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Veröffentlicht am 06.04.2022

Geschichte und Geschichtchen eines wilden Jahres

Im Rausch des Aufruhrs
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"Tanz auf dem Vulkan" ist eine der Zuschreibungen der deutschen Gesellschaft in den 1920-er Jahren, und das Buch "Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923" von Christian Bommarius macht schnell klar, ...

"Tanz auf dem Vulkan" ist eine der Zuschreibungen der deutschen Gesellschaft in den 1920-er Jahren, und das Buch "Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923" von Christian Bommarius macht schnell klar, warum das so ist. In monatlich gegliederten Kapiteln beschreibt der Autor in Geschichte und Geschichtchen das Jahr der Hyperinflation, des Elends auf der einen und des exzessiven Rauschs auf der anderen Seite, von einer blühenden, wilden Kultur, die vieles althergebrachte in Frage stellte, und denen, die die alte Ordnung wiederherstellen wollten.

Der Erste Weltkrieg liegt gerade mal fünf Jahre zurück, die Folgen sind für die deutsche Bevölkerung oft schmerzlich spürbar. Bis die Nationalsozialisten an die Macht kommen, wird es noch zehn Jahre dauern. Doch nicht nur Hitlers gescheiterter Putsch im November ist als Zeichen an der Wand zu sehen. Schilderungen von schwarzer Reichswehr, von Freikorps, von Antisemitismus und Verherrlichung des alten Militarismus machen klar, dass nicht nur der Kaiser im niederländischen Exil auf andere Zeiten hoffte.

Geschrieben in anekdotenhaften Stil, mitunter leicht kalauernd ("Die Deutschen schwimmen nicht nur in Geld, sie ertrinken darin") oder aus heutiger Sicht mit ironischen Seitenhieben ("Flughäfen bauen, das können die Berliner", tauchen nicht nur bekannte Namen aus der Politik auf, sondern auch aus Kultur und Gesellschaftsleben, ob Hans Fallada oder Thomas Mann, George Grosz oder Max Reinhardt, die junge Marlene Dietrich oder der sterbenskranke Frank Kafka mit seiner letzten Liebe. Auch Anita Berber, Femme Fatale und Nackttänzerin darf als Symbol von Rausch, Dekadenz und sexueller Freiheit und Freizügigkeit nicht fehlen.

Wer beim Serien-Binging sehnsüchtig auf den nächsten Teil von "Babylon Berlin" wartet, wird so manches Vertraute wiederfinden, historisch Interessierte finden am Beispiel des Jahres 1923 ein Zeit- und Sittenbild, das eingängig zu lesen und auf unterhaltsame Weise informativ ist. Es schadet sicherlich nicht, zumindest ein bißchen Vorkenntnisse über die Weimarer Republik und Politik, Wirtschaft und Kultur der Zeit zu haben. Ansonsten dürfte das ausführliche Personenverzeichnis am Ende des Buches manche Wissenslücke schließen und das Buch verständlicher machen. "Im Rausch des Aufruhrs" ist gut geschriebenes Infotainment einer spannenden Zeit, in der den einen noch alles möglich schien und die anderen vor dem Nichts standen.

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Veröffentlicht am 01.04.2022

Familiengeheimnisse und Kulturclash

Liebesheirat
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Yasmin und Joe haben einiges gemeinsam: Beide sind junge Ärzte kurz vor dem Ende ihrer Facharztausbildung, beide leben noch zu Hause - London ist schließlich teuer. Doch während Joes Mutter eine Angehörige ...

Yasmin und Joe haben einiges gemeinsam: Beide sind junge Ärzte kurz vor dem Ende ihrer Facharztausbildung, beide leben noch zu Hause - London ist schließlich teuer. Doch während Joes Mutter eine Angehörige der britischen Oberschicht ist, bestens vernetzt und feministische Autorin von Büchern, in denen auch schon mal entblößte Penisse zu sehen sind, sind Yasmins aus südasien stammende muslimische Eltern deutlich weniger freizügig. Insbesondere die stark religiöse Mutter ist eher prüde. Bei Küssen im TV wird der Kanal gewechselt. Während Yasmin und Joe den nächsten Schritt zu einem gemeinsamen Leben machen wollen, sollen sich die Yasmins Eltern und Joes Mutter erstmal kennenlernen - kann das gutegehen?

