren?

Es gibt keine einfachen Antworten in "Kangal", sondern verschiedene Sichtweisen und Überlegungen. Welche die "richtige" ist, muss die Leser*in selbst entscheiden, so wie auch der Schluss keine Deutungshoheit hat, sondern offen bleibt. Nachdenklich machender Lesestoff, der nicht nur durch die Situation in der Türkei, sondern die Einschränkungen von Meinungsfreiheit in allen autoritären Staaten von trauriger Aktualität ist.

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