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Veröffentlicht am 20.03.2018

Wir wollen nur noch sein und überleben

Wiesenstein
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„Das unentschiedene Schwanken scheint eine Spezialität von ihm zu sein. Nun gut, wer wankt, gewahrt vielleicht mehr als derjenige, der stur geradeaus schreitet.“


Inhalt


Gerhart Hauptmann, ein angesehener ...

„Das unentschiedene Schwanken scheint eine Spezialität von ihm zu sein. Nun gut, wer wankt, gewahrt vielleicht mehr als derjenige, der stur geradeaus schreitet.“


Inhalt


Gerhart Hauptmann, ein angesehener und schon zu Lebzeiten berühmter Mann, flieht schwerkrank mit einem der letzten Züge aus der zerbombten Großstadt Dresden, deren Schönheit nun in Schutt und Asche liegt. Sein Ziel, welches er sehnlichst zu erreichen hofft, ist seine Trutzburg Wiesenstein, ein stattliches Gebäude, fast ein Schloss, weitab vom Kriegsgeschehen in Schlesien gelegen. Dort, so wünscht er sich, soll sein Leben enden, in Sicherheit, abgeschirmt von der Welt, die durch den Zweiten Weltkrieg derart aus den Fugen geraten ist. Mit ihm reisen seine besorgte Ehefrau Margarete, der neugewonnene und unentbehrliche Masseur Metzkow und die langjährige, treue Sekretärin Pollak. Als sie fast wie von Zauberhand die Heimat erreicht haben, beginnt Hauptmann zu genesen, bald schon sitzt er wieder als Oberhaupt des Hauses am Tisch. Doch vor der Haustür tobt die Barbarei, die Kriegsmaschinerie fährt ihre letzten Ressourcen auf und muss sich bald schon vom Endsieg verabschieden. Wiesenstein bleibt der letzte Zufluchtsort für den Nobelpreisträger und seine Bediensteten und wird doch mehr und mehr zum Gefängnis, denn nicht nur die Vorräte gehen zur Neige, sondern die Angst, wer der erste Fremde vor den Toren sein wird, treibt alle um – erstmals eine Situation, der auch Gerhart Hauptmann mit seiner Dichtung nichts mehr entgegenzusetzten weiß.


Meinung


Der in Niedersachsen aufgewachsene Autor Hans Pleschinski, selbst ein Kenner der Kulturlandschaft, weil er nicht nur Germanistik studierte, sondern auch Theaterwissenschaft, setzt sich in seinem aktuellen Roman „Wiesenstein“ absolut glaubwürdig und nah an der historischen Wahrheit mit den Ereignissen kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges auseinander. Es gelingt ihm dabei auf famose Art und Weise nicht nur ein Buch über den Dichter Gerhart Hauptmann zu verfassen, sondern auch ein schockierendes Intermezzo der letzten Kriegstage aufzuzeichnen. So dass ich zu allererst die Arbeit und die damit verbundene Recherche loben möchte. „Wiesenstein“ ist ein opulentes, ein monumentales Gesamtwerk, welches man nicht unbedingt mögen muss, um ihm dennoch Respekt zu zollen.


Der Plot kommt mit nur wenigen Protagonisten aus, die sich klar in zwei Lager spalten. Auf der einen Seite die Hausherren, also das Ehepaar Margarete und Gerhart Hauptmann, auf der anderen Seite eine Hand voll Angestellter, die unterschiedlich lange im Dienste weilen und dementsprechend mehr oder weniger Auskunft geben können über ihr Leben an der Seite der Vorgesetzten. Dabei legt der Autor großen Wert darauf, alle Protagonisten gleichermaßen mit einem persönlichen Hintergrund auszustatten, so dass es dem Leser gar nicht schwer fällt, sich die Menschen vorzustellen, die hier auf gut 500 Seiten agieren. Auffallend dabei ist die klare Zuteilung der Sympathiewerte. Denn während die Hauptmanns nach und nach immer weniger Zuspruch bekommen, empfindet der Leser für die Randfiguren schon bald viel mehr Verständnis und Entgegenkommen. Dennoch bleibt Pleschinski sehr objektiv, urteil nicht und zeigt auch, dass Hauptmann im Dritten Reich zwar beständig an seinem Prestige gearbeitet hat und seine dichterische Meinung sehr wohl und äußerst überlegt zur Verfügung stellte, innerhalb seines Refugiums aber durchaus unparteiisch blieb und vor allem der Kunst und dem geistigen Austausch einen hohen Stellenwert einräumte.