Doch das Familiendinner am Beginn von Monica Alis "Liebesheirat" ist nicht die letzte Herausforderung, nicht nur für die beiden Liebenden. In gewisser Weise ist die Begegnung allerdings ein Katalysator, der eine ungeahnte Kettenreaktion auslöst. Familiengeheimnisse auf beiden Seiten, unerwartete Freundschaften, der Umgang mit kulturellen Unterschieden, Traditionen und Bildern von Familie - Yasmin und Joe sind zu einem ganz neuen Blick auf die jeweils eigene Familie und auf ihre Zukunft als Paar gezwungen.

Daneben zeichnet "Liebesheirat" auch ein Porträt der modernen Migrationsgesellschaft mit ihren unterschiedlichen Facetten. Yasmin sieht sich vor allem als britisch an, ihre beste Freundin hingegen ist bei allen feministischen Einstellungen und einer Karriere als Anwältin für Arbeits und Einwanderungsrecht eine Verfechterin von modest fashion und halal dating. Yasmins jüngerer Bruder liebäugelt mit islamischer Identität und Aktivismus, ohne wirklich mit der Religion vertraut zu sein. Als seine englische Freundin von ihm schwanger wird, empört dies ausgerechnet Yasmins Vater, der eigentlich der "moderne" Elternteil ist und ebenfalls Arzt. Doch dass sein Sohn ein Mädchen aus einer Sozialwohnung geschwängert hat, löst hier wohl einen sozialen Snobismus aus.

Das ist aber nicht die einzige Krise, während sich Joes und Yasmins Mütter überraschend gut verstehen, gleichzeitig Familien und Paare auseinanderdriften und sich auch Joe und Yasmin Fragen über ihr Verhältnis zu Liebe, Sexualität und Partnerschaft stellen müssen. So manche Gewissheit, die zu Beginn des Buches ganz klar schien, wird im Verlauf der Erzählug ins Wanken geraten. Ali schaut genau hin, hinterfragt ihre Figuren, lässt sie gewissermaßen immer menschlicher wirken. Scheitern kann auch befreiend sein, das ist eine der Lehren dieses Gegenwartromans, der sowohl Liebes- als auch generationsübergreifende Familiengeschichte ist und mit scheinbar vertrauten Vorstellungen gründlich aufräumt. Dabei bleibt der Roman trotz schwieriger Themen unterhaltsam und heiter. Auch bei knapp 600 Seiten kommt nicht das Gefühl auf, hier sei die Handlung aufgeblasen worden. Klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 23.03.2022

Kindesmissbrauch mit Hilfe des Staates

Der dreizehnte Mann
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Die Dunkelziffer ist groß, wenn es um sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen geht. In Schätzungen ist von jedem fünften Mädchen und jedem 13. Jungen die Rede. Das erklärt auch den Titel des Justizkrimis ...

Die Dunkelziffer ist groß, wenn es um sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen geht. In Schätzungen ist von jedem fünften Mädchen und jedem 13. Jungen die Rede. Das erklärt auch den Titel des Justizkrimis "Der 13. Mann" von Florian Schwiecker und Michael Tsokos, in denen es um einen Überlebenden von Missbrauch geht. Fiktiv, aber sehr realistisch ist der Roman, der von einem tatsächlichen Skandal inspiriert wurde: Berliner Kinder aus schwierigen Verhältnissen wurden an pädophile Männe als Pflegeväter vermittelt. Dass es zu Übergriffen und Vergewaltigungen kommen würde, war eigentlich vorprogrammiert.

In "Der 13. Mann" trägt der Wissenschaftler, der hinter dem Programm stand, einen anderen Namen, doch es macht fassungslos, dass die Geschehnisse des Romans auf einem tatsächlichen Vorgang beruht. Im Buch geht Rechtsanwalt Rocco Eberhardt einem Vermisstenfall nach. Timo Krampe wollte mit seinem Pflegebruder und Freund Jörg die Geschichte ihres Missbrauchs als Pflegekinder aufdecken, doch Jörg ist verschwunden. Bei dem Rechstsmediziner Justus Jarmer landet wenig später eine Wasserleiche auf dem Obduktionstisch: es handelt sich um den vermissten Jörg.

