starker Einstieg, schwaches Ende
„Frauen wie ich vergraulen feste Freunde. Frauen wie ich wurden noch nie von einem einzigen Jungen eingeladen. Frauen wie ich müssen ihren eigenen Weg finden, sich ihr eigenes Glück schaffen.“ (Stella ...
„Frauen wie ich vergraulen feste Freunde. Frauen wie ich wurden noch nie von einem einzigen Jungen eingeladen. Frauen wie ich müssen ihren eigenen Weg finden, sich ihr eigenes Glück schaffen.“ (Stella in Kissing Lessons)
Worum geht’s?
Das Leben als Asperger-Autistin ist nicht leicht für Stella, doch sie findet ihren Weg, damit umzugehen. In ihrer analytischen Tätigkeit als Ökonometrikerin geht sie total auf. Aber ihre Mutter möchte mehr von Stella als nur beruflichen Erfolg, nämlich: Enkelkinder. Doch zwischenmenschliche oder gar intime Kontakte? Das ist wirklich nicht Stellas Ding. Küssen und Sex sind für sie keine angenehmen Unterfangen. Kurzerhand kommt ihr daher die Idee, sich einen Fachmann als „Lehrer“ an ihre Seite zu holen. Als dann Escort Michael in ihr Leben tritt, lernt Stella nicht nur, wie man küsst und miteinander schläft, sondern ungewollt auch, wie man sein Herz verliert…
Kissing Lessons ist der erste Teil der „Kiss, Love & Heart“-Trilogie. Das Buch ist in sich geschlossen und kann unabhängig gelesen werden, der Protagonist aus Band 2 wird hier jedoch als Randfigur vorgestellt.
Schreibstil / Gestaltung
Das hübsche Cover ist in beige mit zahlreichen verschiedenfarbigen Blumen gehalten, während der Titel in einer pink-metallic foliert ist. Das Cover wirkt sehr frühlingshaft und feminin, passt aber nicht unbedingt zum Titel oder zum Buch. Die Erzählweise des Buches erfolgt linear und in der dritten Person, jeweils mit Fokus auf Michael oder Stella, teilweise wechselt der Fokus im Kapitel auch. Der Schreibstil ist recht locker und leicht. An manchen Stellen gibt es Punkte, wo die Übersetzung (oder die Ausdrucksweise) nicht 100% rund klingt, insgesamt ist das Buch sprachlich geeignet für (junge) Erwachsene. Das Buch enthält wenig explizite Sprache, allerdings einige Erotikszenen, die jedoch nicht ausführlichst geschildert werden.
Mein Fazit
Kissing Lessons war ausnahmsweise mal nicht ein Buch, was mich durch sein Cover vereinnahmt hat, sondern durch die doch recht innovativ klingende Idee einer autistischen Protagonistin. Das Buch klang für mich einerseits wie etwas, was man schon öfter gelesen hat (Fakebeziehung, gekaufte Beziehung), andererseits aber war ich gespannt, ob und wie man das Thema Asperger-Autismus in dem Buch kennenlernen wird.