Besonders gelungen ist auch das Porträt der zerstörten Städte, das klägliche Scheitern der verbliebenen deutschen Kämpfer und die nachfolgende Barbarei, die auch den letzten Lebenswillen vieler Menschen zerstörte. In teilweise grausigen Bildern beschreibt er den Zug der Vertriebenen, der Entflohenen der Konzentrationslager oder auch die Hilflosigkeit der einfachen Bürger, die nicht mehr wissen, was sie in nächster Zukunft essen sollen. Damit rüttelt das Buch wieder einmal wach und schärft das Bewusstsein, wie vernichtend und sinnlos ein Krieg sein kann und wird, wenn man ihn erst mit einer derartigen Vehemenz initiiert.


Letztlich war es wohl der Schreibstil und die teilweise überladene Erzählweise, die mir die Freude an diesem Buch etwas genommen haben. Zunächst einmal die vielen historischen Fakten, vermischt mit den Eckdaten des dichterischen Gesamtwerkes von Hauptmann und dann noch in Kombination mit längeren lyrischen Auszügen aus dessen vielfältigen Publikationen – beim besten Willen, hier muss man nicht nur hochkonzentriert lesen, sondern wird immer wieder unschön aus den Gedankengängen herausgerissen. Hinzu kam ein mir unglücklich erscheinende Kombination zwischen einem fiktiven Roman und einem informativen Sachbuch. Dadurch das viele Fakten belegt sind und sowohl Orte als auch Personen auf Tatsachen beruhen, fehlte mir stellenweise die Leichtigkeit, die dichterische Freiheit des Autors, die interessanten Aspekte, die einen klassischen, belletristischen Roman für mich ausmachen.


Fazit


Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen facettenreichen, sachlich orientierten Roman, der sich intensiv mit dem Krieg und auch mit dem Leben Gerhart Hauptmanns in seinen letzten Tagen auseinandersetzt. Und wenn er nicht so mühsam zu lesen gewesen wäre, hätte ich noch einen kleinen Bonuspunkt für die Schilderung eines im Umbruch befindlichen Landes gegeben. So aber bleibt es mir in erster Linie als ein herausforderndes Leseerlebnis in Erinnerung, dem ich viel Zeit gewidmet habe, ohne dass es Nachklang in mir auslöst und das ist sehr schade. Ich empfehle die Lektüre all jenen, die sich historisch oder aus Interesse mit Gerhart Hauptmann befassen möchten, die aber bestenfalls einen Bezug zu der Thematik haben sollten. Es empfiehlt sich darüber hinaus in die Leseprobe zu schauen, der Schreibstil bleibt entsprechend.

Veröffentlicht am 15.12.2017

Mitmenschlichkeit als Geschäftsmodell

Dominotod (Ein Nathalie-Svensson-Krimi 2)
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„Mitmenschlichkeit als Geschäftsmodell – das war eine Gleichung, die nie aufgehen würde. Einsparungsberater, Sparpakete und verantwortungslose Politiker. Er biss sich die Lippen blutig und trampelte mit ...