Anwalt und Arzt, die bereits in der Vergangenheit in einem Fall zusammengearbeitet hatten, bündeln erneut ihre jeweiligen Kompetenzen, um den Tod Jörgs aufzuklären. Mit dabei: Eine Journalistin, die mit Jörg und Timo ein Interview geplant hatte und die Staatsanwältin Claudia Spatzierer, die zudem eine Ex-Freundin von Rocco-Eberhardt ist. Da fällt es nicht leicht, Privates und Berufliches zu trennen, zudem offenbar nicht alle alten Gefühle erloschen sind. Der Verdacht, den das Quartett schon bald hegt, ist ungeheuerlich: Womöglich gibt es in den Spitzen der Politik Interesse, die Wahrheit nicht ans Tageslicht kommen zu lassen - um jeden Preis. Akten verschwinden und Hilfe gibt es aus einer eher ungewöhnlichen Ecke.

Die Autoren sind selbst "vom Fach", als Anwalt und Rechtsmediziner. Das merkt man dem Buch an, denn die Beschreibungen staatsanwalticher Ermittlungen und des folgenden Gerichtsverfahrens sind realistisch - auch wenn das nicht so dramatisch ist wie in einem Hollywood-Film. Wer schon einmal in einem Strafprozess saß, weiß: Die deutsche Strafprozessordnung gibt den Beteiligten wenig Möglichkeiten für telegene Rededuelle (mal abgesehen davon, dass Fernsehkameras in einer laufenden Verhandlung ohnehin nicht erlaubt sind). Gerade diese Realitätsnähe überzeugt allerdings. Der Fall ist schlimm genug, da kann auf künstliche Spannungsdramturgie gut verzichtet werden,

Die Protagonisten, allen voran Rocco Eberhardt und Justus Jarmer, werden auch als Menschen und Persönlichkeiten nachvollziehbar und wirken sympathisch. Dieser Krimi ist eher ein Justizdrama der leisen Töne und lebt von den unterschiedlichen Charakteren. Obendrein sorgen die Autoren für Wendungen und Entwicklungen, die am Ende für einen Überraschungseffekt sorgen. Spannend, aktuell und lebensnah.

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Veröffentlicht am 22.03.2022

Suche nach Herkunft

Auf der Straße heißen wir anders
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Migration, Herkunft, Identität, der Schatten des Völkermords und eine Vater-Tochter-Geschichte: Laura Cwiertnia packt viel in ihren Roman "Auf der Straße heißen wir anders". Und im Gegensatz zu manchen ...

Migration, Herkunft, Identität, der Schatten des Völkermords und eine Vater-Tochter-Geschichte: Laura Cwiertnia packt viel in ihren Roman "Auf der Straße heißen wir anders". Und im Gegensatz zu manchen Romanen, die angesichts einer Vielzahl von Themen überfrachtet wirken, ist das hier sehr gelungen, ja mehr noch: trotz schwieriger und tragischer Themen schafft es die Autorin, einen leichten Ton zu bewahren, liebevoll, mitunter ironisch-distanziert, mit neugierigem und offenen Blick.

In der von migrantischer Einwohnerschaft geprägten Betonwüste von Bremen-Nord war Karlotta (Karl-Otto - deutscher gehts kaum) in ihrer Schulzeit eher eine Außenseiterin. Zu alman, zu deutsch, in Schulklassen, in denen die Mehrheit zu Hause türkisch oder arabisch, russisch oder polnisch spricht. Das Dissen von Minderheiten ist keine biodeutsche Spezialität. Und Karlotta, Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Armeniers, spricht nach der frühen Trennung ihrer Eltern noch nicht einmal eine der Sprachen ihres Vaterrs und ist optisch zu dem ganz nach der Mutter geraten. Da hat es ihre deutsch-türkische Cousine deutlich leichter.

Der Tod der Großmutter Maryam bringt Karlotta dazu, sich mit den Wurzeln ihrer Familie zu befassen. Denn die Oma, die in den 70-er Jahren als Gastarbeiterin nach Deutschland kam, hinterlässt nicht nur allen Angehörigen ein Erbstück, sondern auch ein Goldarmband für eine Frau in Armenien, von der keiner je gehört hat. Karlotta will sich auf die Suche machen - zusammen mit ihrem Vater Avi, den die Kollegen von der Taxifirma nur als Ali kennen. Die beiden reisen zusammen nach Armenien, erkunden die Stadt, suchen ihre Wurzeln.