Die Geschichte startet direkt mit Stella, die beim Essen von ihrer Mutter gelöchert wird. Denn ihre Mutter möchte, dass Stella endlich sesshaft wird, heiratet und ihr Enkelkinder beschert. Dass Stella mega erfolgreich in ihrem Beruf ist, interessiert zumindest ihre Mutter nur begrenzt. Dass Stella zwischenmenschliche Beziehungen Angst machen, sie permanent in Sorge ist Leute zu vergraulen und zu verletzen und insbesondere Intimität für sie unangenehm ist, spielt keine Rolle. Enkelkinder, das ist das Ziel. Und Stella möchte die Erwartungen ihrer Mutter erfüllen. Nur wie? Ihre bisherigen Beziehungen waren eine Katastrophe und Küssen, das mag sie auch nicht. Als sie auf einem Sonntag im Büro ihren Kollegen Phillip trifft und dieser ihr knallhart an den Kopf wirft, ihr würde einfach die Übung fehlen, reift in Stellas Kopf ein Plan: Ein Fachmann soll her. Denn Geld hat Stella genug. So landet Stella beim Escort Michael, der sich in großer Geldnot auf Stellas ungewöhnliches Angebot, er solle ihr Übungslektionen in Sachen Küssen und Intimität geben (inklusive Leistungsbeurteilung!), einlässt. Michael weiß nicht, wieso Stella solche Probleme mit den Sachen hat, doch er ist gewillt, ihr zu helfen. Aber schon bald müssen sich beide fragen, ob ihr Arrangement die geschäftliche Basis nicht schon längst verlassen hat…
Der Einstieg in das Buch gelang mir sehr gut. Ich war von Anfang an von Stella fasziniert und habe zugleich mit ihr mitgelitten. Es ist eine unangenehme Situation, dass ihre Familie von ihr erwartet, sich zu binden, wenn es ihr doch so sehr Angst macht. Die Idee, einen Escort-Mann zu beauftragen, ist gewagt, aber zugleich auch recht klug. Ein „Übungsmann“, mit dem sie ihre Unsicherheiten überwinden kann, um dann bereit zu sein für den Mann, der an ihrer Seite sein soll und will. Stella geht dabei sehr methodisch vor, hat einen detaillierten Plan und Vorstellungen, wie ihre Übungstage ablaufen sollen. Hierbei zeigt sich vor allem Stellas analytische und strukturierte Seite sehr stark. Immer wieder gibt es solche Szenen, die Einblicke in ein Gehirn geben, was durch Asperger-Autismus etwas anders tickt. Und ich fand diese Szenen wirklich grandios geschrieben. Es ist eine Mischung aus Faszination und Verblüffung, die ich empfand, wenn Stella loslegt, eine Situation zu analysieren. Es sind banale Alltagssituationen, die für die meisten Menschen so selbstverständlich sind, dass man nicht über sie nachdenkt. Für Stella aber nicht. Denn sie kann Emotionen von Menschen schwer einschätzen, äußere Einflüsse wie Licht und Lärm machen ihr zu schaffen, ihr Gehirn filtert Äußerungen anders – und so tritt sie manchmal in Fettnäpfchen, manchmal gerät sie in gefährliche Situationen und manchmal zerbricht sie sich stundenlang den Kopf, ob Pralinen und Blumen ein angemessenen Geschenk für eine Essenseinladung sind. Es war beeindruckend zu lesen. Stella kam zeitweise so unbeholfen rüber, dass sie mit leidtat, manchmal war ich von ihrem Scharfsinn und ihrer Stärke aber auch verzaubert. Es ist sicher nicht leicht, mit Autismus zu leben, und Stella versucht, das Beste daraus zu machen. Und verdammt, sie verdient jemanden, der sie liebt und schätzt, so wie sie ist. Der an ihrer Seite steht und Verständnis dafür hat. Und so war ich das ganze Buch getrieben von der Hoffnung, dass Stella so jemanden finden wird. Denn von Seite 1 an wollte ich, dass Stella glücklich wird und sich wohl fühlen kann.
Leider ist es aber so, dass das Buch mich nicht wirklich überzeugen konnte. Denn nach einem starken Start, den tollen Einblicken, einer mehr als holprigen Anbahnung zwischen Stella und Michael kommt es irgendwann unweigerlich zum Sex. Und dieser Punkt ist für mich eine Art Wendepunkt in der Geschichte gewesen. Ich weiß nicht, ob die Autorin dies so beabsichtigt hat, ob damit Stellas „neues Ich“ und eine Änderung in ihrer Persönlichkeit markiert werden sollte. Aber ab da ging für mich das Buch einfach stark bergab und verkam zu einem Standard-0815-Liebesroman mit viel Sex, wenig Persönlichkeitsentwicklung und vor allem: Jedem erdenklichen Standard-Drama, was man sich nur erdenken kann. Warum war das so? Etwa die erste Hälfte des Buches geht es darum, wie sich Stella und Michael näherkommen. Michael versucht, Stella aus ihrer starren „Planung“ rauszuholen und gibt sich dabei wirklich Mühe. Es gibt wunderbare, sehr süße Szenen mit den Beiden, es gibt auch Szenen, die mein Herz ein wenig haben schmelzen und ein wenig haben schmerzen lassen. So lernt Stella Michaels Familie kennen und es endet in einer unweigerlichen Katastrophe. Nachdem die beiden aber anfangen, miteinander zu schlafen, ist es, als würde Stella sexbesessen werden. Fortan geht es permanent darum, dass die beiden miteinander in die Kiste wollen, wie gut sich das alles anfühlt und vor allem sind Stellas Ticks auf einmal weg. Ihre Ängste, ihre Unsicherheit – alles ist plötzlich Geschichte. Zumindest bis zu dem Punkt, der erwartungsgemäß in solchen Büchern kommen muss: Der große Knall. Danach manövriert die Geschichte ein wenig wie eine Nussschale auf dem Meere hin und her, ohne wirklich Grund dafür zu geben. Man hätte sich das ganze Drama so sehr sparen können, es hätte auch ohne funktioniert. Stattdessen hätte man gerade gegen Ende hin mehr in Charakterentwicklung setzen können und sollen.