„Mitmenschlichkeit als Geschäftsmodell – das war eine Gleichung, die nie aufgehen würde. Einsparungsberater, Sparpakete und verantwortungslose Politiker. Er biss sich die Lippen blutig und trampelte mit den Füßen im Benzin herum.“


Inhalt


Nathalie Svensson wird als Beraterin in einem heiklen Mordfall hinzugezogen, ein Arzt musste sterben und ein weiterer wurde entführt. Die schwedische Polizei vertraut der Kompetenz ihrer psychologischen Ausbildung, auch wenn in diesem Fall die Schwester der Psychiaterin als angestellte Krankenschwester direkt involviert ist. Nathalie ist der Ansicht, dass der Mörder etwas Bestimmtes mitteilen möchte und die Dominosteine, die in den Leichen gefunden wurden, sind wichtige Spuren innerhalb der Ermittlung. Das Polizeiteam arbeitet auf Hochtouren, denn es ist nur eine Frage der Zeit, bevor das Entführungsopfer ebenfalls zum Mordopfer wird. Doch alle Spuren, die nach und nach auftauchen führen direkt zum abgelegenen Hof von Estelle Ekman und ihrem Mann und Nathalie ist sich überhaupt nicht mehr sicher, was ihre Schwester möglicherweise zu verbergen hat, vor allem weil sie für die Morde durchaus ein Motiv hätte und für die Tatzeit kein plausibles Alibi vorweisen kann …


Meinung


„Dominotod“ ist der zweite Band aus der Krimireihe um die Psychiaterin Nathalie Svensson. Und obwohl ich den ersten Band „So tödlich nah“ nicht kenne, fehlte mir nur selten das Vorwissen, so dass daraus kein Nachteil entstand. Erwartet habe ich einen spannenden Fall, wie man ihn in zahlreichen schwedischen Spannungsromanen geboten bekommt, doch leider konnte mich der Autor mit seinem Zweitwerk nicht so recht fesseln.


Zunächst einmal steht die Ermittlungsarbeit der Polizei, das mühsame Suchen der Puzzleteile, die akribische Verfolgung jeder noch so kleinen Spur und die ständigen Enttäuschungen im Laufe der Ermittlungen im Zentrum des Geschehens. Dadurch bekommt der Leser zwar ein ausgesprochen gutes Gespür für die Polizeiarbeit, aber nur wenig Einzelheiten aus dem Fall geboten. Tatsächlich kamen mir sowohl die Umstände als auch die Personen sehr austauschbar vor. In sehr wenigen kurzen Episoden lässt Jonas Moström den Täter zu Wort kommen und genau diese Passagen haben mir wesentlich besser gefallen, weil sie Hintergründe und Motive klarer erscheinen lassen. Vermisst habe ich auch eine aussagekräftige Psychiaterin, die dem Fall mehr Würze verleiht und die Suche nach dem Mörder vorantreibt. Doch auch da bleiben Lücken, denn der Autor zieht es vor, das private Umfeld und die Schwierigkeiten der beiden Schwestern zu fokussieren. So konnte ich weder zu Nathalie noch zu Estelle eine echte Beziehung aufbauen, denn für den Kriminalfall erscheint mir das Verwandtschaftsverhältnis der beiden sehr irrelevant und wirkt eher als schmückendes Beiwerk.


Positiv beurteile ich die logische Abfolge und eine gewisse Realitätsnähe in Bezug auf den Täter und die Zusammenhänge zwischen dem Mord und einer gesellschaftlichen Kritik. Als Leser erscheint die Aufklärung stimmig, die Beteiligten sind nicht wirklich psychisch krank, keine Extremisten, die wahllos nach Opfern Ausschau halten und so schließt sich der Kreis und die Frage, warum gerade Dominosteine als probates Kommunikationsmittel gewählt wurden. Vermisst habe ich dennoch eine ganze Menge, so dass ich den ersten Band nicht zwingend nachholen möchte.


Fazit


Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen soliden, klassischen Kriminalroman, der sich mit Ermittlungsdetails auseinandersetzt und gleichzeitig Gesellschaftskritik und persönliche Schicksale miteinander verbindet. Das Buch liest sich gut und hält das Niveau bis zum Schluss, doch weder die Protagonisten noch die Atmosphäre konnte mich überzeugen, so dass ich mich hier mit einem eher durchschnittlichen Roman auseinandergesetzt habe, der mich nicht wirklich bewegen und fesseln konnte. Irgendwie schade, denn gerade die Leseprobe hat mich neugierig gemacht und durchaus höhere Erwartungen aufkommen lassen.