Aus wechselnden Perspektiven wird die Geschichte der Familie über die Generationen hinweg gezeichnet - die harte Kindheit Avis in Istanbul und die Jahre in einer Klosterschule in Jerusalem, die dem begabten Jungen einen Ausweg aus der Armut bieten könnte. Doch als Priester sah sich Lebenskünstler Avi einfach nicht.

Zuächst sind es nur subtile Andeutungen, die die latente Furcht der armenischen Minderheit in der Türkei beschreiben, das Verheimlichen der eigenen Identität. Je weiter in der Familiengeschichte die Erzählung zurückgeht, desto deutlicher wird der Völkermord an den Armeniern ein Thema und das damit verbundene Trauma, das über Generationen anhält. Für Karlotta, die auch als Kind nur wenige Worte armenisch gelernt hatte, ist es fremd, für ihren Vater hingegen weiterhin latent. Und je mehr Karlotta während der Reise mit dem Vater in die Sprache hineinfindet, desto mehr Zugang erhält sie auch zu ihrer verschütteten Familiengeschichte. Der generationsübrgreifende Road Trip endet mit einer Erkenntnis, die auch Karlottas Selbst-Verständnis berührt.

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Veröffentlicht am 19.03.2022

social media-Auwüchse

Die Kinder sind Könige
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Auf den ersten Blick ist Delphine de Vigans Roman "Die Kinder sind Könige" ein Kriminalroman. Schließlich ist ein Kind, ein kleines Mädchen, verschwunden - vermutlich entführt. Die Pariser Polizei ermittelt ...

Auf den ersten Blick ist Delphine de Vigans Roman "Die Kinder sind Könige" ein Kriminalroman. Schließlich ist ein Kind, ein kleines Mädchen, verschwunden - vermutlich entführt. Die Pariser Polizei ermittelt und insbesondere die Polizeibeamtin Clara befasst sich mit mutmaßlichen Hintergründen und untersucht die Familiensituation. Und dabei wandelt sich der in der Gegenwart spielende Roman sehr schnell zu einem Gesellschaftsporträt und de Jahrmarkt der Eitelkeiten im 21. Jahrhundert.

Denn Kimmy, das verschwundene Mädchen, ist ein social media Star, bereits im Vorschulalter wie ihr wenige Jahre älterer Bruder Influencerin. Beide Eltern haben ihren jeweiligen Beruf aufgegeben, um sich ganz der Karriere ihrer Kinder zu widmen. Mutter Melanie, die als schüchterner Teenager vergeblich vom Ruhm in Reality-Formaten träumte, ist über die Kanäle ihrer Kinder nun selbst zu einer Berühmtheit mit Fangemeinde geworden. Ihre Anhänger im virtuellen Raum sind für sie wichtiger als die meisten Menschen im realen Leben.

Für Clara, eine eher introvertierte Frau, die sehr auf ihrer Privatsphäre bedacht ist, ist es ein Blick in eine komplette Gegenwelt, die sie bestürzt. Über ihre Fragen und Untersuchungen bringt die Autorin auch die ethische und rechtliche Problematik des social media-Hypes um Kinderein: Werden Rechte von Kindern verletzt, wenn sie derart daueröffentlich sind? Handelt es sich um Kinderarbeit? Ziehen die Kinderkanäle auch Pädophile an - und hat womöglich ein solcher Täter Kimmy in seiner Gewalt? Ist es ein Konkurrent oder radikaler Kritiker der sozialen Medien? Ist es womöglich auch eine Form des Kindesmissbrauchs, die eigenen Kinder derart ins Rampenlicht zu stellen, und was macht der Dauerhype mit einem Kind?

Melanie ist die zeitgenössische Antwort auf Tennisväter und Ballettmütter, auf Eltern, die ihren Kindern den eigenen Lebenstraum aufdrücken. Welche Auswirkungen das haben kann, ist Teil des letzten Abschnitt des Buches, der zehn Jahre nach dem Verschwinden von Kimmy spielt. Präzise, genau beobachtend und empathisch beschreibt de Vigan zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und zwei Kinder, die ebenfalls auf ganz unterschiedliche Art mit einem Leben umgehen, das sie nicht wählen konnten. Die Schattenseiten des frühen Ruhmsund der gefilterten Internetpersönlichkeiten werden glaubwürdig und einfühlsam dargestellt.

Es ist zu hoffen, dass dieses Buch viele Leser bekommt, ganz besonders auch viele junge Leser, die den kritischen Umgang mit sozialen Medien und Inluencertum (noch) nicht gelernt haben.

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