Denn Hand aufs Herz: Michael entwickelt sich im ganzen Buch eigentlich gar nicht. Er hat von Anfang an eigentlich keine große Lust auf sein Escort-Dasein, hat eigentlich eine ganz andere Begabung, die er aber aufgrund familiäre Probleme nicht ausleben kann, zumindest nicht so, wie er will. Immer wieder redet er davon, wie sehr das Fehlverhalten seines Vaters ihn geprägt hat, wirklich verstanden habe ich es aber ehrlich gesagt nicht. Der Einfluss seiner Mutter und die Angst um sie war da deutlich präsenter, wirkte für mich oftmals aber auch eher wie eine Ausrede statt eine Erklärung. Generell hatte ich das Gefühl, dass Michael überraschend eindimensional war und wenig Tiefe mitbrachte. Auch seine Entscheidungen am Ende des Buches kamen für mich irgendwie plötzlich und aus der Luft gegriffen. Stella hingegen ist da deutlich komplexer geraten, was mir sehr gut gefallen hat. Doch gerade gegen Ende hatte ich nur noch dieses „Liebe heilt alles“-Gefühl, weil Stellas Asperger-Autismus für mich kaum noch rüberkam. Garniert mit einem einwandfreien Kitsch-Happyend war ich fast schon enttäuscht, dass aus einem so starken Start ein lauwarmer Liebesroman wurde. Die zahlreichen Randcharaktere, insbesondere Michaels Familie, haben mir gut gefallen, bleiben jedoch sehr oberflächlich und ich hatte manchmal das Gefühl, dass sie die „Wink mit dem Zaunpfahl“-Funktion hatten.
Und dann waren da noch die Erotikszenen… Die erste Hälfte des Buches verläuft sehr erotikarm. Mag überraschend sein, wenn man bedenkt, dass Michael immerhin Escort ist. Mir hat es aber sehr gut gefallen, denn so konnte man sich mehr auf Stella und ihr Überdenken konzentrieren. Als es dann zur Sache geht, gibt es Dirty Talk mit multiplen Orgasmen. Natürlich müssen es direkt mehrere Orgasmen sein. Immerhin soll Stella ja erfahren, wie grandios Sex sein kann. Ich fand die Sexszenen allerdings einfach nur schrecklich unerotisch. Das lag sowohl an der Ausdrucksweise als auch an der Schilderung. Es fehlte an der Sinnlichkeit und irgendwie auch an der Chemie.
Insgesamt muss ich sagen, dass Kissing Lessons ein guter Debütroman der Autorin ist und ein wichtiges, aber vor allem auch im Romance-Bereich doch eher unbeachtetes Thema um Autismus aufgreift und in eine schöne Geschichte verpackt. Allerdings verläuft vor allem die zweite Hälfte des Buches für mich deutlich zu klischeehaft wie die üblichen Liebesromane in einer fast schon 0815-Standard-Dramakurve, die für mich Stellas Probleme etwas zu sehr ausblendet und auch Michaels Probleme fast schon vergisst. Starker Einstieg, dann viel Sex bei wenig Handlung bis zum mittelmäßigen Ende – ein Buch für angenehme Lesestunden, wenn man nicht allzu viel erwartet.
[Diese Rezension basiert auf einem Rezensionsexemplar, das mir freundlicherweise vom Verlag überlassen wurde. Meine Meinung ist hiervon nicht beeinflusst.]