Veröffentlicht am 07.12.2017

Komplizenhafte Nachbarschaft

Babylon
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„Ist es vernünftig, sich um das Geliebtwerden zu bemühen? Ist das nicht eine jener Mühen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind?


Inhalt


Elizabeth kennt sich mit Partys nicht aus, eigentlich ...

„Ist es vernünftig, sich um das Geliebtwerden zu bemühen? Ist das nicht eine jener Mühen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind?


Inhalt


Elizabeth kennt sich mit Partys nicht aus, eigentlich hat sie weder die Wohnung noch den Freundeskreis dazu, aber spontan entschließt sich die in die Jahre gekommene Frau, ihr Wohnzimmer für ein Frühlingsfest auszustatten und bei dieser Gelegenheit gleich mal ihr Sortiment an diversen Sekt- und Weinkelchen aufzustocken, denn wie sie mit Erschrecken feststellt, hat sie nicht mal genügend Stühle geschweige denn Gläser für die geladenen Gäste. Einem mäßig unterhaltsamen Abend folgt eine umso schlaflosere Nacht, denn nach der Party erwürgt ihr befreundeter Nachbar Jean-Lino seine Frau und bittet die schockierte Elizabeth um Hilfe – es muss doch möglich sein, die Leiche unbemerkt aus dem Haus zu schaffen, wenn da nur nicht der für den Mörder unpassierbare Personenaufzug wäre. Ein kleiner Freundschaftsdienst ist doch kein Verbrechen und Elizabeth sieht die Notwendigkeit ihrer Mithilfe durchaus ein …


Meinung


Dieser Roman klang für mich nach einer bitterbösen Erzählung mit unglücklichen, skrupellosen Menschen, die durch eine Vereinbarung zu Komplizen werden und deren Lebensgeschichte vielleicht noch weitere Leichen im Keller offenbart. Doch leider konnte „Babylon“ diesen Anspruch nicht erfüllen, denn es fehlt der Geschichte einerseits an Format, dann wieder an Tiefgang und letztlich vor allem an einer klaren Erzählstruktur. Deshalb konnte mich dieses skurrile Geschehen, über eine aus der Norm gelaufene Party nicht überzeugen obwohl es sich stellenweise ganz amüsant lesen lässt.


Durch einen durchweg kurzen, szenenhaften Schreibstil, der mich sehr stark an die Regieanweisung zu einem Bühnenstück erinnert hat, kam kein rechtes Gefühl für die Belange der Protagonisten auf. Oberflächlich betrachtet, entsteht sehr wohl ein Bild von der Nachbarin in ihrer Hello-Kitty Schlafanzughose und den Plüschpantoffeln oder auch vom Ehemann, der einen gesegneten Schlaf trotz Leiche im Obergeschoss hat und natürlich auch vom unfreiwilligen Mörder, der Katzen liebt aber Hühnchen nichts menschliches abgewinnen kann, doch das reduziert sich auf ihre Rolle, den Part den sie innerhalb der Erzählung einnehmen und verrät leider gar nichts zu Hintergründen, Gedankengängen und tatsächlichen Eigenschaften. Letztlich wirkt das ganze wie ein bizarr arrangiertes Kammerstück ohne tieferen Sinn.


Dennoch führt die französische Autorin mit leichter Hand durch ihr Buch, sie lässt hin und wieder sehr schöne, tiefgründige Sätze an die Oberfläche dringen und verbindet gekonnt eine abstrakte Handlung mit sehr normalen, alltäglichen Begebenheiten. Deshalb war der Realitätsfaktor nicht so gering wie befürchtet und das mag ich nun wiederrum an solchen Geschichten, die mehr beschreiben als bewerten, die einen ungetrübten Blick auf eine ungewöhnliche, fast unvorstellbare Situation werfen.


