Im Fenster brennt noch Licht
Morgen kann kommenNachdem ich „Morgen kann kommen“ von Ildikó von Kürthy bereits gelesen habe, habe ich in den letzten Tagen Ildikós Stimme gelauscht, während sie mir ihr Buch nicht einfach nur vorgelesen, sondern die Geschichte ...
Nachdem ich „Morgen kann kommen“ von Ildikó von Kürthy bereits gelesen habe, habe ich in den letzten Tagen Ildikós Stimme gelauscht, während sie mir ihr Buch nicht einfach nur vorgelesen, sondern die Geschichte erzählt hat.
Als Ruth erkennt, dass ihr Mann sie betrügt, fährt sie kurzentschlossen mit Auto und Hund aber ohne Gepäck in das einzige Zuhause, in dem sie sich je wohl gefühlt hat – die Villa ihrer Großeltern in Hamburg. In ihrem Zimmer dort brannte immer eine kleine Lampe im Fenster, wie bei einem Leuchtturm, damit sie sich im Dunklen nicht fürchtete und nach Hause fand. Sie hat das Haus zuletzt vor 15 Jahren betreten, bevor es zum großen Knall kam, bevor sie sich mit ihrer Schwester Gloria zerstritten hat. Der gehört das Haus jetzt, doch sie bewohnt es nicht allein. Gloria wirkt nach außen sehr barsch, hat aber ein großes Herz. Jeder der ein offenes Ohr oder einen Unterschlupf braucht, findet das bei ihr. Wie Rudi, der gute Sozi, der Ordnung liebt und immer für andere da ist. Er wird nicht mehr lange bleiben, nur noch bis zu seinem selbstbestimmten Tod. Oder der exaltierte Erdal, der eigentlich gerade eine Detox-Kur macht, die er aber nicht erträgt. Er bringt seine Cousine Fatma und ihre Teenager-Tochter mit, die das Fass zum Überlaufen bringen …
Nicht zum ersten Mal ist mir aufgefallen, dass ich beim Hören einen anderen Focus auf ein Buch habe als beim Lesen, andere Stellen werden plötzlich wichtig. Mir fallen die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Schwestern stärker auf, ihre früher extrem innige Beziehung, wie sehr sie sich gegenseitig Mut und Halt gegeben haben.
Außerdem finde ich den Kontrast zwischen Ruth, die gerade mit einem Knall zurück ins Leben findet, und Rudi stärker, der sich immer mehr verabschiedet, ganz leise, um niemanden zu stören. Mir wird bewusster, wie er den Bezug zur Wirklichkeit und Realität immer mehr verliert, wie seine Angst vorm Tod immer kleiner wird, während die vorm Dahinsiechen zunimmt. Welche seiner Ängste gewinnt am Ende? Und natürlich stellt sich mir dann die Frage, wie mutig man sein muss, um seinem Leben ein Ende zu setzen, bevor eine Krankheit das übernimmt.
Aufgelockert werden diese schwierigen Themen durch Erdal, der immer im genau richtigen Moment schonungslos offen das ausspricht, was andere nicht mal zu denken wagen und die Situationen dadurch auflockert. Die Balance zwischen Humor und den nachdenklichen Stellen gelingt Ildikó von Kürthy sehr gut, auch bei der Modulation ihrer Stimme trifft sie immer genau die richtige Nuance Gefühl oder Witz.
Ildikó von Kürthy hat es auch mit ihrem Hörbuch geschafft, mich zum Lachen und Weinen zu bringen, zum Nachdenken und Träumen. „Morgen kann kommen“ hat mich sprachlos gemacht und erschüttert – aber gleichzeitig auch Hoffnung verbreitet.
Und wenn ich mich jetzt am Ende zwischen Buch oder Hörbuch entscheiden müsste, dann könnte ich das ehrlich gesagt nicht. Mir hat es sowohl beim Selbstlesen als auch Zuhören sehr gut gefallen und extrem berührt. Ich bin gespannt, ob und wie Ruths und Glorias Geschichte weitergeht. Denn jedem Ende wohnt ein Anfang inne …