Fazit


Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen kurzen, unterhaltsamen Roman über eine Wohngemeinschaft, die zwischen komplizenhafter Nachbarschaft und abschreckendem Beispiel angesiedelt ist und die den Leser in eine gar absonderliche Aufführung mitnimmt, die weder besonders erschreckend noch bitterböse wirkt. Gezeichnet werden Menschen, die handeln, die unterlassen und denen es nicht nur um ihre eigene Meinung geht, sondern auch um die Interaktion miteinander. Leider bleibt „Babylon“ sehr oberflächlich und lässt mich eher ein argwöhnisches Auge auf große Koffer in kleinen Fahrstühlen werfen, als auf die Schuld, die ein Mord normalerweise hervorruft.

Veröffentlicht am 06.10.2017

Der Mangel, den wir stets empfinden

Außer sich
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„Sie war sich nicht sicher, wem sie schon welche Geschichte erzählt hatte, sie war sich ihrer eigenen Geschichte nicht mehr sicher, was sie eigentlich tat in einer Stadt außerhalb der Zeit, suchte sie ...

„Sie war sich nicht sicher, wem sie schon welche Geschichte erzählt hatte, sie war sich ihrer eigenen Geschichte nicht mehr sicher, was sie eigentlich tat in einer Stadt außerhalb der Zeit, suchte sie wirklich ihren Bruder oder wollte sie einfach nur verschwinden.“

Inhalt

Die Zwillinge Alissa und Anton erleben eine schwierige Kindheit in Russland, ihre Eltern bieten ihnen ein sehr gefühlskaltes Erziehungsklima, geprägt von Gewalttätigkeiten und Übergriffen. Der Vater, ein Alkoholiker, die Mutter sprachlos angesichts der Leere ihres Lebens. Aus diesem Grund klammern sich die beiden so sehr aneinander, dass fast zu einer Person verschmelzen. Doch nun, sind sie junge Erwachsene und streben hinaus in ein eigenes, selbstbestimmtes Leben. Für Alissa, die alle nur Ali nennen, gibt es keine Leichtigkeit, keinen Frohsinn sondern nur eine fortdauernde Suche nach ihrer wahren Identität. Als Mädchen geboren, sucht sie nun den männlichen Teil in sich, bindet sich die Brüste ab, trägt Männersachen und beginnt sich Testosteron zu spritzen und möchte Anton genannt werden. Sie sucht ihren Bruder in Istanbul, sie sucht eine Zuflucht, sie sucht Menschen, die sie lieben wie sie ist, ungeachtet ihres Geschlechts, vorbehaltlos und andauernd. Doch Anton, ihr Bruder möchte genau das Gegenteil – Abstand von der inzestuösen Beziehung, Abstand zur Mutter und seiner Herkunft, ein Leben jenseits seiner Vergangenheit mit anderen Beziehungen, die ihn nicht mehr an seine Kindheit erinnern. Und so begegnen wir den Suchenden, die einen Sinn brauchen, sich eine Heimat wünschen, einen Ort der Akzeptanz, der Innerlichkeit und der Wärme – doch was werden sie finden, wenn sie der Wahrheit ein Stück näherkommen?

Meinung

Sasha Marianna Salzmann, verfasst in ihrem Debütroman ein splitterndes Gesamtbild über Menschen am Rande der Verzweiflung, die sich freistrampeln und innere Ketten sprengen möchten. Denen die Suche wichtiger ist als das Ziel, die sich verlieren, neu erfinden, anders zusammensetzen und sich selbst aus einer äußerst distanzierten Perspektive betrachten. „Ausser sich“ trifft den Kern der Erzählung, ohne klaren Sinn, ohne klaren Willen, doch irgendwie getrieben, wie Körnchen im Getriebe, so klein und unbedeutend und doch von immenser Kraft. Die Wahrheit dieses sehr anspruchsvollen, innovativen Romans, liegt irgendwo zwischen der Assoziation des Lesers und den Momentaufnahmen aus dem Leben der Protagonisten.

Gerade zu Beginn des Textes erfährt der Leser nicht nur etwas über die Hauptfigur des Romans sondern in erster Linie über deren Herkunft, über Repressalien in der Vergangenheit der Familie, die nicht nur mit Gewaltbereitschaft einhergeht sondern auch mit Ausgrenzung, mit sozialer Missachtung und die von politischen Missständen im Heimatland berichtet, die ebenso wie die Willkür im kleinen Familienkreis emotionale Spätschäden verursacht. Beginnend über die Geschichte der Urgroßeltern, hin zu den Großeltern und schließlich zu den eigenen Eltern, greift die Autorin auch gesellschaftliche Entwicklungen auf, vermischt diese mit einer persönlichen Erzählung und entwirft damit ein stimmiges Hintergrundbild, welches der Leser automatisch mit den Ereignissen der Gegenwart verbindet. Gerade diese Familiengeschichte, die sozusagen den Rahmen bildet, hat mir sehr gut gefallen und wirkt wesentlich realistischer und greifbarer als die Haupthandlung.

Sprachlich ist es der Autorin gelungen bleibende, wichtige Sätze in eine ungewöhnliche Form zu bringen, der Fließtext wirkt dicht, ausgereift und stimmig. So dass der Lesefluss trotz einiger auftretender Unverständnisse stets erhalten bleibt. Kleine und größere Leseabschnitte gliedern den Text in sinnvolle kleinere Erzählungen, Zeitsprünge kommen vor, lassen den Leser innehalten, erzwingen aber keine vordergründige Logik. Nicht der Einzelablauf ist entscheidend, sondern die Entwicklung.

Fazit
Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen ungewöhnlichen, stilistisch ansprechenden Roman über die Identitätssuche einer jungen Frau, mit erschreckender Vergangenheit, zielloser Gegenwart und ungewisser Zukunft. Immer vor dem Hintergrund der Fragen: „Welcher Weg ist der richtige? Kann man finden, wonach man sucht? Hat das Leben einen tieferen Sinn? Und wenn ja, wird er sich erschließen?“

Der Gesprächsstoff geht hier nicht so schnell aus, doch die Personen bleiben abstrakt, die Geschlechtsspezifik konnte mich nicht überzeugen und es war stellenweise sehr anstrengend, an der Geschichte dranzubleiben, weil sie eher ein Splitterbild denn ein ansprechendes Gemälde darstellt. Trotzdem oder gerade deswegen sollte man dieses Buch lesen, denn es vermag Literatur auf hohem Niveau auf eine neuartige Sichtweise zu lenken und den Leser nachhaltig zu beeindrucken.

Veröffentlicht am 01.06.2017

Das Periodensystem des Jenseits

Das Leben nach Boo
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„Wären wir beide schon dort Freunde gewesen, hätte Johnny sich vielleicht nicht die Pulsadern aufgeschnitten, und ich hätte vielleicht nicht Onkel Seymours Revolver gestohlen. Wir hätten uns in Amerika ...

„Wären wir beide schon dort Freunde gewesen, hätte Johnny sich vielleicht nicht die Pulsadern aufgeschnitten, und ich hätte vielleicht nicht Onkel Seymours Revolver gestohlen. Wir hätten uns in Amerika so helfen können, wie wir uns im herrlichen Jenseits halfen.“

Inhalt

Oliver Dalrymple, der wegen seiner Blässe und seines geisterhaften Wesens von allen nur „Boo“ gerufen wird, ist in seiner Schule ein absoluter Außenseiter. Seine Mitschüler hänseln und drangsalieren ihn, wo sie nur können und der Junge mit dem Loch im Herzen, zieht sich immer mehr in sein Schneckenhaus zurück. Hochintelligent aber einsam verbringt er seine Schultage mit wissenschaftlichen Projekten und dem Auswendiglernen des Periodensystems der Elemente. Eines Tages jedoch erwacht er im Himmel der 13-Jährigen Amerikaner und erfährt, dass er dort nun für weitere 50 Jahre sein Alter halten wird, bevor er wirklich stirbt. Als kurz nach seiner Ankunft ein ehemaliger Mitschüler im Himmel aufkreuzt, erfährt er, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist, sondern ermordet wurde, von einem Täter, den die beiden Jungen fortan „Gunboy“ nennen. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach ihrem Mörder und hoffen ihn, in ihrem Jenseits anzutreffen. Doch bald schon stellt sich heraus, dass es nur zwei Opfer gab und einer davon war der Mörder. Für Boo jedoch wird es nebensächlich Rache zu üben und Gerechtigkeit zu erlangen. Er möchte einzig die Freundschaft mit Johnny bewahren, eine Kameradschaft, die er sich zu Lebzeiten immer wünschte und nie bekam. Doch sein neuer Freund wird zum „Wiedertod“ verurteilt und kann nicht mehr lange im Himmel bleiben, es sei denn sie finden ein Portal zur Diesseitigen Welt …

Meinung

Auf diesen innovativen, andersartigen Roman war ich sehr gespannt, weil er ausgesprochen gute Kritiken bekommen hat und als ein gelungener Debütroman ins Auge fiel. Die Geschichte selbst klingt auch wirklich toll und interessant, denn der Mix aus Jugendroman und phantastischer Geschichte, die im Jenseits spielt, weckte mein Interesse ungemein. Tatsächlich hat mir der Beginn des Buches auch sehr gut gefallen, weil allein die Idee einer Welt nach unserem Tod, selbst so wie sie der Autor beschreibt einen großen Reiz auf mich hat. Zu schön wäre doch die Vorstellung, dass es so etwas tatsächlich geben könnte …

Trotzdem ist es Neil Smith nicht gelungen, mich so richtig in den Bann der Geschichte zu ziehen. Einige Textstellen haben ungewöhnliche Längen, während andere mir viel zu kurz erschienen. Auch die Suche nach dem potenziellen Mörder konnte mich nicht überzeugen und mich hat die Erzählung teilweise sogar gelangweilt. Der Autor setzt den Fokus ganz zielstrebig auf die persönliche Entwicklung des Hauptprotagonisten, dem es im Jenseits tatsächlich gelingt, sein Leben in den Griff zu bekommen, der endlich all das erreicht, was er sich im Diesseits bereits wünschte. Eine gewisse Trauer schleicht sich aber auch dazwischen. Trauer darüber, die Chancen verpasst zu haben, Trauer darüber sich nicht verabschieden zu können und nun für weitere 50 Jahre in einer Welt zu leben, in der es normalerweise nur begrenztes Entwicklungspotential gibt.

Der Schreibstil ist jugendlich frisch und gut zu lesen, die gewählte Erzählperspektive in der Ich-Form bringt dem Leser einen gewissen Mehrwert, denn so kann man die Empfindungen von Boo besser teilen und seine Ansichten verstehen. Boo wird mit fortschreitender Lektüre zu einem immer liebenswerteren Menschen, den man von Herzen endlich mal etwas Glück und Erfolg wünscht.

Fazit

Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen warmherzigen Roman mit sehr alternativer, erfrischender Handlung, der mich zwar nicht ganz begeistern konnte, aber sicherlich eine lesenswerte Geschichte erzählt. Meine Erwartungshaltung war wohl schlicht eine andere, die sich hier nicht ganz erfüllen ließ, weil mir der emotionale Bezug gefehlt hat. Ich habe mich weder köstlich amüsiert, was für eine humorvolle Variante gesprochen hätte, noch konnte ich Tränen vergießen, was ich mir vielleicht sogar gewünscht hätte. Das Buch und ich sprechen wohl einfach nicht die gleiche Sprache. Die Variante, einen Roman im Jenseits spielen zu lassen fand ich trotzdem top und sehr ansprechend – gern würde ich die Thematik weiterverfolgen und auch der Autor wäre noch ein zweites Buch wert.